Lebensmittelabfälle
Ernährung
+++ 14:00 Uhr
Sondermeldung: Aigner zur Studie über Lebensmittelabfälle
Die Welternährung ist keine
stoffliche Frage. Es ist genug für alle da, aber ungerecht verteilt. Die
Situationen in Ost- und Westafrika zeigen, wie komplex das Thema
Nahrungssicherheit sein kann – während in andern Weltregionen wie Europa die
Menschen mittlerweile mehr Kalorien zu sich nehmen, als sie bräuchten.
Vor dem Hintergrund des Hungers
und der Ernährung von neun Milliarden Menschen im Jahr 2050 ist das Wegwerfen
von Lebensmittel besonders verwerflich – zumal die Elterngeneration der
heutigen „50er“ noch den sparsamen Umgang mit der Nahrung gepredigt hat.
Das Einkaufen der
Nachfolgegeneration trifft jedoch auch auf ein Warenangebot, das ständigen
Überfluss signalisiert. Der geringe Anteil von etwa zehn Prozent, den die
Deutschen im Durchschnitt für ihre Lebensmittel ausgeben, haben Wurst, Kohl und
Co. auch „entwerten“ helfen.
Anfang März 2011 hatte das
Eurobarometer den Konsumenten vorgehalten, dass sie viel mehr wegwerfen, als
selbst eingeschätzt. 60 Prozent hielten ihren Abfall für gering, doch fallen
jährlich pro Jahr eine halbe Tonne Abfall an. EU-Umweltkommissar Janez
Potocnik: „Diese Umfrage zeigt, dass die meisten von uns sich nicht im Klaren
darüber sind, wie viel sie wegwerfen.“ Lebensmittel inklusive. Englische
Studien haben gezeigt, dass 25 Prozent der eingekauften Lebensmittel wieder
weggeworfen werden, rund zwei Drittel davon unnötig.
Schwung genommen
Kurze Zeit später hatte eine
FAO-Studie zum Wegwerfen von Lebensmittel Schwung in die Debatte gebracht.
Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner versprach mit einer eigenen Studie
dem Problem auf den Grund zu gehen und noch vor der Sommerpause 2011 legte der
EU-Sozialdemokrat Salvatore Caronna einen detaillierten Initiativbericht im
Agarausschuss des Europaparlaments vor.
Verschwendet wird überall. In
den Industrieländern mehr am Ende der Lebensmittelkette, in den
Entwicklungsländern mehr am Anfang. Ohne Abfälle aus der Landwirtschaft und
Fischerei werfen die Europäer durchschnittlich 179 Kilogramm Lebensmittel im
Jahr weg. Umgerechnet 330 Euro für die Tonne. Falsch oder zu viel gekauft,
Ware, die wegen Form- oder Farbfehler gar nicht in die Vermarktung kommt, aber
auch, weil die Verbraucher nicht mehr mit der „Resteküche“ vertraut sind.
Verbraucher verwechseln das
Mindesthaltbarkeitsdatum mit dem Ablauftermin und die Gastronomie ist nicht auf
die „Doggy-Bags“ eingestellt, Essen mit nach Hause nehmen zu dürfen. Im
englischen heißt der Begriff „leftovers“.
Studie aus Stuttgart
Heute Mittag hat
Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner eine Studie des Instituts für
Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart
vorgestellt, das die Mengen weggeworfener Lebensmittel und die Hauptursachen
für die Entstehung von Lebensmittelabfällen in Deutschland ermittelt hat.
Demnach werden in Deutschland
rund elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen, was einer Lkw-Schlange von
4.500 Kilometern entspricht. Ministerin Aigner stellt sich das angesichts von
900 Millionen hungernder Menschen als Hilfskonvoi vor und bezeichnete dies
„unfassbare Menge“ als „unerträglich“.
Etwa 61 Prozent der Abfälle
entstehen in Privathaushalten. Das macht einen Schnitt von 81,6 Kilogramm pro
Kopf und Jahr mit einem Gesamtwert von 235 Euro. Fast die Hälfte des Abfalls,
44 Prozent, sind Obst und Gemüse.
Die Studie zeigt das
unterschiedliche Wegwerfverhalten. Etwa drei Prozent der Befragten wirft
täglich Lebensmittel weg, ein Fünftel einmal im Monat.
Die Studie hat ein leichtes
Ost-West-Gefälle herausgearbeitet. Im Westen wird mehr weggeworfen. Die
Wegwerfer sind jünger. Die meisten, die täglich oder mehrmals die Woche
Lebensmittel wegwerfen fallen in die Kategorie der 14- bis 29- sowie der 30-
bis 44-jährigen. Bei täglichem und mehrmaligem Wegwerfen in der Woche heben
sich Schüler und Studenten deutlich hervor.
Formal landen Lebensmittel in Haushalten
mit höherer Bildung und höherem Einkommenam häufigsten im Müll.
„Zu gut für die Tonne“
Die Studie ist der Start einer
Kampagne, die das Bundeslandwirtschaftsministerium mit dem Slogan „Zu gut für
die Tonne“ beginnt. Auf fünf Ebenen will Aigner das Bewusstsein für einen
verantwortungsbewussten Umgang mit der Nahrung schärfen.
Noch im März startet zusammen
mit der Lebensmittelwirtschaft eine Aufklärungskampagne zum
Mindesthaltbarkeitsdatum. Die Stuttgarter Studie hat als Hauptgrund für das
Wegwerfen von Lebensmitteln im Privathaushalt „Überschreiten des
Mindesthaltbarkeitsdatum“ und „Verdorbene Lebensmittel“ ausgemacht (84 Prozent).
Aigner will vermitteln, dass ein Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums
nicht den Verderb eines Lebensmittels bedeutet – sie will jedoch auch keine
andere oder neue Kennzeichnungsform einführen, sagte sie in Berlin.
Eine Konferenz Ende März bringt
Vertreter aus der ganzen Wertschöpfungskette von der Landwirtschaft über die
Verarbeiter bis zum Handel sowie Verbraucherorganisationen und Kirchen
zusammen. Dort sollen in einem vernetzten Ansatz Strategien zur Reduzierung des
Abfalls ausgearbeitet werden.
Ein Teil der Lebensmittel
gelangt gar nicht erst in den Handel, weil geerntete Ware nicht den Handelsnormen
entspricht. Das möchte Aigner durch Streichen „aller Vermarktungsnormen und
deren staatliche Kontrolle“ erreichen. Vorbild seinen Gurken, Spargel und
Kartoffeln, die mittlerweile ohne Handelsnormen vermarktet werden. Aigner ist
sich aber auch bewusst, dass das nicht einfach sein wird, denn auf europäischer
Ebene werden eher mehr handelsnormen eingeführt, so Aigner.
Die vorliegende Studie soll der
erste Schritt sein, überhaupt belastbare Daten zu erhalten. Die Autoren räumen
selbst ein, dass die Datenbasis lückenhaft sei. Abfälle aus den Haushalten
können über die Biotonne erfasst werden, doch was auf dem eigenen Komposter
oder an Haustiere verfüttert wird, entzieht sich der Statistik. Daher ist auch
die Datenbasis für die Studie breit gefasst. In der Industrie fallen zwischen
210.000 Tonnen und 4,85 Millionen Tonnen Lebensmittelabfall an. Die Studie nahm
einen Mittelwert. Auch für den Handel ist die Spanne groß: Sie liegt zwischen
460.000 Tonnen und 4,79 Millionen Tonnen im Jahr. Die letzte Zahl ergäbe sich
aus einer amerikanischen Studie, die von zehn Prozent Abfall ausgeht. Auch hier
legten die Stuttgarter einen Mittelwert für Deutschland fest.
Zuletzt soll mehr über diesem
Bereich geforscht werden. Die Richtung bezieht sich auf die Landwirtschaft, die
mit ein bis zwei Millionen Tonnen Abfall in der Statistik auftaucht. Im Vordergrund
stehen Ernte- und Lagerverluste. Diese Themen haben nach Aigner auch weltweite
Bedeutung.
Erfolgsaussichten
Die Ansprache der Verbraucher
scheint erfolgreich werden zu können. Denn 69 Prozent der Menschen, die
Lebensmittel wegwerfen, haben auch ein schlechtes Gewissen, so die Studie.
Zur Bandbreite des Themas
könnten auch unnötig produzierte Lebensmittel wie Kinderlebensmittel gehören,
so Aigner. Ob sich darauf die Industrie einlässt bleibt offen.
Auch ein anderer Punkt muss
noch näher untersucht werden. Ilse Aigner stellte eine Verbindung zwischen
Abfallreduzierung und Regionalmarketing her. Sind kurze Wege und kleine
Vermarktungsmengen weniger anfällig als überregionale Transporte, die heute
minutiös geplant sind?
Lesestoff:
Eurobarometer
Initiativbericht EU
Roland Krieg