Nahrung nach Norm
Ernährung
Agrarindustrie im 19. Jahrhundert
Früher war ja bekanntlich alles besser!? Aber war das Essen früher wirklich ungefährlicher? Zumindest hat eine aktuelle Doktorarbeit erstaunliche Parallelen zwischen der heute kritisierten Agrarindustrie und der Ernährungsindustrie des 19. Jahrhundert gezogen. Wendepunkt war der Wechsel vom Selbstversorgungssystem zur Verbrauchswirtschaft.
Gleiche Debatte in der Geschichte
Vera Hierholzer vom Historischen Seminar der
Goethe-Universität weist in ihrer Doktorarbeit „Nahrung nach Norm“ nach, dass
hochklingende wissenschaftliche Produktbezeichnungen, zahlreiche
Qualitätssiegel und ausführlicher werdende Verpackungsinformationen auch
bereits Ende des 19. Jahrhunderts bewusste Kaufentscheidungen suggerieren,
letztlich jedoch „Realitätsfiktionen“ sind. Zwischen Verbrauchern und
Nahrungsmittelherstellern entstehen Informationsasymmetrien, die nur über
„Vertrauen“ überbrückt werden können. Vor rund 150 Jahren bildete sich diese
„Keimzelle“ heraus, als die Menschen vom Selbstversorger zum
Verbrauchskonsumenten in einer arbeitsteiliger werdenden Gesellschaft wurden.
Die Distanz zwischen Verbraucher und Erzeuger wurde immer größer.
Zudem war es die Zeit als neue Zusatzstoffe, die
Margarine und der Brühwürfel auf den Markt kamen. Da die Konsumenten nicht
informiert wurden, was das alles genau sei, wuchs die Unsicherheit gegenüber
den Produkten und Herstellern. Gleichzeitig begann der Aufstieg der
Ernährungsforschung und sensibilisierte die Kunden mit neuen wissenschaftlichen
Erkenntnissen.
Interessensgruppen bilden sich
Vera Hierholzer beschreibt in ihrem Buch den Weg bis
zum reichseinheitlichen Nahrungsmittelgesetz von 1879. Dabei ging es schon um
den Aufbau einer flächendeckenden Kontrolle. Wissenschaftliche Fachverbände der
Nahrungsmittelindustrie setzten ergänzend zur staatlichen Normierung eigene
Qualitätsstandards auf. Die Schokoladenindustrie begann als erste ihre Produkte
regelmäßig zu kontrollieren und vermarktete das mit einem
öffentlichkeitswirksamen Siegel.
In dieser Zeit etablierten sich auch die ersten
Verbrauchervereinigungen. Ähnlich wie heute warfen Politiker und
Wissenschaftler den Konsumenten vor, sich ausschließlich am Kaufpreis zu
orientieren, was Panschereien Vorschub leisten würde. Ratgeber, Zeitungsartikel
und Vorträge versuchten das zu korrigieren – was aber vor allem angesichts des
niedrigen Lebensstandards an der Realität vorbei ging, so Hierholzer.
Am Ende jener Zeit hatten sich die heute uns bekannten
Grundprinzipien im Agrar- und Ernährungsgewerbe etabliert, die nach jedem neuen
Skandal neu austariert wurden.
Lesestoff:
Vera Hierholzer: Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871 bis 1914. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 190; Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2010; ISBN 978-3-525-37017-9; 57,95 Euro
Roland Krieg