Lebensmittel und Ernährung der Zukunft
Ernährung
Verbraucher der Zukunft
Seit gestern treffen sich in Berlin internationale Experten aus den Bereichen Handel, Wissenschaft, Marketing sowie Marktforschung und Industrie, um die Zukunft der Lebensmittel auszuleuchten. Veranstalter sind die Plattform Ernährung & Bewegung (peb), der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) sowie das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Hintergrund ist die Zunahme übergewichtiger Menschen, deren ernährungsbedingte Krankheiten den gesellschaftlichen Gesundheitsetat mit rund 80 Milliarden Euro herausfordern – rund 30 Prozent des Gesundheitssystems.
Prof. Dr. Erik Harms, Vorsitzender von peb sieht heute den Handlungsbedarf, um die absehbare Kostensteigerung abzuwehren. Dabei liegt das Hauptaugenmerk des Kinderarztes bei der Prävention in der Kindheit: Dicke Kinder werden durch falsches Verhalten dicke Erwachsene. Die familiäre Situation, soziale Aspekte, ab dem 10. Lebensjahr Medienkonsum, die Einstellung sportlicher Aktivitäten und Migrationshintergründe zeichnen sich nach jüngsten noch nicht veröffentlichten Studien als wesentlich stärkere „Dickmacher“ ab, als „Fast Food“. „Ernährung ohne über Ernährung nachzudenken, kann gefährlich werden. Wir sind eine sitzende Gesellschaft“, fasst Dr. Harms die Eigendynamik der letzten Jahrzehnte zusammen. Handel und Industrie sind aufgefordert, den Verbrauchern Lebensmittel anzubieten, die den veränderten Bedürfnissen angepasst sind.
Nationaler Aktionsplan Ernährung
Dr. Gerd Müller, Staatssekretär aus dem BMELV legte noch einmal die Blickrichtung der Bundesregierung fest: Jeder Verbraucher ist in seiner Entscheidung frei, über die Lebensmittel zu entscheiden, die er zu sich nimmt. Pro Jahr sucht sich der Durchschnittsverbraucher aus rund 230.000 Artikeln 1.400 kg Nahrung zusammen. Während seines Lebens speist er bei 80.000 Mahlzeiten. Werden die Kaffeerunden hinzugerechnet, sind es 105.000 Mahlzeiten – oder rund sechs Lebensjahre, die er vor einem gedeckten Tisch verbringt.
Es sei schon wichtig, so Dr. Müller, die Rolle der Werbung zu untersuchen, weshalb ein Verbraucher sich für seinen Teil aus der Angebotsmenge entscheidet. Es sei aber nicht die Aufgabe des Staates, in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen einzugreifen – allerdings doch bei den Übergewichtigen. Deswegen wird gerade an einem Nationalen Aktionsplan Ernährung gearbeitet, den Bundesminister Horst Seehofer im Frühjahr 2007 der Öffentlichkeit vorstellen wird. Darin soll das Übergewicht bei Kindern gestoppt, eine Trendwende eingeleitet werden und der Lebensstil und die Einstellung des Einzelnen durch einen Erkenntnisprozess der gesunden Ernährung und Bewegung eingeleitet werden: „Gesund leben und gesund Alter“, so Dr. Müller.
Sieben Punkte stehen dabei im Vordergrund:
1. Esskultur ist Lebenssinn: Verbraucher sollen bewusst Einkaufen und die richtigen Lebensmittel aussuchen.
2. „Wir brauchen eine neue Wertschätzung und Ethik des Essens.“ Das sei über Bildung und einem Querschittsunterrichtsfach zu erreichen.
3. Eine gesunde Gemeinschaftsverpflegung soll es nicht nur in Schulen, sondern auch in Krankenhäusern und Kantinen geben.
4. Es muss die Frage geklärt werden, wie Verbraucher aus dem großen Angebot die richtige Wahl treffen können. Wer steuert die Auswahl?
5. Produktinformationen müssen so verbessert werden, dass der Verbraucher sie versteht. Dabei ist aber zu prüfen, ob ein neues System nicht ein unzulässiger Eingriff des Staates wäre.
6. Die Ernährungsforschung soll gestärkt werden. Es gäbe „80 Millionen“ Ernährungsberater, aber in der Populärliteratur zeichnen sich nur wechselnde Botschaften ab, die den Verbraucher verwirren: Erst kein Fett, dann keine Kohlenhydrate, dann wieder etwas anderes.
7. Mehr Bewegung im Leben. Wenn das BMELV die Bundeskompetenz hätte, würde es den Schulsport wieder aus den Ecken holen.
Bei näherer Betrachtung sind die sieben Punkte des Nationalen Aktionsplan Ernährung nichts neues, nur dass sie von der Politik kommen. Hier finden sich Verbraucherschützer wieder, die für eine geregelte Werbung plädieren, Sportwissenschaftler, die den Schulsport wieder intensivieren wollen, Pädagogen, die Ernährungserziehung verlangen und Kulturvertreter, die beim Essen seine Sinnlichkeit und den Genuss in den Vordergrund stellen.
Wer aber an der Ausarbeitung des Nationalen Aktionsplan Ernährung beteiligt ist, wollte Dr. Müller auf Anfrage von Herd-und-Hof.de nicht mitteilen. Auch die Frage nach einem Budget für die Umsetzung wollte er nicht im Rahmen des Kongresses beantworten.
Die Bevormundungsfragen
Bauern und Gärtner liefern die Rohstoffe, die Industrie verarbeitet die Produkte, der Handel vertreibt sie, das Marketing bewirbt sie und der Verbraucher muss essen, was auf den Tisch kommt!? Wer ist schuld am Taillenumfang? Weil jedes Mitglied dieser Wertschöpfungskette auf den anderen zeigt, bleibt der Ruf nach der Politik nicht aus, alles zu regeln. Aber dieser Spielball kommt nicht nur aus dem BMELV prompt zurück:
Prof. Dr. Matthias Spettmann, Hauptgeschäftsführer des BLL erinnert daran, dass die Wurst in den 1950 Jahren zur Hälfte aus Fett bestanden hat und das sie heute nur noch rund 27 Prozent Fett aufweist. Da ist zwar ein langer Zeitraum, aber es beweist, dass „der Markt unter den Gesetzen des Marktes reagiert“. Daher brauche man keine Gesetzesvorgaben, die beispielsweise den Fettgehalt bei allen Fleischwaren reduziert. Die Vielfalt der Angebote ist so groß, dass Verbraucher immer auf Alternativen zurückgreifen können. Die Forderung, Lebensmittel bei der Herstellung zu „Reformulieren“, also mit und zu neuen Zusammensetzungen zu verarbeiten, trifft nach Dr. Spettmann auf Grenzen: Verbraucher kaufen nur, was schmeckt. „Staatliche Eingriffe lehnen wir rigoros ab.“ Mit Blick auf die Konferenz der Weltgesundheitsorganisation WHO in Istanbul in der kommenden Woche, ist der auf dem Tisch liegende Vorschlag einer Fett- und Zuckerbesteuerung in Lebensmitteln, auch Dr. Müller ein Graus: Er bestreitet die Rechtsvorlage dieser Idee.
Anstatt die Werbung zu reglementieren, will Dr. Spettmann die Werbekompetenz der Kinder erhöhen. Sie sollen animiert werden, Informationen zu lesen und sie zu verstehen. Ein Ampelsystem, wie es in England in den Supermärkten gibt und gefährliche (rot) oder gesunde (grün) Lebensmittel kennzeichnet, lehnt er ab: Das verleitet nur dazu, die Kaufentscheidung anderen zu überlassen.
Eine Mischung aus gesetzlichen Vorgaben und nicht-gesetzlichen Regelungen fährt die EU, die ein Gleichgewicht zwischen 25 Mitgliedsländern herstellen muss. Paula Pinho aus dem Kabinett des EU Kommissars für Gesundheit und Verbraucherschutz Markos Kyprianou, stellte das europäische Pendant der peb vor und verwies auf zwei neue, noch nicht veröffentlichte Verordnungen als Regelung für Verbraucher: Einmal die Verordnung über Nährwert- und Gesundheitsangaben und die Verordnung über den Zusatz von Vitaminen und Mineralien. Drei Millionen adipöse Kinder gibt es in der EU. „Das Thema ist in Europa angekommen.“ Sieben Prozent der Gesundheitsausgaben werden dafür ausgegeben. Daher hätte der Staat schon darüber mitzuentscheiden, was auf den Teller kommt. Im nächsten Jahr will die EU ein Weißbuch über gesunde Ernährung vorlegen.
Roland Krieg
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