Gesund aufwachsen

Ernährung

peb-Konferenz veröffentlicht „Sieben Berliner Thesen“

In Deutschland sind rund 15 Prozent aller 3- bis 17jährigen übergewichtig, jeder zweite ist sogar stark übergewichtig. Das sind etwa zwei Millionen Kinder. Nahrungsüberfluss und zu wenig Bewegung sind neben einer erblichen Veranlagung dafür verantwortlich, schreibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Die Plattform Ernährung und Bewegung (peb) hat am Montag in Berlin auf ihrem Jahreskongress „Sieben Berliner Thesen zur Förderung gesunden Aufwachsens“ verabschiedet. Die Begründung liefert peb-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Ulrike Ungerer-Röhrich: Es gebe Projekte ohne Ende, aber wir können nicht sagen, warum sie nicht für alle Kinder funktionieren. Der Kongress will mit seinen Arbeitsgruppen die Bedingungen für eine flächendeckende Prävention formulieren. Einen „Highway to Health“.

Der Weg ist aber mehr eine komplizierte Kreuzung, weil es genetische Ursachen gibt, soziale Vorbedingungen für die Lebenswelt, Verhalten in einem sozialen Kontext mehr oder weniger auf gesundheitliche Risiken anzusprechen, sowie der Wandel der Arbeit hin zu einer sitzenden Tätigkeit und Lebensmittel, die verführen wollen. Daher gibt es viele Projekte und keinen Königsweg. Eher eine Königsplattform, die aber noch lange nicht ausformuliert ist.

Politik

Für Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Gesamtparitätischen Wohlfahrtsverbandes, ist Gesundheit in der Ernährung nicht nur eine Frage der Bilanz zwischen diätetischem Inputs auf dem Teller und dem energetischen Output in Form von Sport. Gesundheit sei klar eine Frage der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Wer bei den Punkten Ausbildung, Stellung im Beruf oder Einkommen der Gesellschaft hinterherhinke, lebe als Mann 14 Jahre und als Frau zehn Jahre weniger als gut situierte Mitmenschen. In der Kindheit werden die Fundamente für eine gesunde  Entwicklung gelegt. Übergewicht und Adipositas sind im allgemein schlechteren Gesundheitszustand nur Bausteine, die durch peb-Projekte nur zum Teil ausgeglichen werden können, so Rosenbrock.

Gefragt sei die Politik, die in Deutschland erst 2015 mit einem Präventionsgesetz [1] reagierte. Das ist zu wenig. Rosenbrock forderte eine neue Strategie der öffentlichen Gesundheitspolitik, die Gesundheit in allen Ressorts berücksichtigt. So wie die Weltgesundheitsorganisation WHO es einfordert.

Seine Skepsis gegenüber der Politik auf der Komplexheit der Ursachen. Die Prävention will die Menschen in ihren individuellen Lebenswelten abholen. Diese werden „settings“ genannt. Die sind jedoch nicht steuerbar und können maximal „iiritiert“ werden, um dann zuschauen, in welche neue Richtung sie sich bewegen. Die Lebenswelten sind Abbildungen aus den Vorstellungen der Menschen heraus. Die Politik hingegen bleibe überwiegend auf der Modellprojekt-Stufe stehen.

Prävention müsse die Menschen von Beginn hin bis zum Start in das erwachsenenleben begleiten. Danach, so fordert es auch das Präventionsgesetz, höre das Informationsangebot nicht auf, sondern gehe bis in die Arbeitswelt hinein weiter.   Rosenbrock ist keine vollständige Präventionskette für Kinder und Jugendliche bekannt. Mehr als 90 Kommunen arbeiten allerdings daran. Die Stadt Dormagen gilt als Leuchtturmprojekt und hat eine der vollständigsten aufgebaut [2].

Genetik

Übergewicht und Diabetes sind zwei Epidemien, die sich rund um den Globus ausbreiten. In Kanada beispielsweise lebt und arbeitet Prof. Dr. Dr. Arya Sharma. Er lehrt an der University of Alberta und kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass Prävention bei Kindern schon zu spät sei. Umfangreiche Forschungen haben gezeigt, dass die Physiologie des Menschen allen Präventionsstrategien eine lange Nase zeigt. Auf Diäten reagiert der Körper mit sinkendem Leptin- und  steigendem Ghrelin-Spiegel. Ghrelin ist das Hormon, das den Appetit anregt. Prof. Sharma beschreibt die genetische Evolution des sinnvollen Prozesses, der dem Menschen das Überleben in der Vorindustriellen Zeit gesichert hat. Bei Diäten und sportlicher Aktivität, vergleichbar der Zeit fehlender Nahrung und der Suche nach Nahrung schaltet der Körper in einen Sparmodus um. Wozu er vorher 200 Kilokalorien verbraucht hat, kommt er nach im Sparmodus mit effizienten 100 kcal aus.

Die weltweit populäre Sendung „The Biggest Looser“ hat nach Analysen der Teilnehmer ein Jahr später gezeigt, dass die meisten wieder genauso viel wiegen wie zuvor. Auch, wenn sie weniger aßen und weiter Sport trieben. Der Metabolismus hat sich verlangsamt. Prof. Sharma vergleicht den Effekt mit der Körpertemperatur. Der Körper stabilisiert seine Temperatur bei 37,4 Grad Celsius – egal, ob das offene Fenster kalte Luft hereinlässt oder der Mensch in der Sauna sitzt. Der Körper verteidigt Temperatur. So regelt die Physiologie des Menschen auch das Körpergewicht. Der Körper verteidigt bis zuletzt seine Fettpolster, die ihm das Überleben sichern. Dieser Mechanismus wird nicht über Knieschmerzen oder hohem Zuckergehalt im Blut begrenzt. Viel hilft viel lautet die genetische Programmierung der menschlichen Evolution. Der Körper setzt die Stellschrauben immer weiter nach oben und fängt beim Säugling mit drei Kilo an. Mit zunehmendem Alter wird auch das gewünschte Körpergewicht nach oben reguliert – allerdings in Form einer Einbahnstraße. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Jedes neu angelegte Reservepaket wird verteidigt.

Dieser Mechanismus wird epigenetisch gesteuert. Kurzfristig hat sich der Körper auch immer wieder auf neue Umwelten einstellen müssen. Diese epigenetische Umprogrammierung findet beim Fötus durch die neuen Umwelterfahrungen der Mutter statt. Versuche haben das genauso gezeigt, wie die dann vorgenommene Weitervererbung an die nächste Enkelgeneration. Daher haben sich Übergewicht und Diabetes in den letzten 50 Jahren so entwickelt und ausgebreitet. Die Nahrung um uns herum hat sich verändert, die Esskultur mit Fast Food hat sich verändert und der sitzende Lebensstil setzt sich durch.

Als Prävention kann nach Prof. Sharma nur die Beeinflussung der Lebenswelt der Mutter gelten. Ist das Kind geboren, rennen alle Gesundheitsprojekte der genetischen Vorprogrammierung bereits hinterher [3].

Was aussichtslos klingt, kann nur heißen: Wer sich für eine Körpergewichtreduzierung entschieden hat, egal ob von 150 auf 100 kg, von 100 auf 80 kg oder von 75 auf 70 kg: Wer einmal den Ausgangsgewicht erreicht hat, der muss für den Rest seines Lebens dafür kämpfen, das neue Gewicht gegen den biochemischen Wunsch des Körpers verteidigen. Der muss tatsächlich einen Lebenswandel umsetzen: Einmal Sport, immer Sport. Einmal Salat, immer Salat.

Hilfreich wäre es, wenn Adipositas wie in Kanada  als Krankheit eingestuft würde. Bei Diabetes hilft zur Regulierung eine dauerhafte medikamentöse Einstellung. Gegen Übergewicht ist der Instrumentenkasten kleiner, weil Ärzte und Politik es leicht haben, die „Schuld“ auf die Eigenverantwortung zu legen.

Lesestoff:

www.pebonline.de

[1] http://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/praeventionsgesetz.html

[2] https://dormagen.de/kinder-jugend-familie/netzwerk-fuer-familien/

[3] Dr. Sharma hat einen Blog eingerichtet, in dem er auch mit sich diskutieren lässt http://www.drsharma.ca/

Interview mit Dr. Angela Kohl vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde zum Thema Prävention und Verantwortung der Industrie: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/aufklaerung-statt-werbeverbote.html

Vorschau auf die 52. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG): https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/das-adipoese-umfeld-aendern.html

Weitere:

https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/der-ewige-kampf-um-die-gesundheit.html

https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/chefsache-schulverpflegung.html

Roland Krieg

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