Durch „Nudging“ auf den Weg ins Glück

Ernährung

Der BLL wird 60

Ob die Verbraucherlobby oder die Lobby der Ernährungsindustrie zuerst da war, ist nicht bekannt. Geschichtlich aber wurde 1844 in Großbritannien die erste Konsumgenossenschaft gegründet und 1898 die „National Consumer´s League“ in den USA. Hintergrund war die industrielle Revolution, bei der Verbraucher nicht mehr nur lokal operierenden Handwerkern und Bauern gegenüberstanden, sondern den ersten großen Unternehmen und Handelsfirmen.

In den 1950er Jahren nahm der Verbraucherschutz deutlich an Fahrt auf. Deutschland befand sich in der Aufbauphase und auf den Tischen dampften Kartoffeln, Kohl und Klopse. Das Wirtschaftswunder brachte eine Vielfalt an neuen Produkten und Waren auf den Markt, zu denen die Konsumenten Fragen hatten. 1953 gründete sich in Bonn die „Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände“ (AgV), weil Kunden auf irreführende Werbung und nachteilige Haustürgeschäfte hereinfielen. Die bald aufgenommene Beratung wollte Kunden auf Augenhöhe mit der Industrie bringen.

Die Ernährungsindustrie hat eine vergleichbare Geschichte. Die Hersteller von Lebensmitteln sahen sich während der Industrialisierung starken technischen und wirtschaftlichen Veränderungen ausgesetzt. Daraus resultierten Konflikte und Rechtsunsicherheiten, die 1901 zur Gründung des „Bundes Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und –Händler“ führte. Bereits vier Jahre später bestand der Bund aus 432 Unternehmen und 30 Einzelverbänden. Nach dem Gründungsort „Nürnberger Bund“ genannt, verfasste die Organisation mit dem Deutschen Nahrungsmittelbuch ein erstes Regelwerk für die Branche. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Verband 1955 erneut in Nürnberg als Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde gegründet (BLL). Und der feierte am Donnerstag in Berlin sein 60. Jubiläum.

Ernährung und Verbraucher

In den 50 und 60er Jahren brach der Verbraucher aus dem Leid des Weltkrieges in seinen persönlichen Wohlstand auf. Mit Käfer und DAF eroberte er den Brennerpass. Im Spätsommer hingen in der Küche Dampfschwaden vom Marmeladekochen der eigenen Beerenernte unter der Decke. Als Außer-Haus-Verpflegung galt der sonntägliche Besuch des Forellenhofes oder das Familienevent Pizzeria.

1957 wurde in Niedersachsen die erste Länder-Verbraucherzentrale gegründet und beriet die Bürger rund um Wohnung, Hauswirtschaft und zum Einkauf wichtiger Waren. In den USA machte der Anwalt Ralph Nader mit defizitären Sicherheitsvorkehrungen in der Automobilindustrie Furore in Bezug auf Verbraucherrechte und nach einem ersten Test von 17 Waschmitteln im Jahr 1961 gründete sich in Deutschland drei Jahre später die Stiftung Warentest.

Der BLL musste sich erstmals mit „einer gewissen Presse“ auseinandersetzen, die unlauter gegen die Ernährungsindustrie schrieb. Ein „Ausschuss für Publizistik“ sollte in populär-wissenschaftlicher Form Verbraucher „sachlich aufklären“. Gegründet wurde er nie, denn „selbst die gehobene Tagespresse“ fand sich nicht bereit „aufklärende ernährungswissenschaftliche Themen zu behandeln“, stellte der BLL fest.

Der Sprung in die Moderne

Heute ist beim Verbraucher der Konsum „to go“. Das mobile Internet trägt ihm aktuelle Tests hinterher, über soziale Netzwerke werden Informationen und Irrtümer ausgetauscht und der Kunde ist selbstbewusst wie noch nie. Auch wenn der Abstand zur Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln unumkehrbar groß geworden ist.

Deregulierungen und liberalisierte Märkte haben das Profil der Verbraucherzentralen weiter geschärft und sie zu vertrauenswürdigen Ansprechpartner der Kunden gemacht.

Den Weg ins digitale Zeitalter hat auch der BLL gefunden. Verzögert, was er heute noch aufholen muss. Erst 1982 wurde der erste Pressedienst herausgegeben, der sich nicht nur an das Fachpublikum wendet. Bis dahin hat der Verband „nur Anlass bezogen und unsystematisch und daher mit wenig Resonanz“ Stellung genommen, wie er selbstkritisch schreibt.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Informationsbroschüren zu Themen wie „Allergene“ oder „Zusatzstoffe“. 2014 wurde der „BLL Mediendialog Lebensmittel“ gegründet und mit ersten Auftritten auf der Internationalen Grünen Woche hat der Verband mit einem kleinem Informationsstand Profil gezeigt. Die spätere Ausgestaltung des Messeauftrittes hat dem BLL Öffentlichkeit bei Medien und Verbrauchern gebracht und zeigt ausführlich zusammen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) wie Lebensmittel hergestellt werden und welche gesetzlichen Regelungen es gibt. „Der BLL liefert Antworten“, sagte Präsident Stephan Nießner zum Jubiläum. So ist der Kern der Satzung von 2015 seit 60 Jahren unverändert: „Der BLL hat die Aufgabe an der Gestaltung und Fortbildung des Lebensmittelrechts auf nationaler und internationaler Ebene sowie an der Entwicklung der Lebensmittelkunde in Anpassung an den Fortschritt von Wissenschaft und Technik mitzuwirken und auf diesen Gebieten anregend und fördernd und informativ tätig zu sein.“

BLL 3.0

„Die Praxis erklärt sich nicht von selbst“, sagt Nießner. Erzeugung und Verarbeitung, Verbraucherwünsche und -vorstellungen sowie die Rechtsprechung sind komplexer geworden. Die Medien begleiten die „Verantwortungsgemeinschaft“ BLL kritisch, aber mit Respekt, blickt Nießner in die Zukunft. Mit 250 Unternehmen und 77 Verbänden stellt sich der Verband den neuen Herausforderungen und ist dabei Europäer geworden: Die aktuelle Diskussion um das doppelte Opt-out bei der Grünen Gentechnik gefährde den Binnenmarkt und stelle die Unternehmen vor unlösbaren Kennzeichnungsaufgaben, kommentiert der Verband. Verantwortung zeigt er auch als Gründungsmitglied der „Plattform Ernährung und Bewegung“ (peb), die sich als gesamtgesellschaftliche Plattform erfolgreich durchgesetzt hat. Bei allen Disputen innerhalb der Branche und intersektoral, erinnert Nießner die Verbraucher auf das Wesentliche beim essen und trinken: „Begrüßen sie die Auswahl und die Sicherheit der Lebensmittel.“ Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt bezeichnet die mehr als 170.000 verschiedenen Produkte als „Schlaraffenland“.

Der Stups zum Glück

Aus dem englischen kommt das Verb „nudge“. Das kann sowohl den Rippenstoß als auch einen freundliche Anstoß bedeuten, jemanden oder sich selbst zu etwas zu bequemen. Im amerikanischen bedeutet „nudging“ allerdings nörgeln. Derzeit macht das Wort Karriere als „Kompromiss“ zwischen Ordnungsrecht und Selbsterkenntnis. Als fürsorgliche Empfehlung soll nudging helfen, das Richtige auf Grund „eigener Entscheidung und Autonomie“ zu tun, erklärt Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, Jurist an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Nudging ist die sanfte Erziehung – ergänzt durch klare Regeln, bei deren Verstoß die Sanktionen vorher offen gelegt sind. Eine Frage für die Politik. „Die neuzeitliche Politik will das Glück der Bürger fördern“, sagt der Jurist. Soll aber jeder Bürger sein Glück individuell angehen oder soll der Staat das Glück gesamtwirtschaftlich befördern? „Was gut für mich ist, will ich selbst entscheiden“, sagen die Bürger und wollen weder Bevormundung noch Verbote. Das entspricht unserer Verfassung, wo jedem Einzelnen die Möglichkeit zur freien Entfaltung zugesichert ist.

Verpflichtet der Staat die Automobilbauer zu einem Label über den Ausstoß von Kohlendioxid, wird dem Kunden nach objektiven Tatsachen eine freie Wahl ermöglicht, erklärt Di Fabio. Der Kunde erhält eine sinnvolle Zusatzinformation. Bekommt der Fruchtsaft hingegen einen roten Punkt, weil er natürlicherweise zu viel Zucker hat, würde der Verbraucher staatlich gefördert getäuscht – denn hin und wieder ist er gesund.

Daraus resultieren die unterschiedlichen Sichtweisen, was Verbrauchern hilft und was nicht. Der Verbraucher wird vom Staat als verantwortungsvoller Konsument angesprochen. Er weiß, dass in der Teewurst kein Tee ist, dass fünf Portionen Obst und Gemüse gesund sind und dass er weniger rotes Fleisch essen sollte.

Wider der Anarchie der Deppen

„Doch neigt der Mensch zur Unvernunft“, wie Prof. Di Fabio einräumt: Er trinkt zu viel, er isst zu viel oder er fährt zu schnell Auto. Wie soll das „zu viel“ geregelt werden?

Hat der Staat der Anarchie der Deppen nur Erziehung und Bildung entgegenzustellen? Die amerikanische Sitcom „Mike und Molly“ macht krankhaftes Dicksein hoffähig und zeigt: Sie lachen und weinen wie schlanke Menschen, scheitern an den gleichen Alltäglichkeiten und finden immer wieder zueinander. Nur eben jeweils 100 Kilogramm schwerer. Ist das nicht nudging zur Unbekümmertheit? Wird da nicht die Normalität einer adipösen Umwelt angestoßen?

Ursache und Wirkung sind intersektoral verteilt. Die 70 Milliarden Euro für ernährungsbedingte Krankheiten im deutschen Gesundheitssystem pro Jahr entspringen dem Ernährungsbereich, fallen aber als Kosten im Gesundheitsetat an. Eine rein sektorale Betrachtung wird dem „nudging“ nicht gerecht. Dass Verbote wirken, zeigt Baden-Württemberg, wo zwischen 22:00 und 05:00 Uhr außer in Kneipen und Restaurants kein Alkohol mehr verkauft werden darf [1].

60 Jahre BLL

Der BLL hat in sechs Jahrzehnten den Sprung von einer reinen Branchenorganisation zu einem gesellschaftsrelevanten Partner geschafft. Auch Verbraucherschutz und Kunden haben sich dramatisch verändert. Von der Geburtstagsfeier in Berlin sendet der BLL das Signal aus, dass die gemeinsame Entwicklung auch in den nächsten 60 Jahren weitergeht. Treffen werden sie sich nie. Aber das sollen sie auch nicht. Konfliktbeseitigung wäre Stillstand.

Lesestoff:

Einen umfassenden Überblick über die BLL-Meilensteine finden Sie auf der Verbandsseite www.bll.de

[1] Verbote wirken doch

Roland Krieg

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