Co-Evolution von Darmflora und Mensch
Ernährung
Lebensweise bestimmt Darmflora
Mit der Darmflora kann man ein Riesengeschäft machen. Ganze Ernährungs- und Medizingruppen verkaufen Ergänzungsmittel zur Stärkung der Darmflora. Kleine Helfer werden als Probiotika dem Joghurt beigemixt oder in Kapseln für die tägliche Einnahme verpackt. Doch wie natürlich ist diese „käufliche Natürlichkeit“? Die Darmflora ist wesentlich komplexer, als die Werbung für die Stimulanzien glauben macht. Nur eines ist sicher: Eine gestörte Darmflora gilt als Ausgangspunkt zahlreicher Krankheiten von Diabetes über Morbus Crohn bis zur Rheumatoiden Arthritis.
Die unbekannte Biosphäre
Nur der gerade geborene Mensch ist keimfrei. Mikroorganismen besiedeln den Darm erst nach der Geburt. Und eigentlich sind es nur wenige Bakteriengruppen, die dazu in der Lage sind. Doch diese wenigen bauen eine unglaubliche Vielfältigkeit auf. Angefangen von der Mundhöhle bis hinunter zum Dickdarm.
Zunächst einmal die Dichte: Mehr als 1.000 Mikroorganismen besiedeln den Dickdarm. Dort wuseln rund 1.000 Mikroben auf jedem Milliliter Schleimhautoberfläche. Der Dickdarm zählt daher zu den am dichtesten besiedelten Habitaten der Erde. Dr. Gregor Gorkiewicz von der Medizinischen Universität Graz hat das genau ausgerechnet. Die geschätzte Anzahl aller Bakterien der Weltmeere übertrifft die Zahl der Darmbakterien aller Menschen lediglich um fünf Potenzen.
Individualität: Obwohl es nur wenige Bakteriengruppen gibt, die den Darm besiedeln, bauen sie im Zeitablauf eine höchst individuelle Zusammensetzung auf. Jede Spezies hat nur einen Anteil von einem bis zehn Prozent an der ganzen Darmflora, so dass Dr. Gorkiewicz von einem „genetischen Fingerabdruck“ spricht. Die Herkunft des Menschen, seine Ernährung und Umwelt machen jede Darmflora einzigartig. Forscher des Max-Planck-Instituts sprechen von „einem erweiterten Selbst“. Die Lebensgemeinschaft im Darm enthält zehn- bis hundertmal mehr Gene als das gesamte menschliche Erbgut.
„Kern“flora? Die Diversität im Darm ist so groß, dass Dr. Gorkiewicz keine „Kerngruppe“ von Bakterien identifizieren kann, die bei allen Menschen gleich ist. Da hilft nur der Blick auf das Metagenom: Der Genetik von allen Bakterien gleichzeitig. Da zeigt sich, dass unabhängig von jeglicher Bakterienart, die genetische Information dominiert, die für Stoffwechselfunktionen des Menschen wichtig sind.
Kommensale Lebensgemeinschaft
Die Darmflora und der Mensch haben eine gemeinsame Entwicklung hinter sich. Sie wird als „kommensal“ bezeichnet. Der Begriff bezeichnet ein Lebewesen in Gemeinschaft mit einem Wirt – hier dem Menschen. Es beansprucht Abfallstoffe und Substanzen, deren Entzug dem Wirt nicht schadet. Im Gegenteil schützt die Darmflora den Menschen sogar vor Infektionen wie Salmonellen oder Clostridium difficile, dem Erreger des Antibiotika-assozierten Durchfalls. Der lateinische Begriff commensalis heißt übrigens „Tischgenosse“.
Dieses besondere Verhältnis zeigt sich in der Co-Evolution von Darmflora und Mensch. Früher war die Limitation von Nahrung ein ganzjähriges Problem und die Mikroflora des Menschen hat sich auf die Nutzbarmachung von unverdaubaren Nährstoffen spezialisiert. In den Industrieländern ist die Nahrung mittlerweile hyperkalorisch geworden, weswegen sich diese Spezialisierung eher in ihr Gegenteil verkehrt.
Jäger und Sammler vs. Stadtmenschen
Vor diesem Hintergrund hat das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig die Darmflora der in Tansania lebenden Hadza, einer modernen Jäger- und Sammlergesellschaft, mit denen von in Städten lebenden Italienern verglichen [1]. Das Ergebnis von Stephanie Schnorr und Amanda Henry zeigt die vielfältigere Darmflora der Hadza im Vergleich zu „westlichen Bevölkerung“. Sie besitzen mehr Bakterienarten. „Das ist für die menschliche Gesundheit äußerst relevant. Einige vor allem in Industrienationen vorkommende Krankheiten, wie zum Beispiel das Reizdarmsyndrom, Darmkrebs, Adipositas, Diabetes Typ 2, Morbus Crohn und andere, stehen in Verbindung mit der Verringerung der Diversität der mikrobiellen Darmflora“, sagt Stephanie Schnorr.
An pflanzenreicher Kost angepasst
Die Darmflora der Hadza ist an pflanzenreicher Kost angepasst und hilft ihnen mehr Energie aus faserreichen Nahrungsmitteln zu gewinnen. Sogar geschlechtsspezifisch auf Grund der Arbeitsteilung (Bild links). Art und Anzahl der Darmmikroben sind bei Männern und Frauen unterschiedlich. Vergleichbare Befunde bei anderen Menschengruppen hat es noch nicht gegeben. Die Männer jagen und sammeln Honig, die Frauen sammeln Knollen und andere Nahrungspflanzen (Bild unten) und verzehren jeweils etwas mehr von dem, was sie für die Familienernährung beitragen. „Die Hadza-Frauen verfügen offensichtlich über mehr Bakterien zur Verarbeitung faserreicher Nahrung, was sich direkt auf ihre Fruchtbarkeit und ihren Fortpflanzungserfolg auswirkt.“
Hadza und Italiener
Es gibt auch einen deutlichen Unterschied zur
westlichen Vergleichsgruppe. Die Hadza haben viel mehr Bakterien der
Treponema-Gruppe, die in der westlichen Bevölkerung oft als Anzeichen für
Krankheiten gedeutet werden. Andere Bakterien, die Bifidobakterium, die in der
„westlichen Bevölkerung“ als „gesund“ gelten, sind bei den Hadza vermindert.
Dennoch treten bei ihnen keine Autoimmunkrankheiten auf, wie sie in der
westlichen Bevölkerung Ursache für die zahlreichen Krankheiten sind. Die
MPI-Forscher kommen zu dem Schluss, dass das Verständnis von „gesunden“ und
„ungesunden“ Bakterien neu definiert werden müsse. Das wichtigste Kriterium für
eine gesunde und stabile Darmflora scheint ihre Vielfältigkeit zu sein.
„Die Mikroorganismen, die uns besiedeln sind unsere ‚alten Freunde‘, die uns bei der Anpassung an verschiedene Lebensweisen und Umweltbedingungen unterstützen“, sagt Amanda Henry, Leiterin der Max-Planck-Forschungsgruppe für Pflanzliche Nahrungsstoffe und Nahrungsökologie von Homininen. „Unsere Untersuchung der Darmflora der Hadza erweitert unser Wissen darüber, wie Mensch und Mikroorganismus sich an das Leben in der Savanne angepasst haben. Darüber hinaus zeigt sie, wie Darmbakterien unseren Vorfahren möglicherweise dabei geholfen haben, sich an die Lebensbedingungen während der Steinzeit anzupassen und zu überleben.“
Zurück zu den Wurzeln
Christine Langer von der Aachener Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention (FET) hatte erst kürzlich den schweifenden Blick auf ferne Esskulturen für die Gesunderhaltung kritisiert [2]. Die Übernahme der japanischen Diät in Okinawa allein sichert nicht den 100. Geburtstag. Auch Fisch, Fisch, Fisch und Fleisch wie bei den Eskimos schützt den Dienstleister im Großstadtbüro nicht vor einem Herzinfarkt. Unsere genetischen Wurzeln liegen in Mitteleuropa, so Langer. Und hier hat sich eine spezielle Mikroflora etabliert. Die ist auf einen ausgewogenen Mix aus Gemüse, etwas Obst, Vollkorngetreide und tierischen Produkten ausgerichtet.
Eine Frage bleibt derzeit noch offen: Verengt die Nahrungsmittelindustrie nicht unsere Darmflora mit einseitiger Versorgung nur weniger Probiotika?
Lesestoff:
[1] Stephanie L. Schnorr, Amanda G. Henry et al.: Gut microbiome of the Hadza hunter-gatherers Nature Communications, 15. April 2014, Doi: 10.1038/ncomms4654
[2] Ernährungstrends versus evolutionäre Esskultur
Roland Krieg; Fotos: Alyssa Crittenden; MPI für evolutionäre Anthropologie