Kennzeichnung ESL-Milch fehlgeschlagen

Ernährung

Etikettenschwindel ein komplexes Thema

Am Freitag lud der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) zu einem Marktcheck über ESL-Milch. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hatte zusammen mit der Milchindustrie eine freiwillige Selbstverpflichtung zur Milchkennzeichnung vereinbart, die der vzbv jetzt überprüft hat. In 80 Lebensmittelgeschäften, vom Discount bis zum Naturkostladen, sammelten die Verbraucherschützer vom 13. bis zum 25. Juni insgesamt 660 Milchtüten und -flaschen ein, um die Kennzeichnung zu überprüfen. Gerd Billen, Vorstand des vzbv, hält die Selbstverpflichtung zur Kennzeichnung für gescheitert, denn nur ein Drittel der Milch ist richtig gekennzeichnet und Discounter bieten schon gar keine frische Vollmilch mehr an.

Irreführende Fantasiebezeichnungen
Besonders irritierend befand Clara Meynen, Referentin für Ernährungsverhalten und Prävention beim vzbv, ausgelobte Fantasiebezeichnungen, deren Bedeutung unklar bleibt. „Fitmilch“, „Frische Heumilch“ oder „extra lange nordseefrisch“, ließen Verbraucher eher auf die traditionelle Milch schließen, als deren wirkliche Bedeutung. Bei 254 Milchpackungen können Verbraucher überhaupt nicht erkennen, um welche Milch es sich handelt.
Häufig gar keine frische Vollmilch mehr erhalten die Kunden bei Aldi, Lidl, Penny, Norma, aber auch nicht in allen Supermärkten und Reformhäusern. Bio-Supermärkte du Naturkostläden hielten beide Milchvarianten bereit, wobei sich der Dr. Stefan Etgeton, Fachbereichsleiter Ernährung beim vzbv nicht entscheiden konnte, ob „Bio“ und „ESL-Milch“ mit einander vereinbar sind.

„Sicherheit heißt auch Wahrheit und Klarheit“
Das Ergebnis sagt nichts über die Qualität der Milch. Für einzelne Haushalte und Personen kann sie nach Billen sogar eine gutes Produkt sein. Aber die Kunden müssen darüber informiert werden, was sie dort kaufen. Die Nicht-Kennzeichnung von ESL-Milch ist deutlich von den Lebensmittelimitaten zu unterscheiden, aber trotzdem da gleiche Kind: „Sicherheit bedeutet auch Wahrheit und Klarheit.“ Dr. Etgeton sieht in den Imitaten das Ergebnis, dass sich die Lebensmittelindustrie immer weiter industrialisiert. Größer wird dabei auch der Exportanteil, so dass sich die Weltmarktpreise als heimisches Referenzsystem durchsetzen. Die Preise würden mittlerweile bis auf die Betriebsebene hinuntergebrochen, so Dr. Etgeton. Die Verpackung hingegen suggeriere dem Verbraucher noch die bäuerliche Idylle. Hinzu komme auch das Verhalten der Verbraucher. Daher sind für Billen die Qualitätsdefizite auch ein Thema für die Verbraucher selbst: „Qualität gibt es nicht zum Nulltarif“, sagte er.

Freiwillige Selbstverpflichtung
Gegenüber dem Instrument der freiwilligen Selbstverpflichtung zeigt sich Billen skeptisch. Es gebe immer Unternehmen die mitmachten und Unternehmen, die sich enthalten. Durchgängiger ist eine klare gesetzliche Verordnung. Das helfe bei der Milch und rief die Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner auf, schon jetzt für die Zeit nach der Bundestagswahl eine entsprechende Gesetzesinitiative einzuleiten.
Bei Imitaten helfe nur die Lebensmittelkontrolle zur Qualitätssicherung. Gerade in der Gastronomie und bei loser Ware wären Kennzeichnungspflichten schwer realisierbar.
Die Veröffentlichungen von Untenehmen müsse nach Ansicht Billens noch besser geregelt werden. Die Länderbehörden können die Namen veröffentlichen, zögern aber aus Scheu vor eventuellen Klagen. Hier müsse das Verbraucherinformationsgesetz deutlicher werden.
Die Lebensmittelkontrollen sind in einer Zwickmühle. Die aktuelle Übersicht der vzbv zeigt, dass die Zahl der zu überwachenden Betrieben steigt und die Zahl der Lebensmittelkontrolleure sinkt. Zwischen 2004 und 2008 stieg beispielsweise die Zahl der Unternehmen in Baden-Württemberg von 146.966 auf 206.320, die Zahl der Kontrolleure sank aber von 305 auf 217. So halbierte sich die Quote von Lebensmittelkontrolleuren je 100 Betriebe im gleichen Zeitraum von 0,21 auf 0,11.

Etikettenschwindel ist ein komplexes Thema
Wannsee, ein heißer Sommertag. Das Ausflugslokal „Britzer Laube“ mit tausenden von Plätzen bietet Buletten als kleinen Imbiss an. Sie waren auch nicht mehr ganz frisch, was wohl viele mit Bauchgrimmen zu spüren bekamen. Der Skandal um die mit verarbeiteten Sägespäne im Fleischklops verhalf im Mai 1879 dem „Gesetz, betreffend den Verkehr mit Lebensmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen“ zu einer schnellen parlamentarischen Umsetzung und Kaiser Wilhelm I setzte es am 22. Mai gleich mit seiner Unterschrift in Kraft. Die Polizei war jetzt ermächtigt, Proben bei unangekündigten Kontrollen in Lokalen und Lebensmittelgeschäften zu nehmen. Wer ertappt wurde, Mehl mit Gips, „Kunstbutter aus Talg“ zu verkaufen, dem drohten harte Strafen bis zum Lizenzentzug, schreibt Imanuel Geiss in seiner Chronik des 19. Jahrhunderts.
Auch das Reinheitsgebot von Bier aus dem Jahr 1516 entstand aus der Notwehr heraus, keine gesundheitsgefährdende Stoffe mehr hinzusetzen zu lassen.
„Bolle“ ist den Berlinern noch ein Begriff – die größte Molkerei, die Milch in alle Stadtviertel brachte. Der französische Journalist Jules Huret war vor allem von den plombierten Wagen begeistert, so dass für ihn die Frage der Milchpanscherei gelöst schien.

So fern...
Die Agrargeschichte zeigt eine lange Reihe von Anstrengungen, Lebensmittel gesund und rein zu halten. Der schlechte Ruf der „Farm Butter“ in Skandinavien hatte seinen Anteil an der Gründung von Milchgenossenschaften, die Qualitätsstandards einführten. Der hart arbeitende und familienbasierte Bauer und Familienvater galt als Herz und Seele der Nation, wurde als bäuerliches Ideal der Gesellschaft hingestellt.
Doch die Gesellschaft wächst und wird arbeitsteilig. 1875 verdiente in Erfurt ein Arbeiter rund 1.000 Mark. Bis zu 780 Mark musste er für Lebensmittel ausgeben, um die 150 Mark für Miete, so dass für Kleidung knapp 100 und für den Hausrat kaum 50 Mark übrig blieben. Relationen, die für manche noch heute Gültigkeit haben. Begleitend zur Verstädterung, so Geiss, wurde die bäuerliche Produktion an die Lebensmittelindustrie abgegeben, die Menschen ernähren musste, die keinen eigenen Garten mehr hatten. In dieser Wertschöpfungskette konnte Händler und Verarbeiter durch Panschen und Strecken viel Geld verdienen.

...und doch so nah
Auch heute noch gilt der Familienbetrieb bäuerlicher Prägung den Städtern als Ideal der agrarischer Produktion. Seine Ernte reicht aber für die hochverarbeiteten Waren nicht mehr aus. Kaum jemand produziert noch wirklich eigene Lebensmittel, deren Inhaltsstoffe dann auch bekannt sind. Die einzelnen Fachgeschäfte waren lange Zeit das vertrauensbildende Glied in der Kette zwischen Bauer und Produzent - doch das rote „f“ vor rosafarbenem Hintergrund ist aus dem Stadtbild gänzlich verschwunden. Der Metzger im Fleischerfachgeschäft findet seine Kunden nur noch im besonderen Marktsegment – er muss den täglichen Einkauf dem Discount überlassen. Statt dem bekannten Bäcker, öffnen filialisierte Backketten an allen Straßenecken.
Auch wenn es heute nicht mehr der Gips im Mehl ist – die „Kunstbutter“ hat im Möchtegern-Käse ihre moderne Entsprechung gefunden. Eine Folge der Anonymisierung vom Acker bis zum Teller? Den Konsumenten eingeschlossen.

Rohstoffmangel und Preisdruck
Heute gibt es noch zwei weitere marktbildende Elemente. Die Meere sind überfischt und so viel Erdbeeren, wie an Aroma in mittlerweile allen Lebensmitteln benötigt wird, werden gar nicht angebaut. Dann hilft der Handel mit einer Motivationsmischung aus Gewinnmaximierung und Preiswettbewerb nach: Gepresstes Fischeiweiß in Garnelenform und Aromen statt wirklicher Früchte. Die Verpackungsbilder täuschen Verbrauchern nicht nur falsche Inhaltsstoffe vor, sondern entführen auch in die Sehnsucht, die Realität auszublenden. So viel Überfluss kann es gar nicht – und wird es bei wachsender Bevölkerung und erhöhtem Lebensmittelkonsum auch nicht geben.
Bei einer vollständigen Analyse der Stiftung Warentest über nachhaltige und soziale Kriterien bei Röstkaffee hat sich in diesem Jahr gezeigt, dass 500 Gramm zwischen 4,00 und 5,70 Euro kosten müssten. Wer also weniger für den Kaffee bezahlt, lässt etwas aus. Aber nicht jeder kann und will sich das leisten.
Alleine anhand der Qualitätsversprechen kann heute niemand mehr zwischen Harddiscount und Fachgeschäft unterscheiden. Der schnelle Blick im Einkaufsalltag lässt ebenfalls keine Differenzierung mehr zu. So hat der Deutsche Handelskongress bereits vor zwei Jahren das Beispiel des Wirtschaftsnobelpreisträgers Akerlof genutzt, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Beim Preisduell verlässt die Qualität den Markt und die preiswerteren Angebote werden in der Qualität immer schlechter. Es teilt sich der Premium- vom Massenmarkt, der arme vom reichen Käufer. Ende des 19. Jahrhunderts dem armen Städter das Gipsmehl, dem zeitgenössischen die aromaverfeinerte Pressgarnele?

Käse- und Schinkenimitat
Nach dem Analog-Käse machte der Imitat-Schinken Furore und die Verbraucherzentrale Hamburg hat auf ihrer Internetseite mittlerweile zwei Listen zusammengestellt: Eine mit „Lebensmittelplagiaten“ und eine „Aromatabelle“. Da sind nicht nur Billigprodukte aufgeführt, sondern auch sehr bekannte Marken- und Bioprodukte.
Im Mai hatte sich der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) auf seiner Jahrestagung nicht mit dem Analog-Käse beschäftigt. Der Käse werde nur in der Gastronomie und in den kleinen Bäckereien verwendet, hieß es. Die Branche sollte jedoch das Thema nutzen. Fleischermeister und Journalist Thomas Pröller: „Wer meint, dass er die Imitat-Produzenten solidarisch stützen müsse, macht es ihnen am besten nach. Für alle anderen gilt jetzt laut und deutlich Distanz aufbauen.“
Keine Frage: Wer Käse, Schinken und Produkte mit Blaubeeren kauft, muss erwarten dürfen, dass auch Käse, Schinken und Blaubeeren verarbeitet sind. Wieder haben wenige, die ganze Branche in Verruf gebracht.

„Nicht nur bellen, sondern endlich auch mal beißen“
Das forderte Elvira Drobinski-Weiss, stellvertretende verbraucherpolitische Sprecherin der SPD in der letzten Woche bereits. Mark Weinmeister, Staatssekretär im hessischen Ministerium für Verbraucherschutz will den Schinkenimitatoren nur noch eine zweite Chance geben: Wer von den Lebensmittelkontrolleuren ein zweites Mal erwischt werde, drohe die namentliche Veröffentlichung im Internet.
Im Bundesrat haben die Länder am 12. Juni der Änderung durch einen Vermittlungsvorschlag des Lebensmittel- und Futtergesetzbuch zugestimmt. Danach ist die Namensnennung mehr am Informationsinteresse der Öffentlichkeit als gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse der Firmen auszurichten.
Doch als Katalysator für Reaktionen, vergleichbar dem Bauchgrimmen der Gäste aus der „Britzer Laube“, erweisen sich nur die Listen der Verbraucherzentrale. So hat die Bäckereikette Ditsch den Analog-Käse von ihren Pizzen genommen und die generelle Umstellung auf echten Käse nach eigenen Angaben bis zum 01. Juli abgeschlossen. Unilever will bis Mitte August seinen „Du Darfst Putensalat“ mit neuer Rezeptur und ohne Formfleisch anbieten.
Die Politik hinkt hinterher. So gibt es beispielsweise in Hessen seit einigen Jahren das Portal „Verbraucherfenster“. Die Liste mit veröffentlichten Produkten ist nur schwer zu finden – und wird von der Verbraucherzentrale Hamburg eingebunden. Droht da in der Politik während der Sommer- und Vorwahlzeit ein Imitat des Verbraucherschutzes?

Lücken im Gesetz
Darüber hinaus fordern die Verbraucherschützer, dass nicht verwendete Bestandteile weder benannt noch abgebildet werden dürfen. Die Angaben müssen große auf der Vorderseite und nicht klein auf der Rückseite angebracht werden. Die Mindestgröße der Schrift soll drei, bei großen Verpackungen sechs Millimeter betragen und so kontrastreich ausgeführt sein, dass sie mit normaler Sehkraft gelesen werden kann. Bei loser Ware muss der Verbraucher ebenfalls Informationen über die Inhaltsstoffe erhalten.

Verantwortung nicht abgeben
Wer jetzt nur Handel und Verarbeitern die Schuld gibt und Namenslisten fordert, greift zu kurz. Bei der Suche nach immer billigeren Produkten in einem anonymisierten Handel trägt auch der Verbraucher seine Bürde. Das Vertrauen zu seinem Fachgeschäft kann kein Gesetz und kein Politiker aufbauen. Und bevor die Kontrolleure das Käseimitat aufdeckten, hat es offenbar geschmeckt. Nur kennzeichnen hätte man es müssen.

Lesestoff:
Geiss, Imanuel (Hrsg.): Chronik des 19. Jahrhunderts, Bechtermünz Verlag Augsburg, 1997, ISBN 3-86047-131-7.
Über die Begeisterung Hurets berichtete Susanne Tölke im Kalenderblatt vom 14.05.03 auf Bayern 2.
Die Hamburger Listen finden Sie unter www.vzhh.de

Roland Krieg (Text und Fotos)

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