Neugierig und voller Sehnsüchte
Ernährung
Verbrauchermosaik
Handel, Wissenschaft, Politik und Industrie haben auf dem zweitägigen Berliner Kongress „Lebensmittel & Ernährung der Zukunft“ gezeigt, dass sie mehrheitlich gewillt sind, den Verbraucher in seiner Selbstbestimmtheit anzusprechen. Er entscheidet für sich und seine Zukunft, welche Gesundheitsbalance er mit seiner Auswahl an Lebensmittel einstellen wird. Zwischen welchen Bestimmungskomplexen aber bewegt sich der Konsument tatsächlich, wenn er Nahrung nicht nur zur Befriedigung seines Nährstoffbedarfes aufnimmt, sondern auch noch sinnliche und kulturelle Bedürfnisse zu decken weiß?
Die Evolution des Verbrauchers
Ernährungsexpertin Mag. Hanni Rützler aus dem Wiener Futurefoodstudio zeigte mit dem Bild einer barocken Speisetafel in einem Schloss, dass Essen auch schon immer mit Macht und Selbstinszenierung zu tun hatte. Es ist nicht nur eine rationale Angelegenheit. In der vergangenen agrarischen Zeit zwischen 4.000 v. Chr. und der industriellen Revolution hatte Essen einen großen Stellenwert, wenn es darum ging sich und seine Familie satt durch den Winter zu bekommen. Jetzt gewinnen im postindustrialisierten Zeitalter der Massengüter und industriellen Nahrung solche Sehnsüchte nach elementaren Werten auch wieder an Bedeutung, so dass der Verbraucher nicht „schizophren“ in seinem Verhalten ist, aber moderne und vergangene Esskultur gleichzeitig erfährt.
Die Menschen haben es heute ja sogar geschafft die Jahrtausende währende Sehnsucht nach dem Schlaraffenland zu realisieren: 230.000 verschiedene Lebensmittel und immerwährende Verfügbarkeit. Nur gelernt hat der Mensch noch nicht, damit umzugehen.
Menschen sind von Natur aus Neugierig und wir werden immer neue Lebensmittel ausprobieren, so Hanni Rützler. Was der Mensch noch entwickeln muss, ist der Wandel vom „braven Aufesser“ in der Not zum kritischen Konsumenten im Überfluss: Was schmeckt mir aus der Warenwelt, was will ich und was brauche ich?
Neben dieser individuellen Evolution macht die Buchautorin auch gesellschaftliche Entwicklungen aus, die sie als Megatrends für die Zukunft des Essens festlegt. Die Globalisierung und Industrialisierung der Arbeit führt zu gastronomischen Innovationen und schneller wachsenden Ess-Moden. Die flexible Arbeitszeit verschiebt die Essenszeiten: Frühstück bis 11:00 Uhr, Mittagessen bis 15:00 Uhr und Abendessen bis 23:00 Uhr.
Dabei zerteilt sich auch der komplexe planbare Lebenslauf von Jugend, Heirat und Familie bis zur Rente. Im Lebensverlauf haben Menschen mehrere Familien hintereinander, leben in verschiedenen Stadien das Singleleben bewusst aus und wollen mit 60 immer noch so jung und dynamisch sein, dass sie sich beruflich wieder neu orientieren können. Die Scheidungsrate in Wien liegt bei 50 Prozent – die Rate für eine neue Heirat dann aber auch wieder bei über 50 Prozent. Mit dieser Vielzahl an neuen und wechselnden sozialen Verhältnissen ändert sich auch die Esskultur. „Die Menschen orientieren sich kulinarisch neu“ und sie beginnen die Haushaltsarbeit zu outsourcen. Verbraucher werden zu individuellen Essern, beschreibt Rützler die für Marketingexperten „unfassbaren“ Verbraucher.
Ein weiterer Trend ist die Feminisierung der Gesellschaft. Immer mehr Frauen bilden sich weiter aus und machen Karriere. Trotzdem behalten sie immer noch die Hauptlast der Hausarbeit. Streit gibt es in den Familien aber dennoch nicht, weil die Industrie den Bedürfnissen entgegen kommt: Beispielsweise füllen Fertiggerichte die zeitkritische Spanne der Essenszubereitung nach Feierabend und zwischen Versorgung und Freizeit. Das veränderte Zeitmanagement führt auch zu steigenden Außer-Haus-Verzehr. Dabei verändern Frauen mit ihren Vorlieben für bestimmte Kost den Markt: sie verzehren mehr Obst und Gemüse, „leichtes“ Fleisch, nehmen häufiger kleinere Mahlzeiten ein und achten bewusster auf Lebensmittelqualität.
So futuristisch die Betrachtungen der Ernährungswissenschaftlerin scheinen, so real sind auch Grenzen. Die wachsende soziale Disparität lässt nicht alle Menschen am Überfluss teilhaben. Für viele Menschen hat Nahrung immer noch einen elementareren Stellenwert.
Ihr Tipp für die Ernährungsberatung: „Die rationale Ernährungsempfehlung unterschätzt die Kraft des Genusses.“
Seelentröster Aldi
Tiefenpsychologe Jens Lönneker, Geschäftsführer des rheingold Institut für qualitative Markt- und Medienanalyse, hat drei Ernährungstrends herausgearbeitet, die viele Formen der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten auflösen.
Kaum ein Verbraucher will für sein Essen heute noch Hühner rupfen, Fischköpfe abtrennen und Innereien herausnehmen. Er bezeichnet das als Ent-Sinnlichung, die sogar so weit geht, dass ohne Etikett kaum noch jemand erkennen kann, ob in der Verpackung Pute, ein Hühnchen oder anderes Fleisch steckt. Die Nahrungszubereitung wird delegiert, um eine möglichst „reine“ und „saubere“ Nahrung kaufen zu können.
Bei der Ent-Rythmisierung lösen sich die traditionellen Essenszeiten auf und bei der Ent-Bindung löst sich das Mahl von der familiären Bedeutung. So wurde früher bestraft, wer zu spät zum Essen kam. Und heute: „Jeder geht zum Kühlschrank, holt sich etwas zum Essen heraus und wir setzen uns vor den Fernseher“, berichtet der Psychologe aus seinen Tiefeninterviews mit Verbrauchern.
Die Menschen und gerade die jungen leben in ihren situativen Lebensverfassungen. So sind sie zu Hause durchaus gesundheitsbewusst, aber wenn sie mit ihrer Clique unterwegs sind, stehen andere Bilder im Vordergrund – und beides ist real.
So lernt die Werbung, den Menschen in seiner „Verfassung abzuholen“.
Auch wenn Schokolade immer Schokolade bleibt, so kann sie ganz unterschiedlich beworben werden und verschiedene Menschen ansprechen: Eine elegante Frau mit Schmusepullover und mit klassischer Musik untermalt, präsentiert eine Tafel Schokolade, während Sportler bei der Musik von Rod Stewart in einen „jugendlichen Actionriegel“ beißen. Da ist durchaus Potenzial für neue Produkte.
Allerdings hat die ständige Produktinnovation ihre Grenzen. Mit Produktflimmern bezeichnet Jens Lönneker die Unschärfe zwischen vergleichbaren Produkten: Ein Shampoo für normales, eines für trockenes und eines für fettiges Haar reicht den meisten Menschen aus. Die Regalwand mit 20 Sorten überfordert den Verbraucher. Der wehrt sich mit eigenen Strategien gegen das Produktflimmern: Er kauft nach blindem Automatismus immer das gleiche, meidet Regalgänge und ganze Etagen, die ihn verwirren und grenzt Neuigkeiten hart aus. Eine räumliche Umstellung des Sortiments im „gewohnten“ Laden macht Verbraucher schon orientierungslos.
Viele kaufen deswegen bei Aldi, weil er nicht der billigste ist, sondern weil der Discounter nach klassischer Kaufmannsmanier die Ware bereits aussortiert hat. „Die Reduktion auf das Wesentliche ist die Befreiung von der Wahl. Discounter sparen eher seelische, als ökonomische Kosten.“
Dadurch haben die Harddiscounter mittlerweile einen Marktanteil von 40 Prozent erreicht. Diese Ära geht aber zu Ende, denn, so Lönneker, auch die Billigläden beginnen, nach Mehrwert zu suchen. Sie listen Qualität und punkten beim Kunden mit Bioware und Transfair-Produkten. Der klassische Lebensmitteleinzelhandel umsorgt die Kunden mit Innovationen.
Roland Krieg
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