Das adipöse Umfeld ändern
Ernährung
Massenerkrankungen Übergewicht und Adipositas
In der nächsten Woche findet die 52. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Hamburg statt. Am Mittwoch hat die DDG in Berlin eine Vorschau auf das Motto „Fortschritt für unsere Patienten“ gegeben. Die Zahlen bei Übergewicht und Diabetes sind eindeutig, wie der peb-Kongress am Anfang dieser Woche bereits gezeigt hat [1]. Die DDG fordert die Politik auf, bei Forschung, Wissenschaft und Versorgung mehr zu unternehmen. Die Aktivitätsfelder sind zahlreich und defizitär.
Der Mensch in neuer Umgebung
Prävention und Ursachen von Übergewicht und Diabetes werden neu definiert. Prof. Dr. Annette Schürmann vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke fasste die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen. Die von der Umwelt bestimmten genetischen Schalter für Übergewicht und Diabetes zeigen überdeutlich, dass Lebensstilveränderungen für die nächste Generation von höchster Bedeutung eines gesunden Aufwachsens sind. Stand die genetische Ausstattung des Menschen bislang mit der Umwelt im Einklang, haben die Umweltveränderungen des Menschen das Gleichgewicht gestört. Heute wird zunehmend in Büros gearbeitet. Statt 10.000 Schritte schaffen die meisten nur noch durchschnittlich 2.500 Schritte am Tag, ergänzt DDG-Geschäftsführer Dr. Dietrich Garlichs. Die Fast-Food-Kultur oder die Convenience der Lieferdienste sind Errungenschaften, die nicht mehr zurück zu drehen sind. Das Umfeld lasse sich nicht mehr an die ursprüngliche genetische Anpassung der körperlichen Arbeit und gerade ausreichenden Nahrungsversorgung zurückführen. Das Umfeld müsse so geändert werden, dass es Rücksicht auf die genetischen Vorbedingungen nimmt. Was heißt das? Es gebe zwar individuelle Sensitivitäten, erläutert Prof. Schürmann. Doch die Menschen (im Versuch sind es die Mäuse), die trotz Vorlage einer ungesunden Diät, schlank bleiben, sind in der Minderheit. Die meisten passen sich Bequemlichkeit und der hohen Zufuhr an Kalorien an und vererben diese in Form von Übergewicht und Diabetes an die Nachfolgegeneration. Die chemischen Basen der DNS reagieren wie ein Lichtdimmer. Die Vorsorge muss neben Aufklärung auch das Umfeld so einstellen, dass niemand das grelle Licht einschalten kann. Die Prävention beginnt bereits in der Schwangerschaft und im frühkindlichen Alter. Das alleine reiche aber nicht. Das Bundesernährungsministerium fahre zwar mit einer Reduzierung für Salz, Fett und Kalorien in den Rezepturen seit 2016 eine Vorbeugestrategie und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) habe eine neue Aufklärungsstrategie begonnen. Doch müsse das Gesundheitssystem jährlich 500.000 neue Diabetiker aufnehmen. Da es sich um chronische Erkrankungen handelt, wird die Adipositas- und Diabetikerwelle nicht abebben, so Garlichs.
Das erfordert ein neues Denken im Umgang mit diesen Krankheiten. Der Eingriff in die „Settings“, den Lebensverhältnissen ist langwierig, schwierig und nicht immer von Erfolg gekrönt. Zusätzlich müsse das neue Umfeld der Zivilisation so gestaltet werden, dass Menschen nach dem Leitspruch der Weltgesundheitsorganisation WHO handeln können: „Make the healthier choice the easiest choice“. Dazu gehören die für die Ernährungsindustrie unbequemen Vorschläge einer Fett- oder Zuckersteuer, wie sie in anderen Ländern erfolgreich seien. Positive Beispiele hat es auch in Deutschland gegeben, führt Dr. Garlichs aus. Mit der zusätzlichen Besteuerung von Alcopops und Tabak ist der Konsum zurück gegangen. Bei solchen Restriktionen sind sich die medizinischen Organisationen einig, erläuterte Dr. Garlichs. Erforderlich sei ein Nationaler Diabetesplan, der nach Wünschen der DDG in den nächsten Koalitionsvertrag mit aufgenommen werden müsse. Prof. Schürmann verfolgt zudem das Ziel, schon Übergewicht als Krankheit anzuerkennen. Das die Debatte noch nicht ganz in Richtung der Mediziner umgeschlagen ist, sei nach Dr. Garlichs ein Zeichen, dass der finanzielle Druck im Gesundheitssystem noch nicht groß genug ist. Würden die Gesundheitsdebatte von den Finanzministern getragen, wären restriktive Maßnahmen zur Kostenreduzierung der Therapie leichter durchzusetzen.
Weg von der 5-Minuten-Medizin
Informiertes Arztpersonal gehört zum „Neuen Denken“ dazu. DDG-Präsident Prof. Baptist Gallwitz beklagt, dass von den in den 1990er Jahren noch vorhandenen 17 Lehrstühlen für Diabetologie nur noch acht übrig geblieben sind. Zudem überaltert die Ärzteschaft. Den von der DDG qualifizierten Diabetesberatern wird die staatliche Berufsanerkennung verweigert. Übergewicht und Diabetes sind chronische Krankheiten, die lebenslang behandelt werden müssen. Die Kochbuchmedizin „Iss mehr Gemüse und bewege dich“ reiche nicht. Der Eingriff in die „Settings“ ist komplex. Pro Besuch müsse sich der Arzt im Rahmen der „Sprechenden Medizin“ eine halbe Stunde Zeit nehmen. Hier sind ganz neue Ansätze in der Therapie nötig.
Digitalisierung
Hilfreich für die Patienten-Arzt-Beziehung ist die Digitalisierung. Angst vor dem gläsernen Patienten hat Prof. Dirk Müller-Wieland nicht. Datensicherheit und Datenschutz gehört bei der E-Health wie in anderen Wirtschaftsbereichen dazu. Der Kongresspräsident von der Rheinisch-Westfälischen Technischen (RWTH) Aachen Hochschule prophezeit, dass die elektronische Gesundheitskarte kommt. Und kommen muss. Manuel Ickrath ist Sprecher der Task Force Digitalisierung in der DDG. Die Praxen haben Praxissoftware, Buchungssoftware, Patientensoftare und andere Systeme im Einsatz. Eine „Interoperabilität“ zwischen den Systemen gibt es kaum. Ende des Jahres setzen sich Vertreter der Diabetesindustrie für die Ausarbeitung von gemeinsamen Schnittstellen unter Leitung des Bundesgesundheitsministeriums zusammen. Die Zeit, in der Patienten „mit braunen Tüten in der Hand“ von einem Arzt zum nächsten gehen, müsse vorbei sein. Auch der Wechsel von einem in das nächste Bundesland sei für Patienten Normalität, überfordere aber die Computersysteme.
Voraussetzung sei die Digitalisierung des ländlichen Raumes, die derzeit mit der Digitalen Agenda im Bundesverkehrsministerium und im Bundeslandwirtschaftsministerium über die ELER-Förderung angesiedelt sei. Das reiche nicht und müsse deutlich intensiviert werden. Breitband ist wichtig für den Datenaustausch bei Massenerkrankungen wie Übergewicht und Diabetes. Gesundheitsminister Gröhe lässt derzeit alle Gesetze nach Hindernissen für den Breitbandausbau durchforsten.
Ickrath versteht die Aufregung um den Datenaustausch auch deswegen nicht, weil die Menschen sich mit Gesundheitstrackern freiwillig alle möglichen Daten anzeigen lassen. Der DDG gehe es aber nicht um Apps für Gesunde, sondern um medizinische Apps. Dafür setzt sich die DiaDigital-Initiative der Arbeitsgruppe Diabetes und Technologie der DDG ein. Die spricht in einem Label Zertifizierungen für wirklich nützliche Apps aus.
Lesestoff:
www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de
[1] Peb-Kongress „Gesund aufwachsen“: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/gesund-aufwachsen.html
Interview mit Dr. Angela Kohl vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) zum Thema Prävention und Verantwortung der Industrie: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/aufklaerung-statt-werbeverbote.html
Roland Krieg