BLL-Verbraucherappell an die Wähler
Ernährung
Wissen ist Voraussetzung für individuelle Wahlfreiheit
Im Herbst hat der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) seine Wahlprüfbausteine für die kommende Bundestagswahl aufgestellt und diskutierte sie am Freitag auf seiner Jahrestagung in Berlin. So wie die Wähler im September ihr Kreuzchen machen, soll die Vielfalt von Vegetariern, Veganern, Bio-Konsumenten, Regionalisten, konventionellen Essern, der Single-Haushalt oder die Familie ihre individuelle Wahl für Lebensmittel treffen.
Der am Abend wiedergewählte BLL-Präsident Stephan Nießner sprach sich gegen Abschottung und Ausgrenzung aus: „Jede Stimme für Europa ist eine Stimme für die Lebensmittelwirtschaft!“. Die Branche ist mit rund 4.300 Betrieben, die nicht mehr als 99 Beschäftigte aufweisen und für 42 Milliarden Euro Umsatz stehen, mittelständisch aufgestellt. Den meisten Umsatz von 52 Milliarden Euro erzielen 980 Betriebe mit 100 bis 249 Beschäftigte. Die Leistung der kleinen und mittleren Betriebe muss bei den Herausforderungen wie Rezepturänderungen oder Kennzeichnungspflichten berücksichtigt werden.
So richtet sich das politische Grundsatzprogramm doch mehr an den Verbraucher im Wähler, die meist zu Beginn der politischen Aktivitäten stehen. Oder vermeintlich stehen. Denn Nießner findet den Modebegriff „Post-Faktisch“ eher verharmlosend für eine Politik mancher Nichtregierungsorganisationen mit Angst und Emotionen. „Das Produkt Angst verkauft sich gut.“ Dazu zählt Nießner Bücher, die „falsche Versprechen der Lebensmittelindustrie“ „aufdecken“ und Zeitschriften, die mit Titelgeschichten über Täuschungen und Tricks der Ernährungsindustrie erscheinen, sowie die Zunahme an Fernsehberichten über negative Themen [1]. Tester unterschreiten stetig sinkende Grenzwerte immer weiter und zeichnen Produkte mit dem Merkmal „Mangelhaft“ aus [2].
Die Branche bemerke, dass „eine andere Wahrheit“ um sich greift, die jedoch die sicheren und günstigen Lebensmittel, die von der Industrie und dem Handwerk erzeugt werden, in keinster Weise widerspiegeln. Dabei stellen die Firmen allen Lebenssituationen Produkte für die individuellen Nahrungswünsche zur Verfügung. Im Gegenzug reagiere die Politik mit Werbeverboten, Strafsteuern und Rezepturänderungen. „Das wollen wir nicht“, sagte Nießner. Übergewicht beispielsweise sei kein Resultat von „schlechten“ und „guten“ Lebensmitteln, sondern das Ergebnis eines ganzen Lebensstils und der Ernährungsbildung. „Vorfahrt für Fakten“, plädiert Nießner und bezieht Journalisten als Mittler zwischen Politik, Industrie und Konsumenten in den Appell ein. Politische Alleingänge innerhalb der EU, wie die Minimierung von Mineralölen in Lebensmittelverpackungen seien kontraproduktiv, weil die Industrie an dem Problem bereits arbeite. Der BLL hätte gerne Mitsprache bei den neuen Bundeszentren für Ernährung und Landwirtschaft, die mit neuen Kommunikationsangeboten, Verbraucher informieren. Die Sichtweise, Strategien und Erfolge der Industrie kommen in den meisten Berichten kaum vor.
Fakten und Emotionen
Rein wissenschaftlich kann die Kommunikation nicht sein, da die Verbraucher in der Informationsflut Orientierung brauchen und sich an Emotionen orientieren. Fakten müssen daher auch mit Emotionen vermischt sein, forderte der Parlamentarische Staatssekretär Peter Bleser aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium. Das Portal Lebensmittelklarheit führt Bleser als gelungenes Instrument der Vermittlung zwischen Verbraucher und Industrie an. Eine Skandalisierung von Themen lasse sich nie ganz vermeiden, so Bleser. Die Plattform habe sich als „sinnvoller Austausch etabliert“, wenn Firmen ihre Produkte oder Werbungen nachjustieren. Die Politik wolle keine Verordnungen, die den Strukturwandel in der Branche beschleunige. Bleser betont, dass zunächst einmal jeder Einzelne für sich verantwortlich ist. Dann spielen die Eltern beim Vermitteln von Wissen die nächste Rolle, bevor Köche, Journalisten, Kitas und Schulen das Umfeld prägen helfen. Ganz zum Schluss komme erst die Politik.
Grenzlinie ziehen
Dennoch darf sich die Industrie nicht alles erlauben, schränkt Gitta Connemann, stellvertretende Vorsitzende der Union ein. Die Politik habe eine Verantwortung gegenüber der Gesundheit der Bürger und müsse für das Einhalten freiwilliger Verhaltensrichtlinien der Industrie sorgen. Die Selbstverpflichtungen funktionieren nach Elvira Drobinski-Weiß, ernährungspolitische Sprecherin der SPD nur im Ansatz und nicht flächendeckend. Die Industrie müsse Auswirkungen ihrer Produkte auf das Übergewicht erkennen. Die Linke und die Grünen sind sich bei der Begrenzung von Werbung bei Kindern einig. Während Karin Binder (Die Linke) im gesamten Umfeld von Schulen und Kitas keine Werbung mehr erlauben will, schränkt Nicole Maisch das Verbot auf das Innere der Schule ein. Maisch plädiert für einen Runden Tisch, an dem Cartoon-Charaktere und Verpackungsaufmachungen für Lebensmittel an Kinder unter 12 Jahren einheitlich geregelt werden. Zu viel Einschränkung vermeidet die Auseinandersetzung von Eltern und Kindern mit der Werbewelt, betont Prof. Dr. Hauke Hilz, Landesvorsitzender der FDP Bremen und gelernter Lebensmittelchemiker.
Reformulierungen
Wo die Grenzlinie zwischen Freiwilligkeit und Verordnung verläuft bleibt also offen. So wie das Thema der neuen Rezepturen, in denen Salz, Fett und Kohlenhydrate für ein „gesünderes Lebensmittel“ reduziert werden sollten. Der Vorschlag ist in der großen Koalition seit 2015 auf dem Tisch, doch bislang ohne Ergebnis, kritisiert Drobinski-Weiß. Die Union und die Grünen sind sich einig, dass Veränderungen sanft gestaltet werden sollen, um den Strukturwandel nicht zu beschleunigen. Kleinere Firmen hätten es schwerer, neue Rezepturen zu finden, was allerdings Nicole Maisch mit Hinweis auf die Nürnberger BioFach verneint. Jährlich zeigen kleine Startups wie innovativ sie sein können. Doch reiche es nicht, nur Kohlenhydrate wegzulassen, wenn im Ausgleich dazu der Fettgehalt erhöht wird und das Lebensmittel am Ende den gleichen Brennwert hat.
Hilz verweist auf die enge Verbindung zwischen Lebensmittelindustrie und Forschung, wie sie in den Niederlanden besteht. Synergien könnten offenbar neue Produkte verbrauchernah und gesund gestalten. Die Produktvielfalt im Regal biete bereits heute alles, was zu einer gesunden Ernährung reicht.
Einig sind sich alle Parteien über mehr Ernährungsbildung in der Schule, die auch fächerübergreifend eine Verhaltens- und Verhältnisprävention beinhalte [3].
Lesestoff:
[1] Qualitätschecks statt Urteilsvermögen?: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/wir-testen-uns-in-die-unsicherheit.html
[2] Rückstände kaum ein ernstes Thema: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/rueckstaende-von-pflanzenschutzmittel-kein-thema.html
[3] Schulfach Ernährung läuft ins Leere: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/union-faellt-schmidt-in-den-ruecken.html
Roland Krieg; Fotos: roRo