Mehrfachrückstände Teil II

Ernährung

Forum Verbraucherschutz des BfR

>Verbraucher sind verunsichert, weil unklar ist, ob und wenn, welche Gesundheitsrisiken mit Mehrfachrückständen von Pflanzenschutzmitteln (PSM) in Lebensmitteln verbunden sind. Nachdem Wissenschaftler auf dem Verbraucherforum des Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bereits über Risiko, Exposition und mögliche Wechselwirkungen diskutiert hatten, kommt heute die Verbraucherseite zu Wort.

Verbrauchererwartungen
Thomas Isenberg von der Verbraucherzentrale Bundesverband aus Berlin formulierte die Wünsche knapp und deutlich: Die Verbraucher erwarten Frische, einen günstigen Preis und mindestens ein Produkt, das schadstoffarm ist, wie es im Biobereich ermöglicht wird. Die Verbraucher richten ihre Kaufentscheidung daran aus. Das sei zwar ein „egoistisches Verbraucherbedürfnis“, aber legitim und wird in Kampagnen, wie beispielsweise www.5amtag.de auch bundesweit gefördert. Für die Verbraucherschützer ist ein Nutzen in der Verwendung von PSM nicht erkennbar, um eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Die Experten haben viele Nachweismethoden und noch viel mehr Werte, die berechnet werden können. Diese von Isenberg als Methodenpluralität bezeichnete Situation, weist allerdings immer nur lineare Erklärungsmodelle auf: Es bleibt nur die Aussage übrig, dass Auswirkungen keinen negativen Effekt haben. Hingegen sollten Einsätze von PSM nur durchgeführt werden, wenn sie einen positiven Effekt aufweisen würden. Das sei vorsorgender Verbraucherschutz. Hinsichtlich der verschiedenen und auch in der Wissenschaft nicht unumstrittenen Methoden sei der Verbraucher „ein Opfer der Methodenwillkür“.
Zudem nehme der Lebensmittelhandel billigend in Kauf, dass Höchstwerte immer wieder überschritten würden und Isenberg fordert den Handel zu mehr Eigenkontrollen auf.
Die Stiftung Warentest führte bereits 2003 erste Untersuchungen über Pestizidrückstände durch und veröffentlicht sie seitdem regelmäßig in ihren Heften. Dr. Ursula Loggen von Warentest leitet aus den veröffentlichen Resultaten auch jedes Mal allgemeine Empfehlungen an die Verbraucher ab: saisonales einkaufen, Waren aus dem Freiland bevorzugen, es gibt Empfehlungen, Rückstände bei der Zubereitung zu minimieren, wie beispielsweise Strünke bei Kohl zu entfernen, Tipps zur Minimierung der Rückstandsaufnahme und auf jeden Fall immer die Empfehlung, trotz der Testergebnisse, nicht auf Obst und Gemüse zu verzichten.
Dr. Eberhard Schüle vom Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt (CVUA) in Stuttgart verwies auf die Seiten seines Instituts, dass im Rahmen des Ökomonitoring umfangreiche Vergleichsergebnisse veröffentlicht (www.cvua-stuttgart.de). Allerdings nahm trotz zunehmender Rückstandsergebnisse, die Gesamtbelastung in den letzten Jahren weiter ab. Er konnte auch mit dem Vorurteil aufräumen, dass das am meisten belastete Obst und Gemüse aus Übersee stammt. So weisen 13 Prozent der europäischen Trauben mehr als acht Wirkstoffe auf, während Ware aus Übersee nur in Ausnahmefälle den Wert erreicht. Gerade Südeuropa schneidet mittlerweile schlechter ab.

Wissenschaftsverständnis
Der Verbraucher erlebt in seinem Alltag die Diskussion allermeist nur über den Begriff der Höchstmenge und auch nur in der Relevanz, wenn sie überschritten worden ist. Es drängt sich der Eindruck auf, dass mit Hilfe der Methodenvielfalt die Wissenschaft sich der Thematik so weit nähert, dass sie zwar darstellbar und begreifbar ist, aber das Problem, nicht zu lösen vermag. Der Präsident des BfR, Prof. Andreas Hensel, nahm zu dieser These von Herd-und-Hof.de Stellung: Die Forschung hat sich der Thematik angenommen, um das Maß an Unsicherheit bei den Verbrauchern zu reduzieren. Sie kann die Abwägung eines individuellen Risikos nicht auflösen, aber über den zu deckenden Forschungsbedarf verständlicher machen. Es bleibe allerdings die Frage, wer die Ergebnisse in welcher Form kommunizieren solle.
Dabei sind die Methoden alleine schon nicht unstrittig. Dr. Rolf Altenburger vom Pestizid Aktions Netzwerk (PAN) stellte bereits Forschungen von 1926 vor, dass ein Effekt einer Wirkstoffmenge bei Verdoppelung einen zweifach höheren Effekt erwarten lässt, jedoch die tatsächlich beobachtete Wirkung um einiges höher lag. Die Differenz zwischen Erwartungs- und Beobachtungswert könne nicht mit dem Begriff Synergismus erklärt werden. Dr. Altenburger geht von dem Normalfall aus, dass das Zusammenwirken von mehreren Stoffen „in deren additiver bzw. unabhängiger Wirkung“ besteht.
Aus dem Jahr 1998 gibt es Untersuchungen von Stoffgemischen, bei denen jeder einzelne der 18 Stoffe eine Prozesshemmung von jeweils einem Prozent erzielte. Beobachtet wurde aber eine prozentuale Hemmung von 95,2 Prozent. Nach dem Prinzip der unabhängigen Wirkung berechnete sich ein Wert von 14,9 Prozent und bei Berücksichtigung der additiven Effekte von 81,9 Prozent. Nach Ansicht von PAN sind die wahrscheinlichen Mischungsbelastungen „in eine regulative Risikobeurteilung“ umsetzbar.
Manfred Krautter von Greenpeace quantifiziert die Umsetzung: „Dazu sollte für Lebensmittel für jeden Pestizid-Einzelwirkstoff eine Höchstmenge von maximal 0,01 mg/kg und für die Summe der Pestizidwirkstoff ein Maximalwert von 0,03 mg/kg eingeführt und umgesetzt werden. Der Maximalwert von 0,01 mg/kg ist auch in der konventionellen Landwirtschaft realisierbar. Er gilt heute bereits für zubereitete Babynahrung und ist ein verbreiteter Leitwert auch im Öko-Anbau.“

Kommunikationskrise im Wahrnehmungsgefälle
Die allergrößte Sorge formulierte aber Dr. Helmuth Lieber von Bayer CropScience: „Wir stecken in einer ernsten Kommunikationskrise.“ In der Toxikologie bezeichnet der Grenzwert das Maximum Limit einer Wirkstoffkonzentration und wird als ADI, ARfD oder NOAL erfasst. (NOAL = No Observed Adverse Effect Level). Die Werte werden in mg/kg Körpergewicht je Tag angegeben. Das Maximum Level hingegen bezeichnet die Höchstmenge in mg/kg Erntegut. Verrechnet werden beide Begriffe über die Verzehrsmenge, was Dr. Lieber zum Anlass nimmt, Bedenken zu äußern, ob Verbraucher sachlich und korrekt informiert werden. Ob nicht vor allem „fachfremde Personen“ ihn mit fehlerhaften Interpretationen in die Irre führen können? Vor allem die Medien und manche Verbände bezogen kräftige Schelte, dass eingeführte „Belastungsklassen“ jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrten. „Prozentanteile von Höchstmengenüberschreitungen repräsentieren nicht unsere tägliche Nahrungsaufnahme“ und Medien interpretieren jeden Nachweis bereits als Risiko. „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass...“ oder „Es wird vermutet, dass...“ führen zu ungerechtfertigten Verunsicherungen des Verbrauchers. So führte ein Text des Umweltbundesamts („Obst und Gemüse sind mit Rückständen von Pestiziden versucht“) zu einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung, ob der Begriff gerechtfertigt sei. Die Antwort vom 06.12.2004 (Drucksache 15/4466): „Eine Bewertung der Rückstände im so genannten Warenkorb von etwa 120 Lebensmitteln aus dem Monitoring 1995 bis 2002 hat ergeben, dass, bezogen auf den durchschnittlichen Verzehr die duldbare tägliche Aufnahme (ADI-Wert) zu etwa 1 % ausgenutzt ist. Die bisher ausgewertete Datenlage zeigt deshalb, dass von den Rückstandsgehalten keine Gesundheitsgefahren ausgehen.“ Dr. Liebig sieht die Kommunikationskrise in der Differenz zwischen der rational wissenschaftlichen Erkenntnis und der emotional öffentlichen Wahrnehmung. An die eigene Nase gefasst, fordert er eine allgemeinverständliche Aufbereitung der Themen.
Allerdings gibt es ein Wahrnehmungsgefälle zwischen allen Beteiligten: Der Chemielaborant und Wissenschaftler ist es gewohnt mit den Werten fachsicher umzugehen und weiß auch nachts um drei noch von den feinen Unterschieden. Zwei Bauern in den 1980er Jahren haben durchaus einen unverkrampften Bezug zu ihren PSM, wenn der eine den anderen auf seine gelben Finger aufmerksam macht und fragt: „Gestern Abend noch das Getreide gespritzt?“ Der Verbraucher hat in seinem Lebensalltag vielleicht gerade kranke Kinder zu umhegen, Sorgen um den Arbeitsplatz oder findet kein Weihnachtsgeschenk für die Schwiegermutter. Wie viel bleibt bei dem Nicht-Chemiker hängen, wenn er mit einem vierseitigen sachlich verfassten Zustandsbericht über eine Höchstmengenüberschreitung informiert wird? Nach vierzehn Tagen?
Unbestritten: Für manche Medien sind „bad news good news“ und lassen sich besser verkaufen. Mit einer „gefühlten Gefahr“ darf man auch kein Geschäft machen. Aber hat die Tagung nicht auch gezeigt, dass nicht alles, was seitens der Wissenschaft klar erscheint, auch angezweifelt werden kann? Ist ein Höchstwert überschritten, dann erfüllt das einen Straftatbestand. An der Überschreitung stirbt man in der Regel nicht. Es muss aber dem Verbraucher auch klar gemacht werden können, dass eine Überschreitung Konsequenzen nach sich zieht und nicht permanent als tägliches Übel wieder erscheint.
Möglicherweise liegt die Lösung der Mehrfachbelastung außerhalb des chemischen Kontrollsystems. Und da sind Pestizide nur eine Variable für viele andere Stoffe, die sich mittlerweile in unseren Alltag geschlichen haben: Flammschutzmittel aus der Chlorchemie gibt es auch deswegen, weil alkoholisierte Menschen mit brennender Zigarette auf dem Sofa einschlafen – ein Fürsorgeprinzip für den, er es temporär nicht kann.
Die Entscheidung für ein Produkt oder gegen ein Produkt fällt nur an der Kasse. Durch den Verbraucher. Wer zu Weihnachten Erdbeeren haben will, der muss auf gespritzte Gewächshausware zurück greifen. Ob dann Bio-Erdbeeren aus Ägypten eine wirklich „gute“ Alternative sind? Man kann auch darauf verzichten, weil es sie „eigentlich“ nicht gibt. Für das „uneigentliche“ sorgt der Handel, weil der Verbraucher es kauft.

Lesetipps (bleibt nur eine Auswahl)
www.bfr.bund.de
www.einkaufsnetz.org
www.iva.de
www.pan-germany.org
www.vzbv.de
www.cvua-stuttgart.de
www.stiftung-warentest.de
www.oekotest.de

Roland Krieg

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