Esst mehr (Frucht)Fleisch

Ernährung

Fleischverzehr ist eine Kulturfrage

Auch wenn die Zahl der Vegetarier und Veganer steigt: Die meisten Menschen essen Fleisch. Weil der Mensch es braucht? Oder fühlen sich die Fleischesser in ihrem Essenshabitus von den Vegetariern bedroht? Der erste Ärztekongress „Vegetarische Ernährung und Medizin“ in Berlin bot am 2. Advent die Chance, den Vegetarismus aus mehreren geschichtlichen Perspektiven zu betrachten.

Der erdgeschichtliche Aspekt

Ob der Mensch ein Pflanzen- oder Fleischesser ist, beleuchtet Prof. Dr. Claus Leitzmann, einer der bedeutendsten Ernährungswissenschaftler in Deutschland, ganz pragmatisch: Der Mensch ist ein opportunistischer Omnivore, der energiereiche Nahrung bevorzugt.
Sein Blick zurück auf die Erdgeschichte fällt nach vielen Jahren Bakterien verdauender Bakterien auf den Fadenwurm Caenorhabditis elegans, der sich von Bakterien ernährte, die totes Material abbauten. Sie waren weder Fisch noch Fleisch und schon gar nicht Gemüse. Sorex araneus, die Waldspitzmaus als einer der ersten Säuger vor 150 Millionen Jahren, hat Dr. Leitzmann als ersten Mischköstler ausgemacht. Neben einer Vielfalt pflanzlicher Nahrung reicherten die kleinen Säuger ihren Speisezettel auch mit Insekten an. Das hat sich bis zu den großen Menschenaffen hin nur wenig verändert. Zu 95 Prozent sind Schimpansen, Orang Utans und Gorillas Pflanzenfresser. Aber auch hier spielen Insekten als nicht pflanzliche Nahrung eine Rolle – so wie die regelmäßigen kannibalistischen Exzesse der Schimpansen.
Selbst der Steinzeitmensch wird sich überwiegend pflanzlich ernährt haben, so Dr. Leitzmann. Heute gelten die Neandertaler zwar als „Jäger und Sammler“, aber das ungefährliche Sammeln war wohl häufiger als das gefährliche Jagen. Fehlschlüsse seien auf die Funde von Nahrungsresten zurückzuführen: Knochenreste werden an den Lagerstätten eher konserviert als pflanzliche Speisereste.

Bis auf die reinen Fleischfresser haben alle Menschen und Tiere eine vergleichbare Nährstoffverteilung. Der Homo erectus ist in der Evolution derjenige Hominide, der in seiner Diät einen Wildfleischanteil von 35 Prozent aufweist.
Dadurch wird er aber nicht automatisch zu einem Fleisch-Esser. Dr. Leitzmann hat typische Merkmale zusammen getragen, die den Pflanzenfresser vom Carnivoren unterscheiden: Kleiner Mund und Backentaschen, muskulöse und raue Zunge, ein beweglicher Unterkiefer, der mahlen kann, Speichel zur Vorverdauung und einen langen Darmtrakt. Der von der Giraffe ist 80 Meter lang, um auch noch den letzten Nährstoff aus den Pflanzen herauszuholen. Das alles macht den Menschen aber noch nicht zu einem reinen Pflanzenfresser, denn im Dünndarm sind Häm-Rezeptoren, die das Häm-Eisen aufnehmen, was reine Pflanzenfresser gar nicht brauchen.
Außerdem hat, so Leitzmann weiter, der Fleischverzehr in der Evolution seinen Anteil an der Gehirnentwicklung gehabt. Jod Zink, Eicosapetaensäure (EPA) und Docosa-hexaensäure (DHA) haben die Entwicklung vorangetrieben. Seit 100.000 Jahren allerdings entwickelt sich das Gehirn nicht mehr weiter und die so oft bei Fisch zitierten Omega-Fettsäuren sind auch als Vorläufer in Walnüssen und Leinöl vorhanden. Gründe für den Fleischverzehr gibt es nicht mehr.
Außerdem, so klagt der Ernährungswissenschaftler, leben die Menschen heute in einer zivilisierten Welt mit vielen Bequemlichkeiten. Dieser Ernährungsstil verlangt nach anderen Maßstäben als der oftmals bemühte Vergleich zu den Steinzeitmenschen. Die Qualität des Proteins entscheidet und Kohlenhydrate aus pflanzlicher Nahrung sind für den meist unbeweglicheren Lebensstil vollkommen ausreichend.

Die kulturelle Evolution

Prof. Dr. Martin Mittwede, Philosoph und Religionswissenschaftler, gab einen Einblick in die kulturelle Entwicklung. Das „Mutterland des Vegetarismus“ ist Indien, doch die vedische Religion kannte durchaus Tieropfer. Erst mit der Entwicklung einer Philosophie in der Gesellschaft wurde das eigene Tun hinterfragt. Hinduismus, Jainismus und Buddhismus begannen mit einem temporären Fleischverzicht die religiöse Reinigung der Seele. Das war durchaus widersprüchlich. Die „Gesetze des Manu“ im Hinduismus lavierten noch um den Begriff „vegetarisch“ herum, so Dr. Mittwede. Verboten war der Verzehr von Tieren nur, wenn sie eigens für diesen Zweck getötet werden mussten.
Erst das Karma mit dem ewigen Rad der Wiedergeburt belegte Fleisch mit einem Tabu. Ahimsa, das „Nichtverletzen“, führte dann nicht nur zur vegetarischen Ernährung, sondern stellte Fleischer auf die gleiche Stufe wie Waffen- und Menschenhändler.

Die Evolution des Geistes

Den Sprung in die Moderne wagte die amerikanische Psychologin Prof. Dr. Melanie Joy. Ihren persönlichen Wendepunkt zum Vegetarismus erlebte sie, als sie wegen eines mit Campylobacter verseuchten Hamburgers ins Krankenhaus musste. Sie entdeckte den Zwiespalt in der Haltung zu Tieren. Die einen werden als Haustiere gekuschelt, die andern werden in unwürdigen Verhältnissen gehalten und getötet – was sie mit einem drastischen Film einer Tierschutzorganisation zu untermalen wusste.
Die Gesellschaft erwecke den unsichtbaren Glauben, dass die Menschen Fleisch essen müssten und schaffen eine Umwelt, die den Fleischverzehr verharmlosen. Bilder von lachenden Schweinen, die zum Einkauf in die Metzgerei einladen, überdecken die Realität der Nutztiere. Die Menschen haben nach Dr. Joy die freie Nahrungswahl, aber der „Carnivorismus“ lehrt den Menschen, wie sie sich nicht fühlen sollen. 65 Milliarden Tiere werden jährlich zu Nahrungszwecken geschlachtet, 124.000 in jeder Minute. Würden sich die Menschen dessen bewusst, wären sie Vegetarier. Die Menschen werden sich dessen aber nicht bewusst, weil die Tierhaltung abseits des Lebensalltags stattfindet. Noch nicht einmal einen Bruchteil der geschlachteten Tiere begegnet den Menschen.
Es ist das „räumliche beiseite packen“, was den Menschen die Wertschöpfungskette Fleisch nur am vergnüglichen Ende des Tellers oder Grills teilhaben lässt. Aus dem gleichen unbewussten Bewusstsein entspringen Sklaverei, die Benachteiligung von Frauen und Brutalitäten gegen anderen Menschen. Kognitiv helfen Identifizierung des einzelnen Tieres und emotional die Empathie zu den Lebewesen, die Bewusstseinslücke zu seinen Mitgeschöpfen zu schließen.

Lesestoff:

www.vegmed.org

Roland Krieg

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