Gesunde Ernährung: Hartz IV reicht nicht

Ernährung

„Gesundheitsland – Kinderland – armes Land!?“

Ist jeder dritte Jugendliche oder jeder fünfte Schulanfänger übergewichtig? Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS hat die Schlagzeilen ins rechte Licht gerückt. Generell stimmt das nicht – aber für bestimmte Risikogruppen. Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus und Kinder mit Migrationshintergrund verzeichnen „hohe Prävalenz“. Dabei geht es weniger um ethnische Ursachen, denn um gleiche sozio-ökonomische Vorbedingungen, wie elterliches Übergewicht, wenig Schlaf, wenig körperliche Aktivität, lange Zeit vor dem Fernseher und Computer verbringen sowie eine kalorienreiche Ernährung.

Adipöses Umfeld
Den Kindern wird es aber auch nicht leicht gemacht, meint Prof. Dr. Helmut Heseker, Vize-Präsident der deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) , auf der Tagung der Sektion Mecklenburg-Vorpommern vergangenen Freitag in Schwerin. Zum adipogenen Umfeld zählt Dr. Heseker, dass nachmittags die Sportplätze der Schulen mehrheitlich zu sind, Kinder zur Einschulung bereits einen Fernseher geschenkt bekommen und energiedichte Lebensmittel, die am aggressivsten und am teuersten beworbenen werden. Die enge Verknüpfung zwischen Sport und ungesunden Lebensmitteln im Sponsorenbereich „irritiert mich schon“ und plädiert für eine Trennung zwischen Schule und Sponsoring.
Eine Umkehrung des Essverhaltens werde zudem durch Verunsicherung der Lobbyisten durch widersprüchliche Einzelstudien erschwert – und durch Prominentenwerbung: So habe die Werbung mit Thomas Gottschalk den Verzehr von Gummibärchen von zwei auf 3,7 kg pro Kopf und Jahr beinahe verdoppelt.

Die Anzahl der einkommensschwachen Familien in Deutschland ist höher als vielfach angenommen und die Armutsquote liegt bei 12,7 Prozent, schreiben Carina Walter, Linda Walter und Ingrid-Ute Leonhäuser in einer regionalen Studie über sozio-ökonomische Unterschiede. 170 Kinder einer bayrischen Grundschule wurden auf ihre Ernährung und ihren sozio-ökonomischen Status (SES) hin untersucht. Auch hier zeigte sich, dass Kinder mit niedrigem SES ein unausgewogenes und suboptimales ernährungs- und Bewegungsverhalten aufwiesen und einer stärkeren Unterstützung durch zielgruppenspezifische Ernährungsbildungsprogramme bedürfen.
Q: Walter et al., Ernährung: Wissenschaft und Praxis, Band 2, Heft 2, 2008, S. 58-67

Hartz IV reicht nicht
Vor zehn Jahren gab es noch keine Armutsberichte in Deutschland. Der aktuellste zeigt erschreckende Zahlen, so Diplom Oecotrophologin Jutta Kamensky von der Universität Ulm. 1,8 Millionen Kinder leben in Deutschland von Sozialgeld. Das sind 14,2 Prozent aller Kinder. Am schlechtesten kommt Mecklenburg-Vorpommern weg: Dort wächst jedes dritte Kind in Armut auf. Das bedeutet neben einem geringen Einkommen eine unzureichende materielle Grundversorgung mit Wohnung, Essen und Kleidung und unzureichender Förderung der kognitiven und sprachlichen sowie kulturellen Kompetenzen. Gesundheitlich weisen die Kinder erhöhte Blutfettwerte und Übergewicht auf und haben generell einen schlechteren Ernährungsstatus. Das resultiert, so Robert Schlack der für das Robert-Koch-Institut an der KiGGS mitgearbeitet hat, „in verschlechterte Zukunftschancen.“
Doch selbst, wenn die Eltern wollten, könnten die Empfänger von Hartz IV sich keine ausgewogene und vollwertige Ernährung leisten. Prof. Dr. Jörg Meier, Präsident der DGE-MV, hat das an der Hochschule Neubrandenburg in einem Forschungsprojekt einmal ganz genau ermittelt und die ersten Ergebnisse erstmals in der Öffentlichkeit präsentiert. Prof. Meier hat die Studien des Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE) aus dem letzten Jahr dergestalt ergänzt, dass für Frühstück und Abendessen jeweils drei gängige Praxismenüs zusammengestellt wurden. So gibt es morgens zum Beispiel ein Müsli, belegtes Knäckebrot und Orangensaft oder ein belegtes Roggenbrötchen mit Fruchtjoghurt und einem ACE-Getränk. Abends gibt es zum Beispiel belegtes Brot, Grapefruit und einen Radieschenquark.
Für die Mittagsvariante gibt es 28 verschiedene Mahlzeiten, so dass sich ein Menü nur alle vier Wochen wiederholen muss. Zum Beispiel: Chili con carne mit Reis, Rohkostsalat und Möhren oder Heilbutt mit gemischtem Gemüse, Kroketten und Fruchtjoghurt. Die Speisepläne können täglich neu zusammen gesetzt werden und entsprechen den allgemeinen Ernährungsempfehlungen bei üblichem Kalorienverbrauch und ausgewogenem Obst- und Gemüseverzehr. Die Mahlzeiten sind so eingerichtet, dass in einer Woche auch mal teurerer Fisch und Fleisch verzehrt werden können. Ziel ist, die Nährwertzusammensetzung der Mahlzeiten bei reduzierten Lebensmittelkosten zu gewährleisten.
Dazu wurden gemäß des Mikrozensus vier Haushalte zusammen gestellt: Alleinerziehend mit einem Kind, eine schwangere Frau, ein Ein-Personen-Haushalt und eine Familie mit zwei Kindern. Eingekauft wurde in überregionalen Discountern und Supermärkten rund um Neubrandenburg.
Zur Verfügung stehen beim Regelsatz des ALG II (Harz IV) 347 Euro, bei denen 128,39 Euro für Nahrung, Getränke und Genussmittel budgetiert sind. Prof. Meier gab diesen Haushaltsanteil ausschließlich für Lebensmittel aus.
Nur bei den Schwangeren und der Alleinerziehenden Person reichte das Geld, umgerechnet 4,28 Euro, für die Mahlzeitenmodelle aus. Sofern das Kind nicht älter als vier Jahre ist. Bei den anderen beiden Haushalten reicht das Geld nicht. Der Alleinerziehende kommt auf ein tägliches Minus von 0,19 Euro, die Familie mit zwei Kindern auf 2,82 Euro. Minus. Jeden Tag.

Die Schule erreicht alle
Die Budgets sind von Prof. Meier konservativ berechnet. Die Erhebung fand Ende 2007 statt und hat die aktuellen Preissteigerungen noch gar nicht berücksichtigt. Auch die Beschaffungs- und Zubereitungskosten sowie die Packungsgröße wurden nicht berechnet. Zwischenmahlzeiten und ein Nachschlag zu den 180 Gramm Reis in den Mahlzeiten stehen nicht auf dem Programm. So reichen die vom Staat vergebenen Mittel nicht für alle Bezugsgruppen für eine ausgewogene Ernährung aus und vor allem bei Kindern und Jugendlichen sind die Bedarfssätze defizitär, so das Fazit. Für die betroffenen Personen sind Mangel- und Fehlernährung die Folge.
Dabei ist der Tisch reichlich gedeckt. Die DGE hat mittlerweile Qualitätsstandards für die Betriebsverpflegung und Schulverpflegung herausgebracht, Ende 2008 sollen die für Kitas folgen. Die Plattform Ernährung und Bewegung bringt immer wieder Einzelbeispiele hervor, die regional die Initiative ergreifen.
Doch für einen gesellschaftlichen Auftrag reicht es nicht. Ein einheitliches Ernährungsfach ist derzeit aussichtslos. Die Länder streiten sich über den Anteil der Schulverpflegung und Berlin will seine Lehrer von den unteren an die höheren Schulen verlegen.

Berlin:
11. Juni: An den Horten zahlen die Eltern in Berlin 23 Euro für das Schulessen, der Rest kommt vom Senat. An den Ganztagsgrundschulen zahlen die Eltern nichts für die Betreuung, müssen dafür den vollen Satz in Höhe von 40 Euro für das Mittagessen bezahlen. Weil das nicht alle zahlen wollen, bleiben viele Kinder dem Essen fern. Der Senat hat die Ausweitung der Subventionierung beschlossen.
14. Juni: Der SPD-Verband Marzahn-Hellersdorf hat für den am 21. Juni stattfindenden Landesparteitag den Antrag eingereicht, an allen Schulen und Kitas in Berlin ein kostenfreies Mittagessen einzuführen. Die Kosten für insgesamt 435.000 Schüler werden mit 200 Millionen Euro angegeben. Kinderarmut ohne warme Mahlzeit soll es dann nicht mehr geben.
roRo

Nordrhein-Westfalen, so Dr. Heseker zu Herd-und-Hof.de hat vor zwei Wochen einen parteiübergreifenden Beschluss gefasst, in einem zweiten Anlauf das „verstaubte Fach“ Hauswirtschaft zum Fach Ernährung und Verbraucherbildung weiter zu entwickeln. Einen bundesweiten Ansatz hält er trotz Erwartungen aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium für unrealistisch. Das Thema Schule stoße auf regionale Sensibilitäten. Hier könne die DGE eher Gemeinsamkeiten entwickeln. In den USA bekommen 40 Prozent aller Kinder das Essen komplett und noch weitere 20 Prozent teilfinanziert. Angesichts dieser Zahlen hätte es Dr. Heseker für besser gehalten, mit der Erhöhung des Kindergeldes einen Fonds für das Schulessen zu finanzieren. Immerhin müssten manche Mensen montags 30 Kilo Nudeln mehr für die aus dem Wochenende „ausgehungerten Kinder“ bestellen. Das Ziel hält Prof. Meier für die DGE fest: Schulessen muss kostenfrei sein.

Teil II: Selbstwirksamkeit

Roland Krieg

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