"LM-Kennzeichnung ist politische Diskussion"

Ernährung

Verbraucherzentrale bewirbt die Ampellösung

Vor 2009 wird es europaweit keine einheitliche Kennzeichnung für Lebensmittel geben, ist sich Gerd Billen, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverband, sicher. Bis Februar wird es zunächst einmal einen Vorschlag der Kommission geben, weswegen er gestern morgen in Berlin die Gelegenheit ergriff, mit der Ampellösung gegen das von Bundesverbraucherminister Horst Seehofer auf der Anuga vorgestellte Eckpunktepapier, Position zu beziehen.

Dringender Bedarf
37 Millionen Erwachsenen und zwei Millionen Kinder und Jugendliche sind adipös oder übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen leidet an Was wir essen sollenHerz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruck und jedes fünfte Kind weist Symptome einer Essstörung auf. Die Folgekosten ernährungsbedingter Krankheiten werden mit rund 30 Prozent aller Gesundheitskosten beziffert – das sind rund 70 Milliarden Euro im Jahr. Eine Möglichkeit, Verbrauchern eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, „die richtigen Lebensmittel“ zu konsumieren, ist die Lebensmittelkennzeichnung. Dabei gehe es „nicht nur um Peanuts, sondern ob eine milliardenschwere Industrie gezwungen werden, kann sachgerecht aufzuklären“, so Billen. Verbraucher brauchen dringend eine intelligente Kennzeichnung, die mit einer einfachen Botschaft schnell signalisiert: zu fettig, zu süß oder zu salzig. Verbraucher sollen keine Ernährungsexperten als Einkaufsbegleiter mitnehmen müssen oder mit Hilfe eines Taschenrechners Tabellen vergleichen.

Politische Strategien
Billen hegt Skepsis gegen die „4+1“-Regelung der Bundesregierung, weil Verbraucher sie nicht verstünden und „auch nicht verstehen sollen“. Die Verbraucherzentrale hatte aus Großbritannien ein doppelseitiges Dreieck mitgebracht, auf welchem zu sehen ist, dass die Lebensmittelindustrie ihren Werbeetat gegenläufig zu den gesunden Ernährungsempfehlungen verteilt. An einer Schokolade sei eben mehr zu verdienen als an einem Apfel oder Kohlrabi, versteht Billen die Industrie – aber deswegen werde auch keine Selbstverpflichtung funktionieren. Einen roten Ampelpunkt als Verbotssignal will die Industrie nicht akzeptieren.
Billen sieht ein „weltweit großes Kartell der Lebensmittelfirmen, das gerade Lobbyarbeit in der EU und Deutschland betreibt“. Kraft Foods agiere in den USA ganz anders und kennzeichnet Produkte mit wenig Zucker positiv aus. Deswegen sei noch Zeit, eine Gegenlobby aufzubauen. Das Eckpunktepapier sei noch nicht durch.

Die Entscheidung fällt am Regal
Die Ampelkennzeichnung wird die Dicken nicht dünn machen, stellte Dr. Ulrich Fegeler, Bundessprecher des Berufsverbandes der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin fest. Eine leicht zu verstehende Kennzeichnung hilft aber bei der Entscheidung, welches Produkt im Einkaufswagen landet. Übergewichtige Kinder haben oft einen Migrationshintergrund und brauchen leicht zu verstehende Symbole. Außerdem sind die bis 17jährigen bereits kaufkräftig allein Was am meisten beworben wirdunterwegs. Jüngere sind den optischen Reizen an den Quengelregalen ausgesetzt, verstehen aber die rote Kennzeichnung. Die Ampel verändert nicht die Ernährungsweise, helfe aber bei der Kaufentscheidung.
Das sieht auch Entscheidungspsychologin Jutta Mata vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Ein Teil des Konsumverhaltens ist veranlagt. Das zeigt das lächelnde Baby, tropft man ihm eine süße Zuckerlösung auf die Lippen. Ein anderer Teil des Einkaufsverhaltens ist jedoch durch die Umwelt geprägt. Die Welt ist bewegungsärmer geworden, die verarbeiteten Produkte energiedichter und die Packungsgrößen größer. Coca Cola hat seine Flaschengröße im Verlauf der Zeit vervierfacht – während die Konsumenten immer noch sich mit dem Konsum „einer Flasche“ begnügen.
Die Ampel werde funktionieren, wenn sie, wie die psychologisch ausgerichtete Supermarktumgebung, Teil der Einkaufsumwelt wird. Vier Erfolgsprinzipien sieht die Berliner Psychologin: Die Kennzeichnung muss auf die Vorderseite, weil Verbraucher die Rückseite mehrheitlich ignorieren. Das Labelling muss einfach sein, weil Tabellen schwerer zu erfassen sind. Die Ampel ermöglicht den Verbrauchern einen direkten Produktvergleich und irreführende Produktnamen werden durch die Ampel entlarvt, wenn „gesunde“ Produkte ein „rot“ für zu viel Zucker erhalten.
Jutta Mata sieht aber auch bei der Ampellösung Grenzen: Ist der Pizza mit zu viel Fett, der Pizza mit zu hohem Salzgehalt, der Vorzug zu geben? Auch die Ampelkennzeichnung erklärt nicht die Inhaltsstoffe und ungünstig ist, wenn nur negativ gekennzeichnet wird.

Wo die Industrie mogelt
„Wissen ist Voraussetzung für Handeln“, sagt Jutta Mata. Die Industrie versteckt jedoch das Wissen. Die Angaben auf einer Tüte Kartoffelchips beziehen sich beispielsweise auf die Portionsgröße von 25 Gramm – eine handvoll Chips. Gerd Billen sieht in diesen kleinen Mengen jedoch gerade erst den „Auftakt zu einem gemütlichen Abend“, weil realistischerweise der gesamte Inhalt verzehrt werde:

„Kartoffelsnack Galaxy Star“
Auf der Verpackung des Herstellers wird die Portionsgröße mit 25 g angegeben. In dieser Portion sind 0,30 g Salz enthalten. Als Referenzwert für die tägliche Salzaufnahme legt die Industrie 2,4 g bei einem täglichen Kalorienverbrauch von 2000 kcal für eine Frau zugrunde. Hieraus berechnet sich ein prozentualer Salzanteil von 13 Prozent oder 0,30 Gramm pro Portion.
Die Verbraucherzentrale hält eine Portionsgröße von 25 g für unrealistisch gering, mindestens 50 g wären angemessen. Überdies entspricht der von der Industrie gewählte maximale Wert der täglichen Salzzufuhr von 2,4 g nicht den Empfehlungen der DGE und WHO, die nur 1,4 g Salz bei einem Gesamtkalorienverbrauch von 2000 kcal empfehlen. Mit diesen Zahlen ergibt sich für das Beispielprodukt „Kartoffelsnack Galaxy Star“ ein Salzgehalt von 43 Gramm oder 0,6 Gramm pro Portion. Da besonders bei Knabbergebäck nicht selten der gesamte Packungsinhalt auf einmal verzehrt wird, ist zur Orientierung auch der Gesamtfettgehalt pro Packung in Prozent und Gramm in der Tabelle angegeben: Pro 125 g Chipstüte würden 107 % bzw. 1,5 g Fett aufgenommen werden.
Verbraucherzentrale Hamburg, August 2007

Der Bundesverband hatte einige verarbeitete Produkte mit der Ampelkennzeichnung versehen und offenbarte erstaunliches. So erscheint das Vitalis FrüchteMüsli von Dr. Oetker als durchaus gesund, erhält aber nur bei gesättigten Fettsäuren und Salz das grüne Ampellicht der Verbraucherzentralen. 4,3 g Fett je 100 Gramm Müsli schalten die Ampel auf gelb und 26 g Zucker je 100 g Müsli sogar auf rot.
Die englische Food Standards Agency hat eine kleine Plastikkarte entworfen, die Konsumenten beim Einkaufen einen schnellen Überblick über die gekennzeichneten Mengen geben:

Englische Einkaufshilfe

Die Ampelkennzeichnung ist nur ein Teil des Aufgabenkomplexes im Kampf gegen das Übergewicht. Ganztagsschulen bieten nach Billen die beste Möglichkeit, über ein Schulfach Ernährung alle Kinder anzusprechen.

Lesestoff:
Mehr Informationen des Verbraucherzentrale Bundesverband finden Sie unter www.vzbv.de.
Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) nahm sich auf seiner Tagung Anfang Dezember des Themas an.

Roland Krieg; Fotos: roRo

Zurück