Branchenkommunikation der Lebensmittelwirtschaft kommt
Ernährung
BLL-Jahrestagung 2012
Am
Morgen hat der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) mit einer Studie die
Abwärtsspirale der Lebensmittelqualität in Deutschland bemängelt1). Doch
der Lebensmittelmarkt funktioniert, entgegnete Prof. Dr. Matthias Horst,
Hauptgeschäftsführer des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde
(BLL). Für die Unternehmen gehören Prüfungen zum Verbraucherverständnis, wie
sie beim vzbv gefordert wurden zum Alltag, sagte er zu Herd-und-Hof.de. Nach
fast einem Jahr stehen Verbraucherschützer und Industrie beim Portal zur
Lebensmittelklarheit gegenüber wie beim ersten Mal. Es habe keine Annäherung
gegeben, erklärte Prof. Horst, aber man konferiere regelmäßig miteinander.
In
dem Zusammenhang kündete Prof. Horst die bereits im letzten Jahr geplante
Branchenkommunikation für den Sommer 2012 an. Vertreter aus der Landwirtschaft,
dem Handel, dem Handwerk und der Industrie haben sich jetzt auf die Rechtsform
eines Vereins geeinigt und wollen den Verbrauchern erklären, wie moderne
Landwirtschaft, moderne Lebensmitteltechnologie und Verarbeitung funktioniere.
Der Verein werde ausschließlich für die Kommunikation in Richtung Verbraucher
zuständig sein, kein Marketing übernehmen.
Grundkonsens Vielfalt, Qualität und Sicherheit
Hans-Dieter
Bischof, Vizepräsident des BLL, stellte in seiner Rede den Grundkonsens her,
dass Lebensmittel heute noch nie so vielfältig, qualitativ und sicher seine wie
heute. Doch während andere Länder diesbezüglich neidisch auf Deutschland
schauten, werde hier überwiegend gejammert.
Bischof
begrüßte die von Ilse Aigner auf der Grünen Woche vorgestellte Charta für
Landwirtschaft und Verbraucher2). Diese sei „spannend und
zukunftsweisend sowie eine wertvolle Grundlage“. Für die Lebensmittelbranche
stehe das Kapitel Sicherheit und Transparenz im Vordergrund, aber auch der
Tierschutz erhalte zunehmende Bedeutung.
Das
zurückliegende Jahr habe mit Dioxin und EHEC weitere Krisen hervorgebracht aus
denen ein verbesserter Kommunikationsweg im Krisenfalle entstanden sei. Zusammen
mit dem Bundeslandwirtschaftsministerium werde ein dauerhafter Krisenstab beim
Bund eingerichtet werden, was Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner in
ihrer Rede auch bestätigte. Der BLL werde eine koordinierende Rolle einnehmen.
Bischof
warnte jedoch auch vor übermäßigen Regularien: „Jeder Eingriff in die
Eigenverantwortung unserer Unternehmen muss nachgewiesener Maßen notwendig und
geeignet sein, um die Lebensmittelsicherheit weiter zu verbessern, und er muss
verhältnismäßig sein – sonst ist er durch nichts zu rechtfertigen.“ Kontrollen
müssen durch die öffentliche Hand und dürfen nicht über Gebühren finanziert
werden, wie das Gutachten zur Verbesserung des Kontrollwesens vorgeschlagen
hat.
Bischof
zog auch eine Bilanz um Portal Lebensmittelklarheit.de. Er ermahnte die
Betreiber, die Spielregeln einzuhalten. Allgemeine Fragen dürfen nicht anhand
von Einzelbeispielen festgemacht werden. Änderungen bei der
Lebensmittelbuchkommission bei der Zusammensetzung und bei Modalitäten lehnte
Bischof eindeutig ab. „Daran darf nichts geändert werden!“So
uneingeschränkt wie der BLL steht Ministerin Ilse Aigner dem Verband allerdings
nicht zur Seite. Zeitlich knapp bemessen hätte sie gerne noch einmal ausgeholt
wie im letzten Jahr, als sie wie die Verbraucherzentrale die Kluft zwischen Werbung
und Wirklichkeit kritisierte. Diesmal mahnte sie die Industrie,
Verpackungsgrößen richtig zu ändern. Sie sollten auf die steigende Zahl an Einpersonenhaushalten
angepasst und verkleinert werden, aber nicht von 180 auf 175 Gramm bei gleichem
Preis.
Extrasteuern
auf „ungesunde“ Lebensmittel und Vorschriften, was die Menschen essen sollten
sind mit Aigner im Amt nicht zu befürchten. Sie setzt auf Bildung und
Aufklärung und forderte die Aufnahme der Ernährungsbildung in das Curriculum der
Schulen.
Die Angst vor dem Fortschritt
Dr.
Gert Meijer, Vizepräsident der Unilever-Welternährung, und Kulturanthropologe
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg hielten einen
Diskurs über die Fortschrittsfeindlichkeit der Verbraucher gegenüber Lebensmitteln.
Gerade
Unilever will mit „Fuck the Diet“ eine neue Beziehung der Menschen zu ihren
Lebensmitteln aufbauen. Der unbeschwerte Genuss soll die Menschen zunächst
einmal mit ihren Lebensmiteln vertraut machen und unbeschwerten Genuss
erreichen. Lebensmittel, so Dr. Meijer, sind Teil des gesunden Lebensstils.
Doch habe sich die Einstellung in den letzten Dekaden verändert, weil die
Menschen keinen Kontakt mehr zu den Herstellungsprozessen haben. Verbraucher
wollen keine „verarbeiteten Lebensmittel“ mehr, weil sie den Begriff „natürlich“
mit „gesund“ gleich stellten. Allerdings ist ihnen nicht bewusst, dass Kochen und
Einwecken schon verarbeitende Prozesse sind. Butter ist ein reines und
natürliches Produkt, doch wird ihr dennoch keine gesundheitliche Wirkung
nachgesagt. Solche Missverständnisse zu korrigieren sind vornehmliche Aufgabe,
denn die Zukunft komme ohne technologische Verarbeitung nicht aus. Die ältere Generation
werde bei 1.500 Kilokalorien keine Speisen finden, die alle benötigten
Nährstoffe beinhalten, so Dr. Meijer. Den Energiegehalt senken, die guten
Nährstoffe erhöhen und die unerwünschten Inhaltsstoffe senken setze Technologie
voraus.
In
Zukunft werden die Menschen auch in vitro-Fleisch3) und „Gen-Food“
essen. Diesen Blick in die Glaskugel wagte Prof. Hirschfelder, der die Ära der Zivilisationskritik
zu Ende gehen sieht. Die Auswahl der Lebensmittel ist kulturell bedingt, das
Essen emotional, während das Thema Ernährung kognitiv betrachtet werde. Zudem befinde
sich die Gesellschaft im Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter,
bei dem Konsumenten Orientierung und eine Bewältigungsstrategie suchen. Die
Deutschen äßen den Wandel in sich hinein und greifen auf „Alte“ Bilder als „Bewährtes“
zurück. Es wollten zwar alle Buttermilch
und selbst gestrickte Pullover, doch keiner kennt die Mühe des „Butterns“ oder hat
die Fähigkeit, ein Schaf zu scheren.
Der
Kulturanthropologe hat weit in die Geschichte zurückgeblickt und die sichere Ernährung,
wie wir sie heute kennen, als Kette von technologischen Sprüngen dargestellt.
Erst der Beginn des zweiten Jahrtausends hat mit einem Klimaoptimum, der
Verbesserung des Pflugs und der Erfindung der Egge aus der Zwei- eine
Dreifelder-Wirtschaft gemacht und die Zeit des Nahrungsmangels zwischen 500 und
1000 n. Chr. beendet. Das aufblühende Städtewesen hat mit Handel und Fernhandel
neue Nahrungsquellen erschlossen. Die Zünfte der Metzger und Bäcker habe
begonnen, die Nahrungsqualität zu verbessern. Letztlich hat die Eisenbahn im
19. Jahrhundert Nahrungsüberschüsse verteilen, so dass in Europa kein weiterer
Mangel mehr entstand. Im letzten Jahrhundert hat der Einsatz von mineralischem
Dünger für Ertragssteigerungen gesorgt. Die Technologie hat nach Prof.
Hirschfelder jedoch nicht nur Gutes hervorgebracht, sondern auch
Umweltzerstörung - aber sie habe zu den Annehmlichkeiten geführt, die niemand
mehr missen will. Wer kann heute ohne Kühlschrank leben?
Lesestoff:
1) vzbv-Studie zur Lebensmittelqualität
2) Charta für Landwirtschaft
3) Schnitzel ohne Leiden
Roland Krieg, Fotos: roRo