Ballaststoffe: Zwischen Wissenschaft und Praxis

Ernährung

Gesundheitspotenziale von Ballaststoffen voll ausschöpfen

Im Sommer 2011 hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) das 50-seitige Heft „Leitlinie Kohlenhydrate kompakt“ veröffentlicht – als Zusammenfassung ihrer Evidenzbasierten Leitlinie „Kohlenhydratzufuhr und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten“. Darin spielt der Themenkomplex „Ballaststoffe“ eine wesentliche Rolle. Über den wissenschaftlichen Hintergrund und Ansatzpunkte für eine praktische Umsetzung sprachen wir mit dem Vorsitzenden der Leitlinien-Kommission Professor Dr. med. Hans Hauner (Foto). Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Ernährungsmedizin und Ärztlicher Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin der TU München.

Frage: Herr Professor Hauner, welchem Zweck dienen Leitlinien?

Prof. Hauner: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat sich gemäß ihrer Satzung zum Ziel gesetzt, durch Entwicklung und Kommunikation wissenschaftlich begründeter Ernährungsempfehlungen zur Gesundheitsförderung in der Bevölkerung und damit zur Primärprävention ernährungsmitbedingter Krankheiten federführend beizutragen. Darum hat die DGE ja bereits 2006 eine Leitlinie zum Fettkonsum veröffentlicht. Neben den Fetten stellen die Kohlenhydrate die zweite große Gruppe von energieliefernden Nährstoffen dar, die wesentlich zur Ernährung des Menschen beiträgt und der dementsprechend eine große Bedeutung in der Vermeidung ernährungsmitbedingter Krankheiten zukommt. Deshalb haben wir für die zweite DGE-Leitlinie das Thema Kohlenhydrate bearbeitet.

Frage: Was waren Hintergrund und Ziel bei der Erarbeitung dieser neuen Leitlinie?

Prof. Hauner: Gerade in den letzten Jahren wurde die Rolle der Kohlenhydrate sehr intensiv und kontrovers diskutiert. Der Tenor der Aussagen war häufig, dass Kohlenhydrate die Entstehung vieler Krankheiten fördern würden. Die Botschaften, die dabei auf die Verbraucher einwirkten, waren einseitig und/oder widersprüchlich und haben eher zur Verunsicherung der Bevölkerung bei Ernährungsfragen beigetragen. Daher haben wir die verfügbare wissenschaftliche Fachliteratur systematisch gesammelt, gesichtet und bewertet. Dabei ging es uns auch darum, einzelne qualitative Parameter der Kohlenhydratzufuhr in diesem Kontext separat einzuschätzen und letztlich wissenschaftlich abgesicherte Informationen zur Bedeutung der Kohlenhydrate für Ernährungsfachkräfte und Medien bereitzustellen.

Frage: Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Prof. Hauner: Wir haben in der zehnköpfigen Leitlinien-Kommission praktisch alle weltweit relevanten Humanstudien aus den Jahren 1975-2010 in die Auswertung einbezogen. Nach der Literatursichtung wurden diese geordnet und nach so genannten Härtegraden der Evidenz bewertet. Damit können wir dokumentieren, mit welcher wissenschaftlichen Gewissheit bzw. Verlässlichkeit sich Fragen nach einem Zusammenhang zwischen erhöhter Nahrungszufuhr, beispielsweise von Vollkornprodukten, und steigendem oder sinkendem Krankheitsrisiko, z. B. von Diabetes, beantworten lassen.

Frage: Was ist aus ihrer Sicht als Ernährungsmediziner der wichtigste Aspekt für die praktische Umsetzung?

Prof. Hauner: Die Ergebnisse der Leitlinie weisen darauf hin, dass weniger die Quantität als vielmehr die Qualität der Kohlenhydratzufuhr für die primäre Prävention von ernährungsmitbedingten Krankheiten bedeutsam ist. Mit primärer Prävention meine ich die Fragestellung, was zur Vorbeugung von Krankheiten beim gesunden Menschen von Bedeutung ist, und welche Rolle kohlenhydratreiche Lebensmittel in der Ernährung dabei spielen können – denn das ist ja die zentrale Frage für die Praxis.

Frage: Stichwort „Kohlenhydrat-Qualität“ – welche Rolle spielen dabei die verschiedenen „Fraktionen“ dieser vielfältigen Nährstoffgruppe?

Prof. Hauner: Einer hohen Ballaststoffzufuhr wird aufgrund der Ergebnisse dieser Leitlinie ein großes Präventionspotenzial zugesprochen: Die Ballaststoffe insgesamt und vor allem Vollkornprodukte als ballaststoffreiche Lebensmittel senken die Risiken für diverse ernährungsmitbedingte Krankheiten – daher sollte ihre Zufuhr erhöht werden. Demgegenüber sind zuckergesüßte Getränke Lebensmittel, deren Konsum insbesondere aufgrund ihrer das Adipositas- und Diabetesrisiko erhöhenden Wirkung eingeschränkt werden sollte. Diese beiden Hauptergebnisse sollten zukünftig in der Ernährungs-beratung betont werden. Und aufgrund der vorliegenden Ergebnisse können Empfehlungen bezüglich der Qualität der Kohlenhydrate ausgesprochen werden, die die bisherigen DGE-Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl unterstützen, und wie sie in der aktuellen DGE-Position zu Richtwerten für die Energiezufuhr umgesetzt sind.

Frage: Könnte man also „Mehr Ballaststoffe“ als ein Ernährungsziel für Deutschland formulieren?

Prof. Hauner: Ja, das präventive Potenzial der Ballaststoffe sollte durch eine Erhöhung der Zufuhr in der Bevölkerung ausgeschöpft werden. Nach den Daten der Nationalen Verzehrsstudie II des Max Rubner-Instituts aus dem Jahr 2008 liegt die Zufuhr von Ballaststoffen in Deutschland bei 75 % der Frauen und 68 % der Männer unter dem Richtwert. Bei Frauen beträgt die mittlere Zufuhr 23 g pro Tag, bei Männern 25 g pro Tag, was beides deutlich unter der empfohlenen Menge von mindestens 30 g pro Tag liegt.

Frage: Wie kann diese Empfehlung praktisch umsetzt werden?

Prof. Hauner: Eine Erhöhung der Ballaststoffzufuhr ist beispielsweise dadurch zu erreichen, dass man bei Brot, Nudeln und anderen Getreideprodukten die Vollkornvarianten wählt. Beim Backen im privaten Haushalt kann die Ballaststoffzufuhr durch die Verwendung von Getreidemahlerzeugnissen mit hoher Typenzahl erhöht werden. Dabei können vor dem Hintergrund aktueller Gewohnheiten und geschmacklicher Präferenzen moderate Veränderungen effektiv sein: Die Ballaststoffzufuhr lässt sich bereits deutlich steigern, wenn die Hälfte des Weizenmehls der Typen 405/550 gegen Weizenvollkornmehl ausgetauscht, Weizenmehl der Type 1050 eingesetzt oder anteilig Roggenmehl für herzhafte Gebäcke verwendet wird.

Lesestoff:

DGE: Leitlinie Kohlenhydrate kompakt

Getreideernte 2011

Das Gespräch führte Dr. Heiko Zentgraf, Redakteur „Agrar-Special“; Foto: Agrar-Special

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