Pioniere des Schulobstes

Ernährung

Schulernährung Obst und Gemüse

Die Grundschule in Asemissen bei Bielefeld hat 260 Schüler. Montags und mittwochs werden Obst und Gemüse in einen eigenen Lagerraum geliefert. Der Fahrer kommt noch vor Schulbeginn und hat einen eigenen Schlüssel. In der Hofpause wird das Frühstück gemacht und der Obstdienst der dritten und vierten Klasse bereitet das Essen vor, für die erste und zweite Klasse hilft der Lehrer. Schulleiterin Simone Kropp berichtete auf dem Fachforum „Gesunde Schulernährung“ des Deutschen Bauernverbandes (DBV) und der Landfrauen, dass in der Sachkunde das Thema schon vorher unterrichtet wurde. Jetzt komme noch die Praxis dazu. Die Pause reicht von der Zeit zwar nicht immer aus, aber angesichts des Erfolgs bei den Schülern wird das in Kauf genommen. Das im Rahmen des Schulobstprogramms verteilte Obst hat zudem einen sozialen Mehrwert, wenn es in den Klassen um die gerechte Aufteilung der letzten Banane geht.
Ist das Schulobstprogramm der EU also eine Erfolgsgeschichte?

Enttäuschende Zahlen

Nach aufzehrendem Streit in Deutschland nehmen derzeit nur sieben von 16 Bundesländern an dem europäischen Schulfruchtprogramm teil. Dr. Helmut Born, Generalsekretär des DBV, zu wenig. Von den 90 Millionen Euro, die von der EU zur Verfügung gestellt werden, wurden im ersten Jahr nur 34 Millionen von en Mitgliedsstaaten abgerufen. Auch hier gibt es nach Dr. Born einiges zu verbessern. Der Aufbau von Ganztagsschulen halte angesichts von fehlernährten Kindern neue Herausforderungen durch und in der Schulverpflegung bereit. Vielen Kindern sind heimische Beeren und Früchte schlicht weg unbekannt.

Gesundheitspolitische Aufgabe

Obst und Gemüse sind nach Dr. Evelyn Schmidtke, Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Landfrauenverbandes (dlv), natürliche funktionelle Lebensmittel. Der Verzehr von Vitaminen und Mineralien sowie sekundärer Pflanzenstoffe habe eine gesundheitspolitische Bedeutung. Ernährungswissenschaftler empfehlen jeweils 220 Gramm Obst und Gemüse am Tag. In Deutschland liegt der Verzehr aber nur bei 134 Gramm Obst und 106 Gramm Gemüse. Dieser Lückenschluss müsse durch das Schulfruchtprogramm ausgefüllt werden.
Gerade die heutige Generation habe eine noch nie da gewesene Fülle an Obst und Gemüse zur Auswahl, deren Verfügbarkeitslücken durch Importe zusätzlich sinnvoll ergänzt werden können. Das Schulobstprogramm eigne sich in besonderer Weise alle sozialen Schichten in der Gesellschaft zu erreichen. Je schmaler der Geldbeutel ist, desto fettreicher werde gegessen.
Dr. Schmidtke bedauerte, dass von den nicht teilnehmenden Ländern niemand an dem Fachforum teilnehme. Berlin begründete seine Absage an dem Schulobstprogramm mit dem Hinweis, dass Obst und Gemüse bereits in der gewährten Schulverpflegung enthalten sei. Schmidtke aber warnte, Schulobst und Schulverpflegung nicht gegeneinander auszuspielen.
Immerhin haben mit Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen drei weitere Länder eigene Programme aufgelegt.

Gesundheits-Wert

Die Aktion „5 am Tag“ hat verschiedene Programme ausgewertet und kommt auf Kosten zwischen 20 und 35 Cent pro Portion, erläutert Geschäftsführer Helmuth Huss. Bei rund 170 Schultagen im Jahr und Portionskosten von 30 Cent je Schüler summieren sich die Kosten auf 51 Euro je Kind, von denen die EU die Hälfte finanziert. Im Vergleich: Rudy Van der Stappen von der EU und Mitbegründer des Schulobstprogramms erklärte noch einmal den Hintergrund für die Idee. In den 27 EU-Ländern sind 22 Millionen Kinder übergewichtig und 5,1 Millionen adipös. Letztere brauchen eine medikamentöse Behandlung und es kommen jährlich rund 1,2 Millionen Kinder hinzu. Die Kosten für Behandlung werden europaweit auf 150 Milliarden Euro beziffert. Das Übergewicht unterhalb der Adipositas ist da noch nicht einmal berücksichtigt. Für Helmuth Huss ist die Versorgung der Kinder mit Obst und Gemüse ein „lohnendes Ziel“.

Das Gesamtkonzept

Es geht nicht nur darum, Obst und Gemüse in Kinderhände zu geben. Auch die EU will mit dem Bezug zur Landwirtschaft und dauerhafter Änderung der Verzehrsgewohnheiten mehr erreichen. Also ist das Gewicht der Kinder auch nicht das ausschlaggebende Kriterium, so Prof. Dr. Barbara Methfessel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Die Nationale Verzehrsstudie hat gezeigt, dass es viele Jungen und Mädchen gebe, die angesichts des „Schlankheitswahn“ genauso fehlernährt sind, wie die Übergewichtigen. Das Schulobstprogram ist nur ein Bestandteil im Konzept der gesunden Ernährung.
Jugendliche und Erwachsene kaufen lieber „Entschlackungsmittel und Vitaminpillen“ als direkt zu frischem Obst und Gemüse zu greifen. Die gesundheitliche Bedeutung der Nahrung ist oft unbekannt. Auch wissen viele nicht, dass der Urapfel allen gar nicht mehr schmecken würde und Granny Smith nicht für einen Apfelkuchen geeignet ist. Erst über die Kulturgeschichte, dem Wissen über den Produktionsprozess wird Nahrung in Wert gesetzt und geschätzt. Die Umsetzung dieser Aufgaben führe zu einem mündigen Verbraucher.

Viele Hürden

Die EU wird im Frühjahr 2011 eine erste Evaluierung über das Schulobstprogramm ausarbeiten. Van der Stappen berichtete aber schon in Berlin über die ersten Erfahrungen. Probleme treten vor allem in den Ländern auf, die noch keine Erfahrung mit vergleichbaren Projekten hatten. Mängel gab es dann bei der Logistik und der Zubereitung im Klassenraum. Einige Mitgliedsländer standen mit ihren eigenen Strategien dem EU-Programm im Wege, manche Lieferanten und Erzeuger weigerten sich kleinere Städte zu beliefern, Schulen war das Programm nicht ausreichend bekannt oder die nationale Kofinanzierung bereitete Probleme.

Nichts Unlösbares

Österreich hingegen zeigt, dass es keine unlösbaren Probleme gibt. Michaela Schwaiger aus dem Lebensministerium berichtete, dass es generell keine Schulverpflegung im Alpenland gibt, weil die Kinder mittags nach Hause gehen und Ganztagsschulen nicht eingeführt sind. Trotzdem wird das Schulobstprogramm nach einer Pilotphase umgesetzt. Im Schuljahr 2010/2011 nahmen 280 Schulen und 80 Kindergärten teil. Für das neue Schuljahr sind bereits 2,6 Millionen Euro für die Fortsetzung eingeplant.
Dabei haben sich die Österreicher nicht durch richtige Hindernisse abschrecken lassen. Die Stadt Wien hat den Organisatoren eine dreiseitige Zulassungsbeschreibung zukommen lassen, was ein Lieferant zu beachten hat, bringt er Ware in die Schule. So müsse er Schutzkleidung und darf keine Straßenschuhe tragen. Das Abstellen von Kisten auf dem Boden ist verboten. Außerdem hat das Lebensministerium für die Ansprache von Kindergärten mehr als 400 verschiedene Träger identifiziert, die alle angesprochen werden mussten.
Mittlerweile ist das Schulobstprogramm Teil des Nationalen Aktionsplan Ernährung und „läuft gut“, so Schwaiger.
In den Niederlanden wurde das Schulfruchtprogramm im Januar bereits in 20 Prozent aller Schulen umgesetzt. Dahinter steht nach Kees van Leeuwen die Productschap, die ähnlich wie die frühere CMA in Deutschland funktioniert. Das Schulobstprogramm wurde in frühere Aktionen integriert. Seit 2003 läuft bereits ein vergleichbares Programm von Staat und Wirtschaft und mit dem Geschmacksunterricht ein pädagogisches Lernprogramm in der Schule. Das Schulobstprogramm stand im Herbst 2010 vor allem wegen der organisatorischen Probleme vor dem Aus, doch haben private Sponsoren die Finanzierung übernommen.
Nordrhein-Westfalen
hat das Schulobstprogramm als öffentliche Aufgabe verstanden und finanziert den ergänzenden Teil komplett aus Landesmitteln, erklärt Katharina Kassing. Das Land setzt das Programm vor allem auf bestehende regionale Partnerschaften wie der Vernetzungsstelle Schulverpflegung und dem Milchprogramm auf. Es gibt für eine Portionsgröße den Festpreis von 28 Cent, der für die Ware, die Lieferung und Kommissionierung reichen muss. Weil Obst und Gemüse in Klassenkisten angeliefert werden entfällt Verteilungsarbeit in der Schule. Über eine Website finden Schule und Lieferanten zueinander. Aktuell werden 455 Schulen beliefert und 85.000 Kinder versorgt. 120 Lieferanten gibt es, von denen 15 Prozent auch Bioware liefern.

Der Erfolg

Nach Dr. Bettina Hartwig aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium ist das Schulobstprogramm in Deutschland ein Erfolg. Während des ersten Jahres haben die sieben Länder nur 80 Prozent der EU-Mittel ausgeschöpft. Für das zweite Jahr werden 94 Prozent der Mittel abgerufen. Die Zahl der versorgten Kinder stieg von 250.000 auf 550.000. Im Schuljahr 2011/12 werden bereits 700.000 Kinder Obst und Gemüse genießen. Nach ersten Auswertungen essen Kinder 26 Prozent mehr Obst und 17 Prozent mehr Gemüse, ohne dass sie ihr Essverhalten zu Hause verändert haben. Für Dr. Hartwig ein Zeichen, dass die Portionen zusätzlich aufgenommen werden. „Wir sind auf einem guten Weg trotz Föderalismus“, resümiert sie.

Auf dem Weg zur Routine

Die EU, die Mitglieds- und Bundesländer haben mehr als erste Erfahrungen gemacht. Sie haben sich auf den steinigen Weg zur Routine durchgeschlagen. Griechenland war beispielsweise drauf und dran, auch Dosenpfirsiche zu verteilen.
Die Beispiele aus Österreich, den Niederlanden und Nordrhein-Westfalen haben exemplarisch gezeigt, dass in einem lernendem System das Programm umgesetzt werden kann. Einhellige Meinung war, dass nach Startschwierigkeiten bei Verwaltung und Organisation Routine die Arbeit leichter werden lässt.
Die Pioniere der Schulobstverteilung haben auch die folgenden Schwachpunkte aufgezeigt, die von den Nachfolgern gezielt angegangen werden können. Der personelle Aufwand in der Schule ist sehr groß. Es zeigt sich, dass es besser läuft, wenn eine Person, die auch ein älterer Schüler sein kann, den „Hut“ bei der Umsetzung auf hat. Für die Lieferanten wäre es einfacher, wenn sie nach Liefertagen und nicht nach Verzehrstagen abrechnen dürften. Soll der Lebensmittelhandel einbezogen werden, so ist auch dort die Feinsteuerung für die Verteilung nicht immer vorhanden. Das Aufsatteln auf vorhandene Programme ist am erfolgreichsten.
Und Simone Kropp von der Grundschule in Asemissen hat noch zwei weitere Bedenken, die im Vorfeld geklärt werden müssen: Auch Zusatzaufgaben, wie der Besuch eines Obsthofes kostet Geld und Zeit, ist kein Selbstläufer, und selbst Zubereitungsutensilien sind ein Kostenfaktor. Ihr Zulieferer hat der Grundschule den Apfelschäler spendiert.

Lesestoff:

Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen. www.evb-online.de
Seite der EU: http://ec.europa.eu/agriculture/fruit-and-vegetables/school-fruit-scheme/index_en.htm
Österreich: http://schulobst.lebensministerium.at
Niederlande: www.schoolgruiten.nl
Nordrhein-Westfalen: www.schulobst.nrw.de (Ab Montag neuer Webauftritt)

Roland Krieg; Fotos: Ralf Flucke

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