Milchzuckerintoleranz als Normalzustand?

Ernährung

Früher Europäer konnten keine Milch verdauen

Der Mensch nimmt als einziges Lebewesen noch im Erwachsenenalter Milch zu sich – und dann ist es noch die Milch anderer Tierarten.

Milchverdauung als evolutionäre Leistung
Die Fähigkeit von Erwachsenen, Milchzucker und damit Milch überhaupt verdauen zu können, hat in der Vorgeschichte der Entwicklung der Europäer wahrscheinlich eine entscheidende Rolle gespielt. Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und des University College in London haben herausgefunden, dass das Merkmal der so genannten Laktasepersistenz in Europa der frühen Steinzeit noch

Cirka jeder siebte Deutsche leidet unter Laktoseintoleranz und verträgt daher keinen Milchzucker. Der Körper weist mit Blähungen, manchmal mit Durchfällen darauf hin. Weitere Nebenwirkungen können Magendruck, Verstopfung, Hautprobleme, erhöhte Infektanfälligkeit und chronischer Müdigkeit sein. Treten solche Erscheinungen nach einem Glas Milch auf oder bereits nach einer Tasse Milchkaffee in der Kantine? Ein einfacher Atem- und Belastungstest beim Hausarzt kann hier Bestätigung bringen.
roRo

kaum vorhanden war. „Die Fähigkeit von uns Erwachsenen, Milch ohne Probleme zu verdauen, muss sich also später durch natürliche Selektion verbreitet haben“, sagt Prof. Joachim Burger vom Institut für Anthropologie. „Wahrscheinlich hat die Fähigkeit zur Milchverdauung sogar einen entscheidenden Selektionsvorteil bei der Entwicklung der sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter im mittleren und nördlichen Europa gebracht.“ Die Untersuchungen wurden jetzt in den Proceedings of the National Academy (PNAS) veröffentlicht.

Vorteil Laktasepersistenz
Laktase ist das Enzym, das im menschlichen Körper den Milchzucker verdauen hilft. Im Säuglingsalter liegt es beim Menschen in ausreichenden Mengen vor, wird aber nach dem Abstillen nur noch in viel geringeren Maße produziert. Dann wird die Milch im Erwachsenenalter physiologisch sehr schlecht verwertet. So ist es auf der ganzen Welt, nur nicht in Europa und Teilen Afrikas. Vor allem Nordeuropäer produzieren Laktase über das Säuglingsalter hinaus. Bei einigen wenigen Bevölkerungen in Afrika hat sich diese Fähigkeit wohl unabhängig voneinander entwickelt.

Laktose ist aus Glucose und Galaktose aufgebaut. Beide Zucker werden von der Laktase gespalten, um vom Körper aufgenommen werden zu können. Sonst erreichen beide unverdaut den Dickdarm und werden von der Bakterienflora zu Gasen und Säuren abgebaut. Das führt zu den Blähungen und zur Reizung der Darmschleimhaut. Außerdem zieht der Milchzucker Wasser aus dem Gewebe, was zum Teil heftige Durchfälle hervorbringt.
Die Laktoseintoleranz nach dem Säuglingsalter wird hauptsächlich vererbt. Aber auch die Ernährungsgewohnheit soll eine Rolle spielen. Eine Unverträglichkeit liegt vor, wenn 200 Milliliter Milch, das sind 8 bis 10 Gramm Laktose, zu Problemen führen.
Reformhaus

Rund 70 Prozent der Norddeutschen, Skandinavier und Niederländer weisen diese Persistenz auf. Die Häufigkeit nimmt nach Süden hin ab und ist in Italien gänzlich abwesend. Die Paleogenetiker aus Mainz haben nun nachgewiesen, dass sich diese Verteilung erst in den letzten 8.000 Jahren herausgebildet hat. Zusammen mit den englischen Kollegen haben sie Skelette aus dem Meso- und dem Neolithikum mit molekulargenetischen Methoden untersucht. Das entspricht dem Zeitraum der so genannten neolithischen Revolution, als die Jäger und Sammler zu Ackerbauern und Viehhaltern wurden. Die Laktasepersistenz war den Europäern zu diesem Zeitpunkt noch nahezu unbekannt. Die Mehrzahl der frühen Bauern konnte die Milch der um 8.000 ersten domestizierten Ziegen, Schafe und Rinder folglich noch gar nicht vertragen. Lediglich eine kleine Minderheit, die Ahnen mit der Laktasepersistenz, spielten ihren evolutionären Vorteil der Milchzuckerverdauung im Erwachsenenalter aus. Sie wurden über tausende von Jahren so lange von der Evolution bevorzugt, dass die Häufigkeit ihres Merkmals von nahezu Null auf 70 Prozent gestiegen ist. „Milch ist ein energiereiches Getränk, dass außerdem noch reich an Kalzium ist“, erklärt Martina Kirchner, die in den Mainzer Laboren die prähistorische Laktasepersistenz untersucht hat. „Mit Milch konnte die Rate der Kindersterblichkeit nach dem Abstillen reduziert werden und außerdem konnten Jahre mit schlechter Ernte energetisch substituiert werden.“

Gen mit hoher Priorität
Milchzucker physiologisch verwerten zu können, muss in der Vorgeschichte einen derart hohen evolutionären Vorteil bedeutet haben, dass die Experten nun in diesem Zusammenhang „von dem Gen mit der möglicherweise höchsten positiven Selektion im gesamten menschlichen Genom sprechen“. Populationsgenetiker Mark Thomas vom University College: „Das ist der erste direkte Nachweis von positiver Selektion beim Menschen.“ Der Zeitraum von 8.000 Jahren ist in der Evolution weniger als ein Wimpernschlag – die Selektion muss in hohem Maße stattgefunden haben.

Heute gibt es zahllose Alternativen zu Milchzucker. Bei der Ernährungsumstellung hilft ein Ernährungs- oder Diätberater. Neben Milch und Joghurt ohne Laktose gibt es zahlreiche Produkte aus Soja, Reis oder Hafer. Mandeldrinks sind nicht nur exotisch. Sojacreme oder Kokosmilch kann als Ersatz für Sahne genommen werden.
In Naturkostfachgeschäften und Reformhäusern gibt es bereits eine Vielzahl an Laktosefreien Fertiggerichten, so dass auf keine Produkte mehr verzichtet werden muss. Meist gibt es dort auch Infomaterial und Rezepte für eine laktosefreie Ernährung.
roRo

Möglicherweise wurde die Verträglichkeit durch kulturell-soziale Faktoren noch weiter angetrieben. Es sei gut denkbar, dass die laktosepersistenten neolithischen Viehbauern auf Grund ihrer wertvollen Milch- und Fleischressource nicht mehr nur mehr Kinder ernähren, sondern zugleich mehr Prestige und Macht entfalten konnten, weshalb gesteigerter Wohlstand und hohe Nachkommenzahl sich von Generation zu Generation immer fester bei den Vieh- und Milchbauern etablieren konnte.

Lesestoff:
Joachim Burger, Martina Kirchner, Barbara Bramati, Wolfgang Haak, Mark G. Thomas. Absence of the Lactase-Persistence associated allele in early Neolithic Europeans. PNAS, Februar 2007

Uni Mainz, roRo

Zurück