Die Biologie des Essverhaltens

Ernährung

Dickmacher: Gene, Geschmack und gute Freunde

Prof. Dr. Meyerhof vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam hält tröstendes bereit: Vom Zuhörer im Hörsaal bis zum Marathonläufer müssen alle Menschen Nahrung zu sich nehmen. Und zwar dauerhaft, ergänzt sein Kollege Prof. Gerhard Püschel.
In den letzten Jahren ist aus dieser Banalität ein übergewichtiges Problem geworden. Prof. Hans-Georg Joost schätzt, dass alles Bauchfett in Berlin zusammen genommen bei einem Wirkungsgrad von 60 Prozent die Hauptstadt ganze sechs Tage lang mit Energie versorgen könnte.
Seit Jahren stehen ständig wechselnde Angeklagte vor dem Schlankheitsrichter: Mal machen einzelne Lebensmittel dick, dann die Gene, die Umwelt oder gar die Industrie oder die Bauern. Das die Wahrheit viel komplexer ist, zeigte das 14. Leibniz-Kolleg Potsdam.

Moderner Geist im Steinzeitkörper
Pro Jahr braucht ein Mensch etwa eine Million Kcal. 7.000 zusätzliche reichen schon aus, um in einem Jahr ein Kilogramm zuzunehmen. Das sind zwei Stückchen Würfelzucker am Tag, erklärte Prof. Joost. Der Körper hält sich in einem sensiblen „Setpoint“ genannten Energiegleichgewicht, das nur wenig Störung verträgt. Prof. Jeffrey Friedman von der Rockefeller Universität in New York konnte vor einigen Jahren die Funktion des Peptidhormons Leptin in einem komplexen Regelkreislauf identifizieren. Leptin wird freigesetzt, wenn das Fettgewebe im Verhältnis zu seiner Masse ein bestimmtes Niveau erreicht hat. Wenn die Energiespeicher quasi voll sind. Leeren sich die Energiespeicher, sinkt der Leptinspiegel und der Hirnstamm, der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns, reagiert mit Appetit und sinkendem Energieumsatz. Solange bis die Speicher wieder voll sind.
Solche energieeffizienten Regulationen wurden in der langen Evolution begünstigt: Wo Nahrungsmangel herrscht, überlebt der Energiesparer. Doch während der Steinzeitmensch darauf angewiesen war, hat der moderne Mensch damit ein Problem. Es gibt zwar keinen Nahrungsmangel mehr, doch das Regulationssystem funktioniert noch. Solange der Körper im Bereich des Normalgewichts ist, fällt das nicht negativ auf. Doch sobald Übergewicht vorhanden ist, regelt das System falsch: Wer abnimmt, dessen Körper spart sich dagegen an.

Bauchfett
Speicherfett bei Frauen ist gluteal-femoral um Hüfte und Oberschenkel verteilt. Das Risiko für metabolische Störungen ist geringer. Männer weisen eine abdominale Fettverteilung mit höherem Risiko für metabolische Störungen auf. Daher ist nach Dr. Joost die alleinige Fett-Muskel-Verteilung nach dem Körpermasseindex wenig aussagekräftig, um die Sterblichkeit zu berechnen. Viel wichtiger ist die Betrachtung des Bauchfetts. Daher gilt: „So wenig wie möglich ist am besten.“

Die Verschiebung des „Setpoints“ ist genetisch möglich. Allerdings gibt es nach Dr. Joost kein einziges „Dickmacher-Gen“. Viele Chromosomen sind mit Genen bestückt, die auf verschiedene Mechanismen wie auf das Bauchfett wirken. Beim Fadenwurm sind 200 Gene in der Lage Mechanismen zur Fettreduzierung und 100 zur Fettanreicherung zu initialisieren. Die Maus kommt auch noch auf 30 Genabschnitte. Beim Menschen sind 30 „Kandidatengene“ im Visier.
Manchen ist die Anlage zur Wunschfigur bereits in die Wiege gelegt.

Das Kein-Mangel-Hormon
Prof. Püschel spricht über das Leptin lieber vom Kein-Mangel-Hormon. Es signalisiert dem Körper, das alles in Ordnung ist. In zwei Ausnahmesituationen reagiert der Körper aber auch zu Recht falsch. In der Schwangerschaft und bei Entzündungen. In beiden Fällen muss der Grundumsatz im Körper steigen. Einmal für die Zusatzversorgung des Fötus und einmal für die höhere Körpertemperaturen. Damit der Körper so reagiert, muss er auch eine Leptinresistenz aufweisen. Die Speicher sind voll, es wird weiter Leptin produziert und die Muskeln erhalten das Signal weiter Fettsäuren aufzubauen, um sie als Tryglyceride einzulagern: Der Körper spart bei vollen Energiespeichern.
Dr. Püschel kennt aber auch das Gegenrezept. Das Abbauprodukt Adenosinmonophosphat (AMP) ist bei der Energieeinlagerung das Signal über die Schilddrüse an die Zelle, den Überschuss zu verbrennen. Die Zelle lässt im wahrsten Sinne des Wortes „Dampf“ ab. Und das kann der Mensch beeinflussen. Mit Ausdauersport kann der seinen Zellen über das AMP signalisieren, Energie zu verbrennen.
Dann übernehmen Geist und Wille die Zellregulation.

Süß ist sicher
Oft ist von einem adipösen Umfeld die Rede, das den Menschen den Verzehr von hochkalorischen und süßen Lebensmitteln erleichtert. Ratten würden sich aber auch so ein Umfeld zulegen, folgt man Prof. Dr. Wolfgang Meyerhof vom DIfE.
Die kleinen Säuger haben eine Abneigung gegen neue Futtermittel. Sobald der Nachwuchs abgestillt ist, entdecken sie die Futterwelt nach zwei Prinzipien: Esse von Unbekanntem nur wenig und verzehre Unbekanntes nie mit anderem Futter. So lernen die kleinen Nager was sie schlucken können oder spucken müssen. Letztlich lernen sie, genau wie die Menschen über den Geschmack.
Natriumchlorid signalisiert „salzig“, Protonen signalisieren „sauer“, süß und bitter werden chemisch analysiert und umami als „Fleischgeschmack“ gesellt sich als fünfte Geschmacksrichtung hinzu. Manche Ernährungswissenschaftler erweitern die Geschmackstypen noch um Fett und Wasser. „Bitter“ und „sauer“ sind dabei Warnsignale, nicht zu viel oder gar nichts von der Speise zu essen. Hingegen signalisiert Süßes: „Ich bin sicher“. Dabei entdecken die Menschen oft noch, dass sie sich nach dem Genuss von Süßem wohl fühlen.
Bislang haben die Experten viel über Geschmacksknospen herausgefunden. Jede funktioniert nur für eine Geschmacksrichtung. Sie wissen auch, dass die Geschmacksknospen auf der Zunge fest mit dem Stammhirn verbunden sind. Aber wie das Gehirn letztlich aus dem ankommenden Signalmuster die Bewertung durchführt – das wissen sie nicht.
Sie wissen aber auch, dass der Geschmack nicht alles ist. Das Auge ist mit. Die Geruchszellen nehmen während des Kauens die Aromen. Geschmack, Aroma und Farbe fügt das Gehirn zu einem Gesamtbild zusammen.
Süß und sicher: Das signalisieren auch die Ladenregale.

Wir essen nicht allein
Geht es uns gut, beißen wir in einen Apfel. Geht es uns schlecht, trösten wir uns mit Schokolade. Petra Warschburger, Psychologin der Universität Potsdam weiß, dass es einen Unterschied zwischen Wissen und Handeln gibt. Wir wissen, was wir essen sollten, aber wir essen, was wir meiden sollten. Dabei ist die Frage spannend, wer oder was bestimmt, was, wie viel und wie wir essen.
Nicht unterschätzt werden darf der Belohnungsimpuls des Essens. Mit zunehmendem Alter essen wir nicht mehr aus physiologischen Gründen, sondern es vermehrt aus sekundäre Motiven: Das Bier am Abend dient nicht primär der Zufuhr von Mineralstoffen.
Zunächst prägen die Eltern das Essverhalten. Sie bestimmen mit eigenen Präferenzen und Verfügbarkeit was auf den Tisch kommt und Petra Warschburger warnt, dass gerade die schlechten und nicht zu verheimlichenden Essverhalten vom Nachwuchs übernommen werden. In der Schule sind es die Freunde, die mitbestimmen, was wir essen und später geben prominente Vorbilder die Nahrungsauswahl vor. Emotionen sind nach Warschburger eine starke Kraft. Sie steuern die Nahrungsauswahl, steigern oder hemmen das Essverhalten. „Langeweile“, so die Psychologin, „ist der Auslöser für Essverhalten per se!“.
Auch die Kultur gibt Präferenzen vor. Schokolade für 49 Cent erleichtern den Konsum und steigende Portionsgrößen die Verzehrsmenge, weil die Konsumenten die Packung meistens leer essen. Die einen Kulturen verspeisen Froschschenkel, andere Hunde.
Genauso wie aus der genetischen Vorlage, haben die Menschen es schwer aus der individuellen und gesellschaftlichen Vorgabe auszubrechen. Es müsse ein Automatismus unterbrochen werden. Das bedeutet Aufwand, der mit Anstrengungen verbunden ist. Einer hat die „kognitive Kontrolle, dem Impuls zu wiederstehen“, ein anderer nicht.

Die Verantwortung trägt jeder selbst
Es sind nicht nur die TV-Menüs die dick machen. Die Industrie könnte Portionen wieder kleiner machen. Aber das Leibniz-Kolleg hat gezeigt, dass sich Ursachen für das Übergewicht vielfältig aus der Biologie und der Gesellschaft zusammen setzen. Wissen ist daher der Ansatz, Verantwortung selbst in die Hand zu nehmen, sich dem Impuls zu widersetzen, oder mit Sport das Energiegleichgewicht in die Balance zu bringen. Dann ist die Eigenverantwortung eine stärkere Waffe gegen das Übergewicht als Werbe- und Verzehrsgebote. Die können nur assistieren.

Lesestoff:
Das Deutsche Institut für Ernährungsforschung finden Sie im Internet unter www.dife.de
Wer genau in der Bevölkerung übergewichtig ist, hat die Nationale Verzehrsstudie II im Einzelnen herausgestellt
Zahlreiche Artikel aus der Potsdamer Ernährungs-Forschung finden Sie über die Suche mit dem Stichwort „DIfE“ auf Herd-und-Hof.de

Roland Krieg

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