"Meilenstein für die Ernährungsforschung"

Ernährung

NVS II bringt differenzierte Ergebnisse

Die am Vortag zur Veröffentlichung der Nationalen Verzehrsstudie II (NVS II) in der Presse untergebrachten Zahlen dienten der Aufmerksamkeit. Die Anzahl der Über- und Untergewichtigen ist seit Jahren ein Thema und lässt sich mittlerweile sogar zielgruppenspezifisch dokumentieren. Die Fachtagung zur NVS II gestern im „Haus der Deutschen Wirtschaft“ brachte differenzierte Ergebnisse und ordnete die Studie kritisch in ihren Kontext ein.

Ob Body-Mass-Index (Körpergröße in kg / Körpergröße in qm) oder die Fettverteilung am Körper, gemessen im Verhältnis Taillenumfang zu Hüftumfang oder der Taillenumfang alleine: alle drei Messmethoden wurden angewendet und ausgewertet. Das Übergewicht und damit das Risiko für ernährungsbedingte Krankheiten nehmen mit steigendem Alter bei Frauen und Männer kontinuierlich zu. (NVS II)

So zeigte die NVS II im Vergleich mit dem Gesundheitssurvey 1998 auch Positives: Bei Frauen ab 30 sinkt die Zahl der Übergewichtigen in allen Altersgruppen bis zu acht Prozent ab. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei den Männern zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr: Der Anteil hat sich um fünf Prozent reduziert.

Fundus an Daten
Verteilung BefragungsorteDie letzte große NVS ist 20 Jahre alt und bezieht sich nur auf das alte Bundesgebiet. Seitdem haben sich die Verzehrsgewohnheiten geändert und es fehlten repräsentative Grunddaten über die gesamte Bevölkerung. Acht Interviewteams waren nach Angaben von Dr. Caroline Krems an 500 Studienzentren unterwegs, haben 500.000 km Wegstrecke zurückgelegt und verbrachten an jedem Ort drei Tage zum Messen, Wiegen und Befragen. Die Zahl der Erfassungspunkte wurde nach der Bevölkerungsverteilung der Bundesländer ausgesucht. Vier „Befragungswellen“ - verschiedenfarbige Punkte auf der Karte - haben eine saisonale Datenerfassung ermittelt. Zehn Prozent der Befragten sind in anderen Ländern geboren oder haben nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Erfasst wurden daher auch Ernährungsgewohnheiten mit koscheren und Halal-Lebensmittel.

Je höher der Schulabschluss, desto geringer ist der BMI. Mit steigendem Pro-Kopf-Nettoeinkommen sinkt bei Männern und Frauen der BMI. Männer neigen im Zusammenleben mit Partnern eher zu Übergewicht als wenn sie alleine leben. (NVS II)

So kann der „Meilenstein der Ernährungsforschung“, wie Dr. Krems die Studie nannte, für zielgruppengenaue zukünftige Interventions- und Präventionsmaßnahmen dienen.
Die Menschen wurden nicht nur gewogen und vermessen, sondern nach ihrem Ernährungs- und Einkaufsverhalten, befragt. So ist die gestern vorgestellte Studie auch nur der erste Teil. Der im April 2008 erscheinende zweite Teil wird dann die Nährstoffaufnahme und -zufuhr beschreiben. Dann erst kann der individuelle Warenkorb auf die Gewichtsdaten und deren räumliche Verteilung zugeordnet werden.

Resümee und offene Fragen
Oecotrophologe Thorsten Heuer fasste die Ergebnisse des ersten Teils zusammen: Bildung führt zu mehr Ernährungswissen, ein Drittel der Menschen informiert sich nicht über Ernährungsfragen, ein Drittel der Verbraucher kauft Bio-Produkte, Frauen kochen viel mehr als Männer und 12 Prozent der Interviewten halten Diät. Darunter sieben Prozent auch krankheitsbedingt.
Die jungen Mädchen werden in der NVS II zu zehn Prozent als Untergewichtig ausgewiesen. Das könne auch daran liegen, dass die Mädchen im Wachstumsschub schneller wachsen als zunehmen und sich das ein bis drei Jahre später wieder einpendelt. Der Wachstumsschub wurde nicht untersucht.
Ein Prozent der Gesamtbevölkerung ernährt sich vegetarisch. Bei Frauen Anfang 20 mit Abitur liegt die Rate bei über sieben Prozent. Auf die Studie bezogen ist dieser Kreis ziemlich klein, gestand Thorsten Heuer. Aber zumindest hat die Studie einen Konsumentenkreis hervorgebracht, deren Ernährungsweise noch weiter untersucht werden kann. „Der Trend ist da.“

28 Prozent der Deutschen nehmen Supplemente (Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Medikamente) ein, 31 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer. Hierbei steigt bei beiden zunächst die Einnahme bis 35 Jahre, fällt dann ab, um in der Altersgruppe ab 51 bis 80 Jahre wieder deutlich anzusteigen (bei den 65 bis 80-jährigen Frauen auf 43 % und den gleichaltrigen Männern auf 30 %). (NVS II)

Das Beispiel verdeutlich, was mit den Daten noch alles korreliert werden kann.
Die wenigsten übergewichtigen Männer haben Hamburg und Bremen. Das nördliche Nachbarland Schleswig-Holstein hat die übergewichtigsten. In Thüringen und Sachsen sind die meisten übergewichtigen Frauen, während sie in den beiden Hansestädten am schlanksten sind. Das kann auf den Lebensstil zwischen Großstadt und ländlichen Raum hinweisen, vermutet Dr. Andrea Straßburg.
Was im Basisbericht noch fehlt, sind die Angaben der sportlichen Aktivitäten.

Ungelöste Ampelfrage
Die NVS II hätte schon längst vorliegen sollen. Ein Pressetermin im Herbst 2007 wurde kurzfristig wieder abgesagt. Seitdem warten alle auf die Ergebnisse der Studie und verbinden hohe Erwartungen an sie. So nehmen Lebensmittelindustrie und Verbraucherschützer unterschiedliche Positionen in der Nährwertkennzeichnung ein. Beide suchen Argumentationsfutter für ihre Vorschläge. Die Studie hat untersucht, wo Verbraucher sich über Ernährung informieren, aber nicht wie. An erster Stelle steht das Print-Medium, an zweiter die Lebensmittelverpackung, dann Freunde und Familie und das Fernsehen auf Platz vier, so Heuer. Mindestens einmal die Woche werden Print und Verpackung als Quelle zu Rate gezogen und sechs Prozent der Verbraucher schauen sogar täglich auf die Verpackung.

EU schlägt Lebensmittelkennzeichnung vor
Gestern hat die EU einen Vorschlag zur Kennzeichnung von Lebensmitteln eingereicht. Gesundheitskommissar Markos Kyprianou: „Die Etikettierung von Nahrungsmitteln kann die Kaufentscheidung von Verbrauchern enorm beeinflussen. Unübersichtliche, überfrachtete oder irreführende Etiketten können dem Verbraucher mehr schaden als nutzen.“ Priorität für die Lebensmittelkennzeichnung soll die Gesundheit der Bürger sein. Es sollen dem Verbraucher Instrumente in die Hand gegeben werden, „die sie für eine sachkundige Entscheidung im Hinblick auf ihre Ernährung benötigen“, teilte die EU mit. Der Vorschlag sieht vor, dass auf der Packungsvorderseite der Gehalt an Energie, Kohlenhydrate unter spezieller Nennung von Zucker und Salz, Fett und gesättigten Fettsäuren pro Portion oder pro 100 ml/g deutlich angegeben werden müssen. Die Angaben sind auf die empfohlene Tagesdosis zu berechnen.
Verbraucherschützer kritisieren den Entwurf. Ruth Veale von der Europäischen Verbraucher-Organisation (BEUC): „Verbraucher müssen die Nährwertangaben auf einen Blick verstehen können. Deshalb brauchen wir eine einfache, einheitliche Regelung in Europa.“ Die einzelnen Mitgliedsländer können über die Form der Angaben selbst entscheiden. So hält sich auch Sabine Henssler vom Verband der Europäischen Lebensmittelindustrie zurück: „ Wenn verschiedene nationale Kennzeichen existieren dürfen, gefährdet das den Binnenmarkt.“
Die Kennzeichnung wird auch nur für verarbeitete Lebensmittel gelten. Auf der Wurst müssen sie stehen, auf dem Kotelett nicht. Obst und Gemüse brauchen ein Kennzeichen nur, wenn sie aus der Tiefkühltruhe kommen.
Karin Binder, Sprecherin für Verbraucherpolitik der Fraktion „Die Linke“ fordert anlässlich der Verzehrsstudie und des EU-Vorschlags die Ampellösung: „Die Absage von Verbraucherminister Seehofer an das Ampelkennzeichnungssystem nach britischem Vorbild geht vor diesem Hintergrund völlig an den ernährungspolitischen Herausforderungen vorbei. Fett- oder zuckerreiche Kalorienbomben müssen beim Einkaufen auf den ersten Blick zu erkennen sein.“
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Allerdings hat die Studie nicht die Qualität der Information beurteilt, räumte Heuer ein. Die Antwort, ob Verbraucher nur drauf schauen und welche Schlüsse sie daraus ziehen, bleibt die Studie schuldig. Und die Ampelfrage weiter ungelöst.

Monitoring schließt sich an
Bislang haben die Studien in der Vergangenheit jeweils nur einen Augenblick eingefangen. Der NVS II soll sich ein Monitoring anschließen, durch dass Strategien gegen das Übergewicht und für die „Bezahlbarkeit des Gesundheitssystems“, so Präsident Dr. Christian Grugel vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), über einen Zeitraum hinweg bewertet werden können. Im Sommer 2008 soll es eine internationale Tagung mit Amerikanern, Skandinaviern und weiteren europäischen Ländern geben, um Erfahrungen mit vergleichbaren Datenerhebungen und durchgeführten Strategien auszutauschen.

Haupteinkaufsgeschäft bleibt der Supermarkt (90 %) vor dem Discount (77 %) und Fachgeschäft (77 %). Es folgen Wochenmarkt und Naturkostläden, wo Menschen mit höherem Einkommen einkaufen.
In der geäußerten Wichtigkeit für die Produktauswahl stehen Geschmack und Frische mit 97 bzw. 96 Prozent ganz vorne. Es folgen das Mindesthaltbarkeitsdatum (86 %), Gesundheit (83 %) und Tierhaltung (75 %). Der Preis wurde erst an 12. Stelle genannt. (NVS II)

Für Deutschland werden die Daten der NVS II in den „Aktionsplan Ernährung“ münden, der eine Ernährungsstrategie bis 2020 erarbeiten soll.
Messung KörpergrößeDie Ergebnisse haben für Verbraucher auch eine direkte Bedeutung. So bewertet das Bundesinstitut für Risikobewertung Rückstände, Fremdstoffe oder Nahrungsmittelergänzungen und Zusatzstoffe auf der Basis der tatsächlich aufgenommenen Lebensmittelmenge. Mit dem zweiten Teil bekommt die Risikobewertung eine neue und aktuelle Grundlage. Deshalb werden die Daten auch an die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA weiter geleitet.
Einen Wermutstropfen gilt es noch auszuräumen: Dr. Ulrich Oltersdorf, der die Studie mit konzipiert hat, stellte fest, dass ab dem 01. Mai die Arbeitsgruppe NVS II in Karlsruhe aufgelöst wird. Das Landwirtschafts- und Verbraucherministerium müsse sich Gedanken über die Weiterfinanzierung machen, so Dr. Oltersdorf.

Lesestoff:
Die NVS II wurde als Ressortforschung durch die Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel begonnen, die durch die Neuordnung 2008 in das Max Rubner-Institut in Karlsruhe überführt wurde. Die Studie gibt es im PDF-Volltext auf der Seite www.was-esse-ich.de

Roland Krieg; Fotos: MRI

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