Habe ich das Recht, dick zu sein?

Ernährung

„Essen x Bewegung = Gesundheit für alle“

Zwei mal die Woche Seefisch, fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, wenig Fleisch und wenig verarbeitete Produkte. Wer sich so ernährt, sich viel bewegt und damit Energiezufuhr und Energieverbrauch in Balance hält – für den ist Übergewicht oder Adipositas kein Thema. Dr. Gerd Müller, Parlamentarischer Staatsekretär aus dem Bundesministerium für Ernährung. Landwirtschaft und Verbraucherschutz bringt es auf die Formel: „Essen x Bewegung = Gesundheit für alle“. Doch, so sagte er auch auf dem „Forum Bioethik“, „die Ausgangslage ist dramatisch“: 60 Prozent der Erwachsenen und 16 Prozent der Kinder sind übergewichtig und adipös. Der Deutsche Ethikrat diskutierte in Berlin über die Verantwortung für eine ausgewogene Ernährung. Hat sie der Einzelne oder hat sie der Staat? Darf der Staat mir verbieten, dick sein zu wollen?

Ethikrat

Informationen reichen nicht
Derzeit tobt der Streit über die richtige Nährwertkennzeichnung, Verbrauchern Informationen an die Hand zu geben, die Ihnen helfen, sich richtig und gesund zu ernähren.
Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski blickte einmal zurück. Noch bis in die 1920er Jahre hinein gab es auch in Berlin rachitische Kinder. Die „englische Krankheit“ entstand durch Vitamin D-Mangel, als das Vitamin noch nicht bekannt war und verbreitete sich überwiegend in armen Bevölkerungsschichten. In den 1950er und 60er Jahren versuchte man mit Lebertran den Mangel zu beseitigen – und scheint damit Erfolg gehabt zu haben. Doch die Analysen aus der Nationalen Verzehrsstudie zeigen, dass selbst heute keine Altersgruppe die empfohlenen Vitamin D-Richtwerte erreicht. Bei der Versorgung mit Folsäure ist es ähnlich, obwohl gerade die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) immer wieder auf das Thema des „offenen Rückens“ bei Neugeborenen hinweist.
In Sachsen hat eine Studie ans Tageslicht gebracht, dass 45 Prozent der Schüler Vitamin D nicht als Vitamin erkannten und 65 Prozent nicht wussten, woher sie sich mit dem fettlöslichen Vitamin versorgen könnten – trotz Ernährungsunterricht. „Das Ernährungswissen“, so Dr. Biesalski, „ist oft nicht abrufbar.“ Soll der Staat diese Lücke schließen?
Die Aufgabe der Fachgesellschaften sei die Definition der gesunden Ernährung, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht, aber die Versorgung mit Informationen sei eine staatliche Aufgabe, definiert der Mediziner der Universität Hohenheim.

Label-Forschung
Das European Food Information Council (EUFIC) hat mit Hilfe von EU-Geldern ein dreijähriges Forschungsprogramm gestartet, welches den aktuellen Wissensstand der Nährwertkennzeichnung und Flabel Logodas Verbraucherverhalten zusammen fassen will und Forschern, der Industrie und Politikern Richtlinien zur Verfügung stellen möchte. Das Projekt trägt den Namen Flabel: Food Labelling to Advance Better Education for Life.
Hintergrund ist die Erkenntnis, dass immer mehr Nährwertinformationen Verwendung finden, diese aber sehr uneinheitlich sind. Die tatsächlichen Effekte auf das Einkaufsverhalten sind zudem nicht bekannt. Verschiedene Label könnten unterschiedliche Verbraucherreaktionen hervorrufen. Das „Flabel“ genannte Forschungsprojekt will jetzt herausfinden, welche Label welche Änderung des Ernährungsverhalten hervorrufen. Details: www.flabels.org

Eine Frage der Sittenlehre
Ethik! Der vor über einem Jahr gegründete Deutsche Ethikrat möchte sich mit der Sittenlehre (griechisch „Ethik“) gesellschaftsrelevant auseinander setzen. Ethik entspricht dabei der katholischen Moraltheologie oder, im philosophischen Sinne seit den Griechen Plato und Aristoteles, der praktischen Philosophie des menschlichen Handelns hinsichtlich sittlicher Forderungen. Reicht also beim Thema Ernährung die Verantwortung des Staates bis auf den Teller, fragte Prof. Dr. jur. Edzard Schmidt-Jortzig vom Ethikrat?
Beim Einkaufen und beim Essen entscheide sich der Mensch in seinem Leben rund 100.000 Mal, so Dr. Müller. Und dabei ist jeder Mensch bei jeder Entscheidung für sich allein verantwortlich.
Allerdings muss die Frage erlaubt sein, ob im Rahmen der individuellen Freiheit, sich ein Mensch auch dafür entscheiden darf, dick sein zu wollen? Fehlernährungen belasten das von allen getragene Gesundheitssystem mit bis zu 70 Milliarden Euro jährlich. Der Staat, so folgert Dr. Müller, hat daher im Interesse der Volksgesundheit und aus ökonomischen Überlegungen ein übergeordnetes Interesse. Zusammen mit dem Nationalen Aktionsplan Ernährung reiche allerdings das Bereitstellen der Informationen aus – „lesen, verstehen und anwenden, muss es jeder Einzelne“, so Dr. Müller.

Chancengleichheit als ethische Prämisse
Doch dabei gibt es ein Ungleichgewicht. Die Verzehrsstudie und KiGGS haben die Zielgruppen herausgearbeitet, bei denen das Wissen um eine gesunde Ernährung nicht ausreichend vorhanden ist: Die bildungsfernen, ärmeren Bevölkerungsschichten und Migranten. Dr. Biesalski benennt auch noch die Senioren, die gerade in Pflegeheimen zu oft unter Fehlernährung leiden.
Kultköchin Sarah Wiener sieht auf der einen Seite die „Hyperbiokinder“, die gut informiert eine gesunde Ernährung genießen, und auf der anderen Seite die Menschen, die sich „beschissen“ ernähren. Dass das staatliche Budget für Hartz IV nicht für eine ausgewogene Ernährung ausreicht, belegte erneut in diesem Jahr Prof. Dr. Jörg Meier, Präsident der DGE in Mecklenburg-Vorpommern, in seiner Studie. Dr. Biesalski fügte hinzu: Je mehr Fett und Zucker Lebensmittel beinhalten, desto billiger sind sie. Je weniger Geld im Portemonnaie ist, desto mehr dieser Lebensmittel kommen auf den Tisch.
Was der Ethikrat am Ende einer tiefergehenden Analyse mit der Diskussion anfängt ist noch nicht klar. Ein Mitglied fürchtete, dass vom Ethikrat eine Stellungnahme zur gesunden Ernährung erwartet werde, die dann in eine Empfehlung an die Bevölkerung und den Staat münde. Doch zeige die Raucherdiskussion, in welchem Desaster das enden könnte.
Zumindest hat der Abend in Berlin gezeigt, wo der Staat mehr tun muss: Arme Eltern haben arme Kinder, die finanzielle Ausstattung der Schulen ist viel zu gering und das Auszugleichen, so Dr. Biesalski, ist Aufgabe des Staates. Auch wenn die Menschen für das Umsetzen der Informationen für sich selbstverantwortlich bleiben, so muss er für die gleichen Chancen sorgen, dass jeder Zugang zu den Informationen erhält und sich die gesunde Ernährung auch leisten kann.

Ethik nicht zur Kostenfrage machen
Mittlerweile findet fast bundesweit die Bio-Brotboxenaktion statt. In diesem Jahr stand sie im Fokus der Corporate Social Responsibility. Das Resümee war klar: CSR soll dem Staat nicht als Alibi dienen, sich aus seiner Verantwortung zu stehlen.
Das machte auch Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel e.V. klar: „Der Staat muss für die Grundversorgung da sein, wir sind nur eine Zusatzversorgung.“ Die Tafel versorgt derzeit rund 120.000 Menschen in Berlin, von denen etwa ein Drittel Kinder sind. Ohne grundlegende Basisarbeit haben es die Mitarbeiter der Tafel schwer. Auch die Bedürftigen wollen Convenience, schnell und einfach solle das Menü sein. Dem abzuhelfen, bietet die Tafel mittlerweile Kochkurse an, damit die Teilnehmer wieder den Geschmacksweg zurück zu unverarbeiteten Produkten zu finden. Die drei Kinderrestaurants stehen allen Kinder offen, damit die Bedürftigen nicht stigmatisiert werden.
Allerdings landete die Diskussion schnell wieder en Themen der Finanzierung und des Föderalismus. Dr. Müller betonte erneut, dass er sich für ein einheitliches Fach der Ernährungslehre und Verbraucherbildung einsetzt, was jedoch an den eigenen Vorstellungen der Bundesländer scheitere. „Wir brauchen das Fach verpflichtend“, so Müller. So wird Ethik in der gesunden Ernährung aber eher eine Kostenfrage und Spielball des Länderegoismus.

Sarah WienerGanzheitlich denken
Am ehesten kommt Sarah Wiener der Lösung. Kochen und Produktauswahl haben direkte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die Böden und das Klima. „Ernährung ist daher sehr politisch und kann keine Privatsache mehr sein“, sagte sie. Die Beispiele von funktionierenden Mensen spiegelten nicht die breite Wirklichkeit wieder und gehen hauptsächlich auf das persönliche Engagement von Lehrern zurück. Wenn sich Kinder für einen Euro ganze Tortenböden als Ersatz für Frühstück und Mittagessen einverleiben, dann fehle vor allem die Wertschätzung für die Lebensmittel, klagte Wiener. Diese wolle sie mit ihrer Stiftung über die Lehrerausbildung wieder in die Schule tragen.

Nicht nur selbstbestimmt
Zuviel Fett im Körpergewebe kann zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen wie Diabetes oder Bluthochdruck führen. Forscher vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen und den National Institutes of Health im amerikanischen Bethesda, haben jetzt einen Proteinkomplex entdeckt, der beim Abbau des Körperfetts eine entscheidende Rolle zu spielen scheint.
Lebewesen sichern ihr Überleben unter anderem dadurch, dass sie in Zeiten des Nahrungsüberschusses kontrolliert Fett speichern. In kleinen Lipidtröpfchen wird dieses in der Zelle zwischengespeichert und kann in Hungerzeiten wieder mobilisiert werden. Ist die Regulation von Fettaufbau und Fettabbau gestört, sind krankhaftes Übergewicht und Fettleibigkeit die Folge. Doch trotz vergleichbaren Lebensstils kann die Gewichtszunahme von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Studien weisen auf eine genetische Präposition hin. Nicht alle Gene, die an dem Zusammenspiel mitwirken sind bekannt
Es gibt offensichtlich keine dicken oder dünnen Taufliegen, doch haben die Wissenschaftler bei Drosophila herausgefunden, dass bei „fetteren“ Artgenossen der Körperfettgehalt 15mal höher sein kann, als bei den mageren Exemplaren. Fehlt ein ganz bestimmter Proteinkomplex, dann wird der Fettabbau und die Verbrennung gestoppt.
Beller M, Sztalryd C, Jäckle H et al. (2008) COPI Is a Regulator of Lipid Homeostasis. PloS Biol 6(11): e292 doi:10.1371/journal.pbio.0060292

Und das erst beginnt, die Frage zu beantworten, ob jeder das Recht hat, dick sein zu dürfen – oder ob der Staat das „verbieten“ kann.
Wie bei der Klimadebatte wird sich die Diskussion der ausgewogenen Ernährung angesichts der ungleich verteilten Ressourcennutzung auch der spirituellen Ebene widmen müssen. Neun Milliarden Menschen können die Erde nicht mit Fast Food ernähren – aber 300 Kilogramm Getreide wäre für die meisten zu spartanisch. Das Kloster Münsterschwarzach hat es bei der Umstellung auf erneuerbare Energien vorgemacht: Dem Heiligen Benediktus war die Erhaltung der Lebensgrundlage ein wichtiges Ziel. Dem folgt der Weg der Energieversorgung. Mit knapper werdenden Ressourcen angesichts steigender Inanspruchnahme steigt die Kostbarkeit der einzelnen Ressource. Wenn also alle Herstellungs- und Folgekosten den Fleischpreis bilden würden, wäre dieser Konsum geringer – die Wertschätzung höher. Dann darf jeder auf individueller Ebene immer noch entscheiden, dick sein zu wollen, würde sich jedoch bei selbst zu tragenden Folgekosten dieses Ziel freiwillig und eigenverantwortlich ein zweites Mal überdenken.

Lesestoff:
www.ethikrat.org

Roland Krieg; Fotos: roRo; EUFIC

Zurück