Essensindustrie in Bewegung

Ernährung

Ernährungsindustrie erstmalig mit Gemeinschaftsstand

Die Internationale Grüne Woche ist nicht nur ein Tummelplatz für Gourmets und Schnäppchenjäger, sondern will mit ihrem Fachprogramm die Tradition der ersten Wintertagungen fortführen. Mittlerweile gibt es auch kaum noch Verbände aus der Wertschöpfungskette Essen und Trinken, die dem Messegelände unter dem Funkturm fernbleiben.
So schließt der Gemeinschaftsstand von BLL und BVE in der Halle 1.2b in diesem Jahr eine weitere Lücke. Unter dem Motto „Essen und Bewegen“ präsentieren sich Coca Cola, Krafts Foods und andere Firmen unter dem Dach des Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) und der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE).

Flagge zeigen
Jürgen Abraham, Vorsitzender des BVE, will mit dem ersten gemeinsamen Auftreten „Flagge zeigen“, sagte er gestern Vormittag auf dem Messegelände. Rund 400.000 Besucher werden erwartet und die Firmen wollen ihnen zeigen, dass sie Interesse an Ernährung und Bewegung haben, wobei der Genuss nicht fehlen darf. Vor allem für Kinder gibt es spezielle Bewegungsangebote mit Fußbällen und Rädern sowie Reaktionstests.
Die Markenanalogie „Essen und Bewegen“ zur Plattform Ernährung und Bewegung (peb) ist nicht nur zufällig, denn einige Firmen engagieren sich auch in dieser Plattform. Die Auswahl der Partner orientierte sich nicht nach den Produkten, sagte Prof. Dr. Matthias Horst, Hauptgeschäftsführer des BLL, sondern nach dem Engagement in den Bereichen Ernährungsaufklärung und Sportaktivitäten. Die Ernährungsindustrie sei sich der Verantwortung gegenüber den Übergewichtigen bewusst und reagiere seit längerem mit „bedarfsangepassten Lebensmitteln“, die weniger Fett oder Kalorien aufweisen. „Wir sind tief davon überzeugt“, so Prof. Horst, „dass es darauf ankommt, den gesamten Lebensstil zu verändern.“ Dem Ampelmodell bei der Nährwertkennzeichnung erteilte er erneut eine Absage. Vorgaben von der Politik seien ein falscher und dirigistischer Weg.

Auf dem Neujahrsempfang des BLL am 11. Januar wünschte sich Dr. Theo Spettmann, Präsident des BLL, „Bürokratieabbau statt Gesetzgebungsmonstren“. Damit appellierte er an die EU-Kommission, einfache Nährwertkennzeichnung einzuführen. Unterstützung fand er bei Gastredner Dr. Otmar Bernhard, dem bayrischen Gesundheitsminister: „Der bessere Weg ist ohne Regulierungen“.
Zur aktuellen Vorlage zur Kennzeichnung „ohne Gentechnik“ sagte gestern Prof. Horst: „Wir sehen mit großer Sorge, dass vom Gesetzgeber eine große Verbraucherirreführung durchgesetzt wird.“ Futtermittel sollen das Siegel tragen dürfen, auch wenn für ihre Herstellung Zuatzstoffe Verwendung finden, die von gentechnisch modifizierten Organismen hergestellt wurden.
VLE

Die Ernährungsindustrie fühlt sich in der Defensive. Werden Kartoffelchips um die Hälfte kalorienreduziert, dann sei das kein Signal an den Verbraucher, jetzt doppelt so viel zu essen, so Horst weiter. „Jeder ist für seine Figur selbst verantwortlich“, sagte Jürgen Abraham. Das könne die Ernährungsindustrie den Verbrauchern nicht abnehmen.

Mehr Aktivität
In den letzten Jahrzehnten hat sich auch weniger das Essverhalten als das Bewegungsverhalten geändert, stellte Prof. Dr. Jürgen Buschmann von der Deutschen Sporthochschule Köln fest, der die Zusammenarbeit als Public-Private-Partnership versteht. Er reklamiert, dass vielfach in den Schulen zunächst der Sportunterricht gestrichen werde. Zusätzlich zur Alltagsbewegung sollten die Kinder rund 2.000 Kalorien in der Woche verbrennen. Eine Stunde Fußball verzehre bereits 500 Kalorien.
Ende Februar startet vor der Fußballeuropameisterschaft in Leipzig der Dribbel-Weltrekordversuch, der 100 Tage später zum Eröffnungsspiel in Basel aufgestellt sein soll. Hier arbeitet die Sporthochschule mit dem Chips-Hersteller funny-frish zusammen.

Defizite aufarbeiten
Deutschland habe die meisten Kochshows im Fernsehen und die teuersten Küchen – aber es werde zu wenig gekocht, klagt Abraham. Da sei ein Stück Kultur verloren gegangen und nimmt die Verbraucher in die Pflicht, sich zu informieren und aus dem Angebot das Richtige zu wählen.

IGW 1978

Schocking Übergewicht
Auf der Grünen Woche 1971 gab es im so genannten “Schocking-Center” prominenten Besuch zum Thema Milch. Ein Jahr zuvor war das Thema „Übergewicht der Deutschen“ Gegenstand des Interesses – Dauerbrenner seit 38 Jahren.
Von r.n.l.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz; Bundesernährungsminister Josef Ertl; Altbundespräsident Dr. Lübke und der Vizepräsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft Sicco L. Mansholt - Foto und Text: Messe Berlin

Gesundheit, Bewegung und Ernährung sind nicht vordergründig die Attribute, die Verbraucher mit der Ernährungsindustrie verbinden. Meist können das die alternativen Nichtregierungsorganisationen und Verbraucherschützer auf sich vereinen. Herd-und-Hof.de hat bei Jürgen Abraham nachgefragt, ob mit dem Messeauftritt nicht auch der Skeptizismus der Verbraucher gegenüber der Lebensmittelindustrie aufgearbeitet werden soll?
Es sei kein Skeptizismus beim Verbraucher zu überwinden, entgegnete Abraham. Die Industrie will mit dem Messeauftritt zeigen, dass überall Türen offen stehen. Abraham grenzt die Klientel der Übergewichtigen auch gemäß der KIGGS-Studie auf die Schichten ein, die wenig Einkommen und Bildung haben. Auf der einen Seite stünden die, die auf Fertignahrung zurückgreifen und auf der anderen diejenigen, die kochen.

Roland Krieg

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