Agribusiness 4.0

Ernährung

„Die Menschen erfinden ihr Essen neu“

Der Landwirt baut Weizen an. Der Bäcker backt Brot und der Kunde isst es auf. Nach der neolithischen Revolution hat sich mit der Arbeitsteilung eine neue Wertschöpfungskette herausgebildet, deren Countdown der ersten Fleischklops aus dem Reagenzglas eingeleitet hat. Wozu brauchen wir noch die Bauern, Mühlen und Bäcker?

Nur die ANUGA in Köln erlaubt einen so weiten Blick in die Zukunft der weltweiten Ernährungswirtschaft. Deshalb wurde am Montag die dritte Innovationskonferenz der Ernährungsindustrie erstmals unter dem Schirm der Kölner Messe durchgeführt. Nicht so wichtig ist die Zählweise, ob gerade wirklich die 4.0 an der Reihe ist. Wichtig ist auch nicht, ob sich ein Trend zahlenmäßig untermauern lässt.

Wichtig ist allein, was auf Bauern und Verarbeiter zukommen könnte und neue Marktchancen hervorbringt, erläuterte Hanni Rützler, Trendforscherin für Essens- und Trinkkultur aus Österreich. Wirtschaftlich untermalt hat das Michael Hüther vom Kölner Institut für Wirtschaftsforschung. Die Zukunft bringt der Branche viele Chancen und diese hat die besten Zeiten erst noch vor sich, prognostizierte Jochen Weiss, Vizepräsident der Universität Hohenheim.

Neues Denken

Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien ist Deutschland mit der Industrie 4.0 weltweit führend. Die Digitalisierung ist nicht die Übertragung eines Buches in die digitale Welt der Smartphones. Die wirkliche Industrie 4.0 ist die Vernetzung von Agrarwirtschaft, Finanzmarkt, Dienstleistung, Logistik und anderen Sektoren. Diese „Joint Production“ mache nach Hüther in den USA lediglich zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, in Großbritannien Null und in Deutschland 8,5 Prozent. Dafür sinkt der Anteil des produzierenden Gewerbes.

Precision Farming ist ein Beispiel aus der Landwirteebene. Doch der Mehrwert diese Technik auf dem Feld ist wesentlich kleiner als die Wertschöpfung der Firmen, die diese Daten für eine teilflächenspezifische Düngung, Aussaat und Bewässerung erstellen. Dieser B2B-Ansatz ist wettbewerbsfähig für den Weltmarkt, prognostiziert Hüther – wenn auch die Landwirte selbst daran nur noch einen kleinen Teil ausmachen.

Da muss die Branche sich noch viel bewegen. Während im Bereich von Obst- und Gemüsebau die Verbände an saisonalen Arbeitskräften mit Niedriglohn festhalten wollen, sind die Niederländer viel weiter. Auf der Fruit Logistica präsentierten sie im Sinne Hüthers die automatische Ernte, Qualitätssortierung und Verpackung von Tomaten [1]. Typisch Industrie 4.0.

Ein anderer Aspekt für Landwirte und Verarbeiter ist die Verabschiedung der Konsumenten aus der Kette. Die Beziehung der Konsumenten untereinander (C2C) und die der Verbraucher zum Produzenten (C2B) ist die wahre „Netzwerk-Ökonomie“, deren Wohlfahrtseffekte mit mehrere Billionen Euro für die EU bis 2030 verschlagt werden. Urban Gardening oder Aquaponik [2] brauchen keine Bauern mehr.

„Die Menschen erfinden ihr Essen neu“

Vegan, ökologisch oder Rohkost: Das sind nicht die Trends, über die Hanni Rützler sprach. Die globalen Megatrends sind Globalisierung, Individualisierung, Verstädterung oder Vernetzung. Innerhalb dieser Trends finden sich zahlreiche Neuheiten, auf die sich Bauern und Verarbeiter einstellen müssen. „More of he same“ wird nicht reichen. Nur weil die Weltbevölkerung wächst und die neuen Mittelschichten mehr Geld zur Verfügung haben, werden sie nicht mehr Schweinebäuche oder Schnitzel essen. Fleisch ja – aber anders.

Die deutsche Sprache versteht unter dem Flexitarier einen Menschen, der zeitweise auf Fleisch „verzichtet“. Diese Sichtweise sei durch Fleisch als „Leitkultur“ auf dem Teller entstanden, sagte Rützler. In Wirklichkeit verstehen sich die Flexitarier als Menschen, die gelegentlich und dann aber auch bewusst Fleisch genießen. Neben Geschmack spielen dann auch Fütterung, Haltung und Tierrasse eine Rolle.

Im deutschsprachigen Raum mit viel Widerstand versehen sind die wirkliche Alternativen der Fleischproduktion. Neben dem Fleisch aus der Kulturschale [3] ist auch das Projekt „Farm 432“ entstanden. Mit Küchenabfall gefütterte Fliegen sind in der Lage, innerhalb von 432 Stunden 2,4 Kilogramm Larvenprotein zu erzeugen [4].

So visionär muss es nicht sein. Doch Einkaufstempel wie in Rotterdam oder Kopenhagen werden wie ein Marktplatz gestaltet, auf dem viele Anbieter den Kunden ein besonderes Einkaufsflair bieten. Kurzfristig belegter Leerstand in den Städten bietet Pop-up-Restaurants neue Kundennähe. In Berlin rollen Food Trucks auf die Märkte, die schwäbische Delikatessen, wertvolle Hamburger oder vegetarische Spezialitäten anbieten. Die Menschen beschäftigen sich heute anders und erfinden ihre Mahlzeiten neu.

Heute geht niemand mehr mit einem Dutzend Rezepte im Kopf einkaufen. Heute gehen die Menschen in einen Shop, lassen sich beraten, was sie zu Hause zubereiten könnten und kaufen rezeptgenau die Zutaten ein: Convenience mit frischen Produkten. Natürlich wird sich auch die 51. Sorte Olivenöl in die Regale stellen, Nach Hanni Rützler ist das aber Stress. Heute bieten Kuratoren dem Kunden eine Vorauswahl. Das ist Industrie 4.0

Wie im Bereich der Landwirtschaft entstehen hier neue Dienstleistungen, bei denen sich die Kunden untereinander austauschen und vernetzen. Außer Landwirten und Straßenbauarbeiter halten sich die meisten Menschen zu 95 Prozent des Tages in Räumen auf: Zu Hause, im Büro oder der Straßenbahn. Ein Zurück zu den Ernährungswurzeln wird es nicht mehr geben. Darauf darf sich die Ernährungsindustrie einstellen.

Trends: Sichtbar neue Chancen für eine Erweiterung des Marktes mit neuen Optionen der Wertschöpfung. Ob sie Altes ablösen, wird sich zeigen. Auf keinen Fall schnell.

Das lehrt die ANUGA 2015. Auch die Landwirte sollten sich dort einmal umschauen. Auf der Österreich-Präsentation sind sie indirekt dabei. Um Soja aus Übersee zu vermeiden, bauen die Länder entlang der Donau selbst Soja an. Der Verein Donau-Soja, der sein Futter für Legehennen in Österreich und der Schweiz präsentiert ist in diesem Jahr das erst Mal dabei. Als Vertreter der Urproduktion.

Lesestoff:

[1] Robotertechnik säubert, sortiert und verpackt

[2] Tomaten und Fisch aus dem Container

[3] Öffentliches Anbraten für Fleisch aus der Kulturschale

[4] www.kunger.at/161540/1591397/overview/farm-432-insect-breeding

Roland Krieg

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