Ernährungsbewegung für Deutschland

Ernährung

Von Pyramiden und Kreisen

> Gestern stellte Verbraucherministerin Renate Künast in ihrer Regierungserklärung deutliche Fakten vorne an: Mit einem Drittel der Gesundheitskosten, rund 70 Milliarden Euro, schlagen ernährungsbedingte Krankheiten zu Buche. ?Die junge Generation wird die erste sein, die vor ihren Eltern stirbt?, zitiert die Ministerin eine britische Studie und beklagt den durch Übergewicht hervorgerufenen Herzinfarkt eines 3-jährigen Mädchens, das 38 Kilogramm gewogen hatte.
Wenn das Leben aus der Balance gerät, wie bei Übergewicht oder Essstörungen, von denen Ess-Brechsucht oder Magersucht die wichtigsten sind, dann gibt es, so Renate Künast, nicht nur einen Grund, mit dem das erklärt werden kann. Da spielen biologische, soziale, psychologische und kulturelle Faktoren gleichermaßen eine Rolle, wie der Lebensstil, die Situation im Privaten, in der Schule und auch im öffentlichen Raum. Das Verbraucherministerium hat in diesem Jahr mit einer nationalen Verzehrserhebung begonnen, die Grundlage für eine regelmäßige Berichterstattung werden soll.

Ernährungspyramiden und ?kreise
Aber mit der Datenlage und den daraus abgeleiteten Empfehlungen ist es nicht so einfach. Die ersten graphischen Ernährungstipps gab es bereits im 19. Jhd. Der in Deutschland zuerst dokumentierte ist aus dem Jahr 1956 bekannt. Prof. Dr. rer. nat Claus Leitzmann beschreibt im UGB Forum die Entwicklung der Ernährungspyramide und vor allem, wie verwirrend diese eigentlichen Helfer sein können (UGB-Forum 3/04, S. 140 ff ? UGB: Unabhängige Gesundheitsberatung e.V.; www.ugb.de). Die erste Darstellung der zu empfehlenden Nahrungsmittel in Pyramidenform kam 1980 aus Schweden und wurde 1992 vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium zur bis heute bekanntesten Form entwickelt. Dort sind sieben Lebensmittelgruppen auf vier Ebenen verteilt, wobei die Basis aus der Nahrung besteht, die am häufigsten verzehrt werden soll: Brot, Cerealien, Reis und Pasta. Jedoch fing damit das Trauma für die Verbraucher an. Prof. Leitzmann beklagt: ?An die 100 Varianten sollen inzwischen existieren. Es gibt internationale, nationale, regionale, ethnische, mediterrane, ernährungsmedizinische, vegetarische, vegane und ?sportliche? Ausführungen.? Je nachdem, wer Lebensmittel für eine Pyramide bewertet. Das Ergebnis ist fatal, so Leitzmann, denn der Verbraucher kann mit den ?vielen, immer schneller erscheinenden und sich teilweise widersprechenden Abwandlungen, nicht mehr Schritt halten. Selbst Ernährungsberater kämen ins Schleudern.

Die Willet-Pyramide
Harvard Prof. W. C. Willet hat nun eine neue Pyramide entwickelt: Rotes Fleisch und fette Milchprodukte als Träger gesättigter Fettsäuren sollen nur selten verzehrt, Pflanzenöl, Fisch, Samen und Nüsse hingegen können praktisch uneingeschränkt zu sich genommen werden. Nach Leitzmann möchte Willet die Fettqualität unabhängig von der Fettmenge verbessert wissen. Willet berücksichtigt in seiner Pyramide auch den glykämischen Index (s. dazu Herd-und-Hof.de vom 14.06.2004). Leitzmann hält dagegen: ?In Deutschland wurden nach dem Krieg Berge von Kartoffeln gegessen, ohne die Diabetesrate zu erhöhen. Im klassischen Kartoffelland Irland gibt es nicht mehr Diabetiker als in Ländern mit Kartoffelmuffeln.? Willet rät ganz nach amerikanischer Tradition in seinen Empfehlungen, Multi-Vitamintabletten einzunehmen. Das ist deutschen Ernährungsexperten ein Gräuel: Überflüssig, wer sich abwechslungsreich ernährt.

Fremdbestimmte oder Selbstbestimmte Ernährung?
Das Willet mit seiner Pyramide die bisherige Standardempfehlung kritisiert hat einen ganz besonderen Hintergrund, den Leitzmann ausführlich beschreibt. Massive Fehlinformationen werden durch die Lebensmittelindustrie verursacht. ?Ihnen liege nicht die Gesundheit der Menschen am Herzen, sondern ihr eigener Profit. Diese vernichtende Kritik hat besonders die Hersteller von Lebensmitteln tierischer Herkunft aufgebracht. Sie sehen ihre Produkte diskriminiert und finden Unterstützung durch Berichte, die gerade den Verzehr von Fleisch- und Milchprodukten als besonders günstig erscheinen lassen. Proteinreiche Diäten wie die Atkins-Diät, die viele tierische Produkte enthalten, unterstützen diesen Trend, weil sie kurzfristig eine Reduktion des Körpergewichtes erleichtern können.? (UGB-Forum, ebenda). Amerikanische Vollkornprodukte müssen übrigens lediglich zu 51 Prozent aus Vollkornmehl bestehen. Daher müssen gerade transatlantische Empfehlungen in bundesdeutsche Sprache übersetzt werden. Bei uns gelten für den gleichen Begriff mindestens 90 Prozent Anteil. Solche Hinweise fehlen meist in Berichten über die neuesten Ernährungstrends aus den USA. Aber auch Renate Künast fordert die Lebensmittelindustrie auf, Lebensmittelwerbung und ?kennzeichnung streng zu reglementieren. Gerade so genannte Kinderlebensmittel enthalten zu viel Fett und Zucker. Die Ministerin hat viele Kampagnen gestartet, um neben Kindern auch die größer werdende Gruppe der Senioren zu informieren. ?Fit Kids?, ?Kinder Leicht ? Besser essen. Mehr bewegen? und ?Fit im Alter? zeigen, dass das Verbraucherministerium durchaus gewillt ist, den Menschen Informationen und Tipps zu geben. Prof. Leitzmann will nun eine ?allgemeine Ernährungspyramide? entwerfen, um den verunsicherten Verbrauchern wieder Sicherheit zu geben. Das alles ist ?Ernährungsbewegung für Deutschland?. Aber müssen wir uns das Denken abnehmen lassen? Eine der wichtigsten Regeln aus der Tierernährung ist, dass nach Leistung gefüttert wird. Wenn wir nicht fortlaufend mehr essen, als wir durch Bewegung und Arbeit verbrennen, balancieren wir uns selber aus: Ernährungsbewegung in Deutschland.

VLE

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