Die Lebensmittelretter
Ernährung
Tafeln, Slow Food, BMELV gegen Lebensmittelverschwendung
Im März hat das Bundesland-wirtschaftsministerium mit der Aktion „Zu gut für die Tonne“ Schwung in das Thema Lebensmittel-verschwendung gebracht [1]. Mit Hilfe einer Studie aus Stuttgart hat Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner dem unbedarften Wegwerfen von Lebensmitteln den Kampf angesagt. Am Dienstag hat sie zusammen mit dem Bundesverband Deutsche Tafeln und Slow Food in Berlin bundesweite Aktionstage gestartet, um weiter die Wertschätzung von Lebensmitteln zu erreichen. Lebensmitteln mit Schönheitsfehlern werden bei Erzeugern und Supermärkten eingesammelt und die Reste zu einem schmackhaften Menü verarbeitet.
Am 29. November beginnt die Auftaktveranstaltung in Bremerhaven mit einer Vorführung des Films „Frisch auf den Müll“ in verschiedenen Schulen. Eine lange Tafel vor dem Klimahaus auf der Havenplaza wird Höhepunkt und Symbol für alle weiteren Aktionstage sein. Im April geht es bei der Tafel in Essen und im Mai in Konstanz und Singen weiter.
Reste-App
Eine aktuelle Studie hat den Erfolg bei der Bevölkerung bereits aufgezeigt. Das Ziel, den Abfall zu reduzieren, unterstützen 95 Prozent der Befragten, jeder zweite hat bereits von der Aktion gehört und immerhin 28 Prozent haben bereits ihr Verhalten angepasst. Gerd Häuser, Bundesvorsitzender der Tafeln ist damit zufrieden, denn eine Verhaltensänderung ist langwierig. Gerade das Speisen an der langen Tafel lädt zu Kommunikation und Bewusstseinsbildung ein.
Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland, stellt die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung in den kulturellen Kontext. Umwelt, Kultur und Verantwortung ist bei den Genießern bei Slow Food eine Selbstverständlichkeit. Die Beschäftigung mit dem Thema im großen Zusammenhang erhöht die Wertschätzung der Lebensmittel und würdigt die Arbeit, die vom Acker bis zum Teller aufgebracht wird. Ein niedriger Lebensmittelpreis allerdings befördert die Geringschätzung, so Hudson.
Ein Mosaikstein gegen den unnötigen Abfall ist der im Sommer herausgegebene Ratgeber für Lebensmittelspenden [2]. Für Verbraucher ist mittlerweile eine „App“ hinzugekommen, die nach Angaben von Ilse Aigner schon mehr als 200.000 Mal heruntergeladen wurde. Mit dieser digitalen Hilfe können sich Verbraucher aus ihren Lebensmittelresten eine Reste-Küche kreieren.
Vom Saulus zum Paulus
Wenige Jahre vor dem Thema Lebensmittelverschwendung galt die Technologie der ESL-Milch, die sich im Regal länger hält als Unsinn. Der Handel hatte die Milch bereits vorher schon aufgenommen, um weniger wegzuschmeißen. Mittlerweile gilt sie als technologisches Paradebeispiel [3].
Lebensmitttelabfall und Welthunger
Eine ethische Komponente der Aktion stellt den Zusammenhang zwischen Lebensmittelverschwendung hier und Hunger in den Südländern her. Auf die Hebelwirkung der Abfallreduzierung auf die Ernährungssouveränität in den Entwicklungsländern angesprochen, räumt Ilse Aigner gegenüber Herd-und-Hof.de ein, dass es dazu keine genauen Zahlen gibt. Jedoch werde eine übermäßige Nachfrage generiert, die in der Summe über sinkende Preise auch indirekt den Entwicklungsländern schade. Für Ursula Hudson wirke die Aktion auch mehr nach innen. Es entstehe ein anderes Konsumverhalten. Hudson verwies dabei auf die Besonderheit, dass in Deutschland Filets bevorzugt werden, aber nicht mehr alle Teilstücke. Exportierte Hühnchenflügel stören dann die lokalen Märkte im Süden.
Das Thema Lebensmittelverschwendung ist breit und global aufgestellt. Nach Ilse Aigner verlieren viele Länder im Süden bei und nach der Ernte bis zu 40 Prozent der möglichen Nahrung. Technologische Ansätze wie Erntetechnik, Logistik und Lagerung könnten viel Abhilfe schaffen. Im Bewusstsein der Deutschen ist dieser Aspekt aber nicht. Nachernteverluste werden von der Bevölkerung in einer aktuellen Umfrage der Georg-August-Universität Göttingen als eine unbedeutende Ursache für den Hunger im Süden eingeteilt [4].
Das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa hat im August eine Analyse des Wortpaares Lebensmittelverschwendung und Hunger durchgeführt [5]. So unterstelle die Studie, dass Lebensmittel weggeworfen würden, weil die Einkaufsfrequenz zu gering ist. Wer zwar passgenauer, aber öfter einkaufen geht oder sogar fährt, nutze Ressourcen, die in den Berechnungen nicht einfließen.
Bezweifelt werden auch die monetären Angaben des Abfallvolumens. Wird ein Brötchen für 0,50 Euro gekauft, aber nicht verzehrt, dann entstehe nach Autor Ulrich Koester nur ein Verlust in Höhe des Rohstoffwertes. Und der Getreidewertanteil mache bei einem Brötchen lediglich vier Prozent aus. Würde ein Brötchen weniger entsorgt, bestehe lediglich ein Transfergewinn in den Süden in Höhe von 0,02 Euro.
Das Fazit im IAMO Policy Brief No. 7 ist für die ethische Betrachtung gegenüber den Hungernden ernüchternd: „Das Ausmaß des Problems und seine Bedeutung für die Armen in den Entwicklungsländern ist aber durch die vorliegende Studie weit überschätzt worden.“ Wie es in den 1980er Jahren schon hieß: Die Menschen hungern nicht, weil wir hier so viel essen, sondern weil wir hier so wenig darüber nachdenken.
Lesestoff:
www.zugutfuerdietonne.de Hier gibt es auch die kostenfreie APP fürs Smartphone
[1] Studie zu Lebensmittelabfällen
[2] Ratgber für Lebensmittelspenden
[3] Tagung und Forschungsbeispiele zur Reduzierung des Lebensmittelabfalls
[4] Qaim, M. et al, Wahrnehmung des Themas Welternährung in der deutschen Öffentlichkeit, Global Food Discussion Paper No. 16, Georg-August-Universität Göttingen, November 2012, ISSN 2192-3248 www.uni-goettingen.de
[5] Koester, Ulrich: Wegwerfen von Lebensmitteln einerseits, hungernde Bevölkerung andererseits – Ineffizient und unmoralisch?, IAMO Policy Brief No. 7, August 2012 www.iamo.de
USA: Nur 60 Prozent der Ernte schafft es auf den Teller: http://tinyurl.com/ccqcn26
Roland Krieg (Text und Fotos)