Ernährung und Bewegung

Ernährung

Gründungskongress in Berlin

>Ende Juni berichtete Herd-und-Hof.de bereits über die Gründung des Vereins "Plattform Ernährung und Bewegung e. V." (01.07.2004). Gestern fand der Gründungskongress im Berliner Congress Center am Alexanderplatz mit 1.200 Teilnehmern statt. Ein Bündnis aller gesellschaftlicher Gruppen, die beitragen wollen, dass Kinder und Jugendliche einen gesunden Lebensstil führen, sich bewusst ernähren und ausreichend bewegen. Der erste Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Erik Harms (Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin) führte in seiner Eingangsrede dann auch an, dass der heutige Mensch praktisch in einer unbewegten Mobilität lebt, die zu "übergewichtigen Frühinvaliden" führt. Die Betroffenen leiden selbst erst nach Jahren unter den Auswirkungen. Das bereits bei Einschulungen festgestellte frühe Übergewicht taucht erst seit rund 15 Jahren auf, so dass es sich nicht um eine genetische Disposition handeln kann. Es ist der Lebensstil, der übergewichtig macht. Die einzige Lösung ist ein Präventionsprogramm.

Eigentlich bekannte Ursachen
Prof. Dr. Berthold Koletzko vom gleichen Verband, sieht auch in der Prävention die einzige Lösung. Singapur hat bei Schülern über zehn Jahren gezeigt, dass Programme zur Reduzierung von Übergewicht erfolgreich sind. Auch die Weltgesundheitsorganisation plädiert für Bildung nationaler Initiativen, wie eben der neuen deutschen Plattform. In seinem Vortrag zeigt der Mediziner auf, dass es sich dabei um ein weltweites Problem handelt. In Deutschland sind 16 Prozent der Kinder übergewichtig und gut 3 Prozent fettleibig. Amerika macht es vor, Europa und der Nahe sowie Mittlere Osten machen es bereits nach. Mit steigender Geschwindigkeit. In Europa ist ein Nord-Süd-Gefälle sichtbar, dass die meisten übergewichtigen Kinder ausgerechnet in der mediterranen Region aufweist, aus der die gesunde Ernährung mit viel Obst, Fisch und Olivenöl kommt. Das ist der erste Hinweis, dass es nicht nur die Ernährung ist, die dick macht. Generell ist das Gleichgewicht zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch aus den Fugen geraten, fasst Koletzko prägnant zusammen. Mehr als zwei Stunden Sitzen am Tag fördert die Gewichtszunahme. In einer Studie wurde gezeigt, dass die Reduzierung der Fernsehzeit von 15 auf 8 Stunden pro Woche den Body Mass Index (BMI) bereits um einen halben Punkt nach unten korrigiert. Der BMI wird als Quotient von Gewicht und quadrierter Körpergröße in Meter gemessen. Bei Erwachsenen gilt ein BMI von über 25 als übergewichtig, bei über 30 als adipös. Bei Kindern und Jugendlichen gelten andere Werte, die sich allerdings vergleichend hochrechnen lassen. Die wichtigsten Ursachen: Speisen und vor allem gezuckerte Getränke sind fast rund um die Uhr überall zu haben. Die Energiedichte und die Portionsgrößen der heutigen Speisen sind gestiegen. Eine Portion Pommes hat vier Mal so viele Kalorien wie eine Portion Salzkartoffeln. Ein Kind wird aber niemals vier Mal so viele Salzkartoffeln essen können, wie Pommes.

Welche Zahlen stimmen?
In den Publikumsmedien finden sich die unterschiedlichsten Prozentangaben über die Anzahl der Betroffenen. Ist es jedes fünfte Kind, oder doch jedes Dritte? Manche Medien verbreiten sogar die Meinung, dass dieses Problem überhaupt nur hoch politisiert zum Thema geworden ist, um sich zu profilieren. Die Daten sind lückenhaft und der SPIEGEL wartet in dieser Woche lieber erst die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) ab, bevor tätig werden möchte. Dr. Bärbel-Maria Kurth vom RKI wird in ihrem Vortrag deutlich: Egal welche Daten betrachtet werden - diese können je nach Erhebung und Zeitreihe abweichen - es zeigt sich ein eindeutiger Trend: ?Wir brauchen keine weiteren Daten, um aktiv zu werden.? Um bundesdeutsche Referenzwerte zu ermitteln und dem Datenwirrwarr ein Ende zu bereiten hat das RKI in diesem Jahr mit einer ausführlichen Erhebung begonnen. Mehr dazu finden Sie unter www.kiggs.de. Es zeigt sich, das nicht das Durchschnittskind dicker wird, sondern die bereits dicken Kinder. Auf der anderen Seite der Fehlernährung gibt es auch immer mehr magersüchtige Kinder. Die Risikofaktoren sind auch bekannt: zu viel Fernsehen, zu wenig Bewegung, dicke Eltern als Vorbild und Rauchen in der Schwangerschaft.

"Homo sedens" löst den "Homo sapiens" ab
Der Stuhl sei einer der dümmsten Erfindungen heißt es bei einem Antrophologen. Sportwissenschaftler Prof. Dr. Wolf-Dietrich Brettschneider von der Universität Paderborn sieht es durchaus ähnlich und fragt, ob nach dem PISA-Schock nun der Fett-Schock kommt? Er stellt fest, dass die Fettzufuhr kaum über den empfohlenen Richtwerten liegt und die Zufuhr an Kohlenhydraten sogar darunter. Das Ursachenbündel für übergewichtige Kinder und Jugendliche ist komplex. Dieses lässt sich mit Lebensstil am besten übersetzen.
Der Sportler zitierte bereits aus einer vergleichenden Studie mit 20 Ländern, die jedoch noch nicht abgeschlossen ist. Kinder und Jugendliche wachsen in einer Medienwelt auf. Diese umfasst nicht nur den Fernseher, sondern auch Computerspiele, tragbare Spiele und Handys. Zwei drittel aller Kinder sitzen Samstags und Sonntags jeweils mehr als vier Stunden vor dem Fernseher, wo doch in der schulfreien Zeit Herumtoben angebracht wäre. Für den Computer kommen nochmals rund 1,5 Stunden tägliche Sitzzeit dazu. Trotzdem: Kinder- und Jugendzeit ist immer "Bewegungszeit" gewesen. Und auch heute noch sind 60-70 Prozent aller Kinder und noch die Hälfte aller Jugendlichen in Sportvereinen aktiv. Das Kinder bewegungsfaul sind ist daher nur ein Vorurteil. Kinder sind im Sport durchaus aktiv, allerdings fehlt es heutzutage an "Bewegungszeit im Alltag". Kaum ein Kind oder Jugendlicher fährt mit dem Rad oder geht zu Fuß zur Schule oder Sport. "Taxi Mama", wie es Brettschneider bezeichnetet, nimmt die Alltagsbewegung ab. Zwei Drittel aller Kinder schafft trotz Sport keine akkumulierte Stunde Bewegung pro Tag mehr. Ausdauertest, Anzahl Rumpfbeugen und Standweitsprung zeigen, dass sich die Fitness der Kinder seit 1975 um 10 Prozent verringert hat.
Brettschneider sieht eine Polarisierung der Gesellschaft. Mediengenuss und sportliche Aktivität sind negativ korreliert. Es gibt keinen Zusammenhang, dass wenig Sport treibt, wer viel Fernsehen schaut. Wer allerdings viel fernsieht, der isst auch mehr. Wobei diejenigen, die viel Sport machen, sich gesund ernähren, und wer wenig Sport treibt, der ernährt sich ungesund.
Deutlicher wird die Polarisierung bei sozialen Zusammenhängen. Der "Informationsnebel auf den Produktetiketten" ist zwar den meisten Menschen nicht mehr entschlüsselbar, genauso wie die Werbung, doch ist zu beobachten, dass Fettleibigkeit und Übergewicht vor allen in sozial schwächeren Milieus und mit niedrigerem Bildungsstand vorkommt. Die Zukunft trennt die Menschen in aktive und inaktive, fitte und nicht fitte - in kreative Mediennutzer und in passive Konsumenten.

Prof. Dr. Klaus Bös, Sportwissenschaftler der Universität Karlsruhe legte noch mehr Fitnessdaten auf. In sechs Minuten Dauerlauf konnten die Kinder früher 1024 Meter zurücklegen - heute sind es nur noch 874 Meter. Er fordert die Erhöhung des wöchentlichen Sportunterrichtes auf 200 Minuten, was in Baden-Württemberg an verschiedenen Schulen auch ausprobiert wird. Zwar nicht ganz wissenschaftlich evident, doch aus Tierversuchen ableitbar, ist die Erhöhung der Synapsen- und Neurosenanzahl durch Bewegung. Er findet den alten Satz "Turnen macht schlau" durchaus aktuell. Aktuell und sehr bedenklich war die Statistik, dass jedes zweite Grundschulkind bereits gesundheitliche Schäden aufweist. Magenschmerzen, Kopfweh und Schlaflosigkeit stehen dabei an erster Stelle. Weiter hinten folgen Nervosität und Übelkeit.

Erstes Plattform - Gespräch
Verbraucherministerin Renate Künast ist schließlich stolz auf die gegründete Plattform, weil mit dieser Vernetzung erstmals alle Beteiligten zusammen gebracht werden. In dieser Form ist das weltweit einmalig und Vertreter aus anderen betroffenen Nationen bei diesem Kongress blicken neugierig auf die ersten Erfahrungen. Dr. Theo Spettmann vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) rückt die Ziele der Plattform auch gleich in die pragmatische Richtung. Letztlich müssen Produkte auch verkaufbar sein. Gefordert ist der "mündige Verbraucher", der am Ladentisch eine Auswahl treffen kann. Er erinnert an die "Trimm Dich" - Aktion in den 1970er Jahren, sieht jedoch in der Plattform einen dem Ursachenbündel angemessenen breiten Lösungsansatz. Die Industrie bietet ausreichend Produktinformationen an, die sich der Verbraucher erschließen kann. Mittlerweile sei die Lebensmittelindustrie "begeistert" dabei. Die Verantwortung beim Verbraucher sieht auch Dr. Andrea Dittrich von der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA): "Was, wie viel und wie oft er isst, liegt in der Hand der Verbraucher." Das die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten ein weiteres Vereinsmitglied ist, begründet ihr Vorsitzender Franz-Josef Möllenberg: Gesundheitskosten sind Lohnnebenkosten. Auf Grund des Außer-Haus-Verzehrs in Betriebskantinen kann die NGG sich um das gesündere Essen im Betrieb kümmern. Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen Sportbundes bemängelt den Mangel an fachlich ausgebildetem Personal in den Grundschulen. Das ist allerdings wegen des niedersächsischen Ausstiegs aus der Kultusministerkonferenz jetzt generell sehr fragwürdig zu koordinieren. Wilfried Wolfgang Steinert vom Bundeselternrat beklagt, dass Eltern von den Schulen nur zu gerne zu Informationsempfängern degradiert werden. Es gibt Gespräche darüber, mit welchen Stiften die Kinder in die Schule kommen müssen, allerdings nicht, was es in der Schulküche gibt. Ernährung und Haushaltswissenschaft müssen bereits in der Grundschule eingeführt werden, denn es gäbe keine angewandtere Mathematik als bei Rezepten Mengen zu wiegen und zu messen. Zum Schluss begrüßt auch Rolf Stuppard als Vorsitzender des IKK-Bundesverbandes für die Arbeitsgemeinschaft der gesetzlichen Krankenkassen die Gründung der "überfälligen" Plattform. Ursachen und Lösungen sind bekannt, es fehle noch der praktische Schritt der Umsetzung. Der Verein ist auch deswegen wohltuend, da er auch eine präventive Aufgabe hat, die im Gesundheitswesen ständig vernachlässigt wird.

Wohin geht die Reise?
Der Gründungskongress stellt den ersten Arbeitstag des Vereins dar, der mit www.ernaehrung-und-bewegung.de auch eine eigene Internetseite hat. Angesichts der fachlichen Kompetenz weist der Verein eine sehr hohe Energiedichte auf, die hier auch erwünscht ist. Wie die durchaus unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen langfristig unter einen Hut zu bringen sind, wird natürlich erst die Zukunft zeigen. Reibung ist durchaus eine Chance für eine Synthese.
Und am Beispiel der Lebensmittelvermarktung hat sich bereits ein erstes Arbeitsergebnis am Nachmittag gezeigt. Es gibt keine Zuweisungen, wer am Übergewicht der Kinder und späteren erwachsenen Schuld ist. Dafür ist die Situation auch zu komplex. Die Lebensmittelindustrie bietet natürlich nur an, was der Verbraucher auch kauft. Die Inhaltsstoffe sind zur Information auf dem Produkt vermerkt. Sie wird allerdings nicht generell etwas im Vorfeld anbieten, was im Regal liegen bleibt: Zucker und fett sind Geschmacksträger. Wirklich zuckerfreie Lebensmittel werden nicht gekauft. Das können sich die immer noch weit verbreiteten kleineren handwerklichen Betriebe marktwirtschaftlich nicht leisten.
Die Werbung sieht sich als Werbung und daher nicht seriös verantwortlich für die verkürzende Darstellung in ihren Anzeigen.
Der Verbraucher als dritter Eckpunkt ist nicht einheitlich, wie er gerne gesehen wird und unterliegt einerseits dem Sozialdruck und der Genusssucht, und nur andererseits sucht er als Vernunftwesen rationell Informationen für eine gesunde Entscheidung an der Ladentheke zusammen. Und an diesem Pfeiler scheiden sich die Geister. Wenn Kinder an lila Kühe, gelbe Enten und daran glauben, dass Windmühlen Wurst herstellen, weil sie das Zeichen einer Wurstfirma sind, dann fällt es schwer an die Vernunft zu appellieren. Das ist eine Form der Wissenslücke, die geschlossen werden muss. Dazu müssen Informationen an die Kindertagesstätten gegeben werden und Ernährungswissenschaftler könnten in Sportvereinen Kurse geben. Wenn der Verbraucher vermehrt gesunde Lebensmittel nachfragt, dann ist die Industrie die letzte, die es ihm verweigert. Man könne sich auch vorstellen, Lebensmittel "lustvoll" anzupreisen, um über das Image den Kunden zu kriegen. So könnten demnächst auch Obst und Gemüse "Flügel verleihen"?
So unterschiedlich die Ansicht über den Verbraucher gewesen ist, so einig war der Arbeitskreis in anderen Dingen: Gesunde und ungesunde Ernährung ist nicht eine Frage der ökologischen oder konventionellen Betriebe. Auch Ökoschokolade macht dick. Es soll auch nicht zwischen Lebens- und Genussmittel unterschieden werden. Schokoriegel sind demnach zusammengesetzte Lebensmittel.

roRo

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