Internetportal für Allergiker
Ernährung
Allergiekonferenz in Berlin
Verkneifen wollte sich Landwirtschaftsminister Horst Seehofer den Hinweis nicht: Die Öffentlichkeit diskutiert vermeintliche Gesundheitsgefahren beim Gammelfleisch heftiger als wirkliche Gefahren durch die Vogelgrippe. Auch Allergien mit millionenfach Betroffenen werde unterschätzt. Kurz vor der Pressekonferenz hatte er im Rahmen der Allergiekonferenz in Berlin das Internetportal für Verbände und Betroffene freigeschaltet.
Altes Leiden mit komplexer Ursachenvielfalt
Vor über 1000 Jahren haben die Bewohner Persiens im Frühjahr unter „Rosenschnupfen“ gelitten, ohne zu ahnen, dass es sich um eine allergische Reaktion auf Rosen handelt. Der englische König Richard III. ließ nach einer allergischen Reaktion auf Erdbeeren im 15. Jahrhundert den Überbringer hinrichten, weil er glaubte, er würde vergiftet.
Heute haben Asthma, Neurodermitis und Nahrungsmittelallergien als „Fehlleistung“ des Immunsystems ganz andere Ausmaße. Das Immunsystem von Allergikern überschätzt die Gefahren von eigentlich harmlosen Stoffen und vernichtet nicht, wie bei Krankheiten, den Eindringling, sondern die Reaktion hält so lange an, wie der Mensch den Pollen, Tierhaaren oder Chemikalien ausgesetzt ist.
Aktuell hat die Charité das Schlüsselgen für Neurodermitis identifiziert. Das Gen COL29A1 enthält den Bauplan für das neu entdeckte Protein Kollagen 29, dass in bestimmter Variante die Krankheit auslösen kann. Bei gesunden Menschen taucht es nur in der äußersten Hautschicht, der Epidermis auf. Bei erkrankten Menschen taucht es dort gar nicht erst auf. |
Begründungen, warum Allergien zunehmen sind so vielfältig, wie die vermuteten Ursachen. Der Komplex zwischen Industrialisierung, Umweltschäden, genetischer Disposition und übertriebener Hygiene bringt neben der modernen Medizin auch alternative Konzepte zur Heilbehandlung oder Vermeidung hervor. Prof. Dr. Ulrich Wahn von der Berliner Charité beschreibt den Wandel in der akademischen Fokussierung. Es wird weniger wichtig, warum jemand an Allergien erkranke, sondern wesentlicher, warum bestimmte Menschen keine Allergien bekommen. Bayrische Bauern- und türkische Migrantenkinder aus dem Berliner Wedding haben offensichtlich „alte Schutzmechanismen“, die es zu erforschen gilt. Allergien sind keine „Befindlichkeiten“, sondern bedeuten bei den Betroffenen einen dramatischen Umbruch im Familienleben.
Das vierte „V“
„Der Verbraucherschutz ist nicht so dynamisch vorangeschritten wie die Globalisierung“, stellt Seehofer fest. In seiner Eröffnungsrede hatte er deshalb die „drei großen Vs“ eingefordert: Im Rahmen des im Frühjahr gestarteten Aktionsplan Allergien müssen Informationen und Beratung „Vermittelt“, dem Risiko durch frühzeitige Prävention „Vorgebeugt“ werden und Allergikern eine Alternative zu allergenen Stoffen im Rahmen der „Vermeidung“ angeboten werden.
Gerd Billen, Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband ist das ein „V“ zu wenig. Er will „Verbote“. Allergien beeinträchtigen die Leistungsbereitschaft von Kindern und führen zu Fehlzeiten von Arbeitnehmer. Der volkswirtschaftliche Schaden belaufe sich auf 100 Milliarden Euro im Jahr.
40 Prozent der Bevölkerung hatte irgendwann einmal eine Allergie |
Für Billen geht vor allem die Kennzeichnung nicht weit genug. Aktuell müssen 12 Lebensmittelgruppen gekennzeichnet werden und Ende 2008 kommen Süßlupinen und Mollusken hinzu. Bei den Zusatzstoffen fordert Billen weitere Einschränkungen im Bereich der Azofarb- und Konservierungsstoffe.
Ein Wechsel zu Produkten aus dem ökologischen Landbau hilft nur wenig. Zwar sind gegenüber dem konventionellen Handel nur 50 statt 120 Zusatzstoffe erlaubt, aber Allergiker reagieren auch auf natürliche Stoffe. Das ist es dann egal, aus welchem Handel sie kommen.
Nächster Schritt: Kennzeichnung loser Ware
Aufdrucke bei verpackter Ware sind nicht nur Pflicht, sondern auch leicht zu realisieren. Anders sieht es bei loser Ware aus und vor allem bei verarbeiteten Lebensmitteln. Fleisch und Backwaren sind aus vielen Zutaten zusammen gesetzt und für Verbraucher kaum noch im Detail zu erkennen. Zumindest für lose Ware soll die Kennzeichnung bis zur Anuga, so Seehofer, vorliegen.
Der Handel unterstützt den Aktionsplan Allergie, teilte Prof. Dr. Matthias Horst, Hauptgeschäftsführer des Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde mit. Er sieht aber auch einige Probleme. Lose Ware, Gemeinschaftsverpflegung und Gastronomie bieten so unterschiedliche Produkte an, das eine einheitliche Kennzeichnungsregelung schwierig sei. Regeln können für diese Sektoren nur greifen, wenn sie auf das jeweilige Handwerk passen. Dr. Horst sieht die Hauptaufgabe im Bereich der Ausbildung des Personals. Technische Lösungen für Allergiker sind denkbar. So könne die elektronische Kasse erweitert werden, dass auf der Rückseite des Bons die Zutatenliste detailliert aufgeführt ist. Oder der Kunde nutzt in der Bäckerei einen Touchscreen und gibt die Stoffe ein, gegen die er allergisch ist. Der Computer bietet dann die für ihn mögliche Produktauswahl an. Das komme gerade dem Bäckerhandwerk entgegen, das mitunter täglich seine Rezepturen wechsele.
Informationen an erster Stelle
Das neue Allergie-Portal wurde nur sechs Monate nach dem Start des Aktionsplans aufgestellt und dient in erster Linie den Betroffenen als Informationsbörse. Es bietet neben allgemeinen Informationen auch wissenschaftliche Details, eine Fülle an weiterführenden Informationslinks und ein Forum für die zahlreichen Selbsthilfegruppen, sowie einen Chat für den Erfahrungsaustausch. Dr. Christian Grugel, Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, ist sich der Gradwanderung bewusst, einen Chat anzubieten. Es werde zwar keinen Moderator für diesen Bereich geben, aber fehlleitende Inhalte werden kurzerhand gelöscht. Durch die Beteiligung der Selbsthilfegruppen bietet sich bereits ein moderierter Inhalt an. Gruppen, die Produkte verkaufen wollen, werden nicht zugelassen.
Lesestoff:
Das neue Allergie-Portal ist unter www.aktionsplan-allergien.de erreichbar.
Dr. Wahn hat für den Erfahrungsaustausch zwischen Ärzten, Verbänden und Betroffenen das „Präventions- und Informationsnetzwerk Allergie / Asthma“ auf www.pina.infoline.de erstellt.
Die Stiftung Warentest hat zusammen mit der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen das Buch „Allergien. Diagnose, Vorbeugung, Behandlung“ in diesem Jahr herausgebracht, in dem auch eine Medikamentenbewertung enthalten ist. ISBN 978-3-937880-44-0; 19,90 Euro.
Roland Krieg