Reformulierung: Nicht gesund genug
Ernährung
Zwischenbilanz Reformulierungen nur ein Achtungserfolg
Zu viel Salz, zu süß, zu fett und zu kalorienreich. Die Lebensbedingungen der Menschen haben sich in den letzten 100 Jahren drastisch geändert. Die Alltagsbewegung tendiert gegen Null. Einige suchen Ersatz in Fitnessstudios. Auf der anderen Seite sind in den letzten Dekaden die Essportionen größer geworden, die Inhaltsstoffe haben sich entgegen den physiologischen Bedürfnissen in andere Richtung konzentriert. „Kinderlebensmittel“ spielen Bedürfnisse vor, die es nicht gibt. Salz, Zucker, Fett und Kalorien sind keine Gifte. Doch hohe Dosen des Quartetts sind ein Teil der allgemeinen Gesundheitsproblematik Übergewicht und Adipositas [1]. Ausgehend von der Weltgesundheitsorganisation WHO gibt es weltweit Bestrebungen die vier Bestandteile in Fertigprodukten zu verringern. Auch in Deutschland, schreibt das Max Rubner-Institut. Das MRI ist das Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel und begleitet die Reformulierung der Produkte wissenschaftlich.
Beispiel Salz in Schnittkäse
Käse weilt eine Zeit lang im Salzbad. Natriumchlorid (Salz) spielt bei der Käseherstellung und Käsereife eine wichtige Rolle. Das Salz ist eine Barriere gegen pathogene und Verderbnis erregende Bakterien. Es kontrolliert die Starterkulturen und die Reifungsflora. Außerdem beeinflusst es die Aktivität vieler Enzyme, den Wassergehalt sowie die Textur und den Geschmack. Je länger der Käse im Salzbad liegt, desto höher ist der Salzanteil. Alleine hygienische Fortschritte in den Käsereien haben in der Vergangenheit den Salzgehalt in Käse reduziert. Das MRI hat darüber hinaus Substitute wie Kaliumchlorid, spezielle Starter- und Zusatzkulturen ausprobiert. Zielgröße waren weniger 0,4 Prozent Na im Käse. Das traditionelle Salzbad erreichte bei Edamer einen Wert von 0,3 bis 0,35 Prozent Na-Salz. Bei der Verwendung anderer Mineralsalze konnte der Natrium wert auf 0,2 bis 0,3 Prozent gesenkt werden. Allerdings: ein höherer Kaliumgehalt wird von den Menschen als salziger, saurer und weniger bitter wahrgenommen. Die Experten haben die Wirkung des Austausches auf die mikrobiologische Zusammensetzung hin untersucht. In diesem Fall zeigte sich keine Erhöhung der Keimbelastung.
Das Beispiel zeigt, wie komplex eine Reduzierung von Salz, Zucker, Fett und Kalorien sein kann.
Reformulierungsprojekt
Die Wünsche, das Quartett in Fertigprodukten in geringeren Mengen einzusetzen, und vor allem bei Produkten, die sich an Kinder richten, deutlich auf die Bremse zu treten, hat das Bundeslandwirtschaftsministerium in eine Strategie umgesetzt und nach Runden Tischen mit der Lebensmittelindustrie über das MRI in Auftrag gegeben. Am Mittwoch hat Ministerin Julia Klöckner das Fazit eines Zwischenberichtes vorgestellt. „Fertigprodukte müssen gesünder werden“, sagte sie. Die Reformulierung ist in die Gesundheitsstrategie der erweiterten Nährstoffkennzeichnung NutriScore und Erhöhung der Ernährungsbildung und Ernährungskompetenz eingebettet. Die vom MRI erhobenen Daten in dem 130-Seiten-Bericht haben die Datenerhebung aus dem Jahr 2016 und 2018 (Erfrischungsgetränke) als Referenz. Das MRI zeigt in dem Bericht die Entwicklung der Gehalte bei Joghurtzubereitungen, gesüßten Quarkzubereitungen, Frühstückscerealien, Erfrischungsgetränke und Fertigpizzen auf. Schwerpunkt waren Produkte, die sich mit der Verpackungsoptik an Kinder richtet. Das MRI hat dabei die Zutatenliste noch auf Süßstoffangaben geachtet.
Die Ergebnisse
Im Vergleich zur Basiserhebung 2016 lag der Zuckergehalt in Quarkzubereitungen für Kinder um 18 Prozent niedriger. Der Energiegehalt hat um zehn Prozent abgenommen. In Knusper-Cerealien haben Zucker- und Energiegehalte um 17 Prozent abgenommen. Neue Kinderjoghurts kommen mit sieben Prozent weniger Zucker und 18 Prozent weniger Energie aus. Salz in Fertigpizzen nimmt tendenziell ab. Bei Erfrischungsgetränken wurde 35 Prozent weniger Zucker eingesetzt.
Auf den ersten Blick wirkt das gut. Doch Klöckner hat auch den zweiten Blick riskiert: Trotz Reduzierung liegen die Werte über den Gehalten von Produkten, die sich an Erwachsene richten. Ausnahme: Normales Müsli und Knuspermüsli. „Es geht in die richtige Richtung“, stellt Klöckner fest. Doch wo es hakt, muss nachgebessert werden.“ Namentlich bei den Frühstückscerealien.
Der Vergleich mit den Erwachsenenprodukten zeigt jedoch: Mehr als einen Achtungserfolg hat die Lebensmittelindustrie nicht hinbekommen. Dennoch setzt Klöckner weiterhin auf Freiwilligkeit. Staatliche Regeln soll es nur bei Säuglingsnahrung und Kleinkindertees geben.
„Erste Ergebnisse“
Die Diskussion um reformulierte Produkte währte schon lange vor der BMEL-Strategie. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie. Mit Blick auf die vorliegenden Reduzierungen gibt sich Christoph Minhoff vom Lebensmittelverband zufrieden „mit den ersten Monitoringergebnissen, denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir April 2020 haben und den Zielvereinbarungen erst in fünf Jahren vollständig umgesetzt werden sollten.“ Die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker (WVZ) warnt vor Trugschlüssen: „Zucker zu reduzieren, ohne gleichzeitig auch den Kaloriengehalt deutlich zu senken, hilft bei Übergewicht nicht weiter. Denn nur die Kalorienbilanz zählt, wenn wir das Thema wirklich anpacken wollen – wer mehr isst, als er verbraucht, nimmt zu.“ Das folgt den Einschätzungen des MRI. Oft wird zwar der Geschmacksträger Zucker reduziert, aber gegen den Geschmacksträger Fett ersetzt.
Frühstückscerealien
Das besonders schlechte Abschneiden der Frühstückscerealien hat sich offenbar abgezeichnet. Der AOK Bundesverband hat zusammen mit der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zu dieser Produktgruppe eine repräsentative Studie erstellt. 73 Prozent der Produkte überschreiten die WHO-Empfehlung von 15 Gramm Zucker je 100 Gramm Cerealien. Die überzuckerten Produkte stellen 39 Prozent der in den Haushalten gekauften Mischungen und doppelt so hoch wie in Haushalten ohne Kinder.
Dr. Sigrid Peter, Vizepräsidentin des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), sieht angesichts dieser Ergebnisse raschen Handlungsbedarf: „Wir müssen den Zuckergehalt in Fertigprodukten, Softdrinks und Frühstückscerealien dringend reduzieren, um die jüngere Generation vor Adipositas und anderen ernährungsbedingten Krankheiten zu schützen. Unser Ziel sollte es sein, dass die Geschmackspräferenz ‚süß‘ sich nicht an Zucker oder Zuckerersatzstoffen festmacht. Wenn wir den Zuckergehalt nach und nach verringern, wird sich auch das Geschmacksempfinden auf `weniger süß´ umstellen.“
Die zaghafte Umsetzung kritisiert Dr. Kai Kolpatzik von der Abteilung Prävention der AOK. „Der Zuckergehalt in Frühstückscerealien ist erschreckend hoch, speziell in Kinderprodukten. Vor diesem Hintergrund erscheinen die mit der Lebensmittelindustrie im Rahmen der Nationalen Reduktionsstrategie vereinbarten Ziele geradezu skandalös.“ Der Verband der Getreide-, Mühlen und Stärkewirtschaft (VGMS) berechnen ihre Reduktionsziele sogar 13 Jahre rückwirkend. Kolpatzik fordert eine verpflichtende Reduzierung in Schritten auf 15 Gramm – und nicht nur für den Bereich der Kinderlebensmittel, sondern für das gesamte Sortiment.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft ist geradezu „irritiert“ über die politische Bilanz der Ministerin: „Cornflakes mit Kinderoptik etwa enthalten im Median immer noch viermal so viel Zucker als andere Cornflakes. Der Bericht zeigt, dass der freiwillige Ansatz nicht funktioniert.“
Wie geht es weiter?
Klöckner sagte auch, abseits der Zielvereinbarung gebe es bereits viele neue Produkte mit deutlich reduziertem Quartett. Als nächstes steht ein neues Treffen mit den Experten vom MRI und der Ernährunsgindustrie an. Ende 2020 folgt noch ein weiterer schriftlicher Bericht.
Lesestoff:
Streit um Kinderlebensmittel: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/streit-um-kinderlebensmittel.html
Interview mit Dr. Angela Kohl vom BLL (heute Lebensmittelverband): https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/aufklaerung-statt-werbeverbote.html
Roland Krieg
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