Schulverpflegung: Aufgabe der Politik oder Eltern?

Ernährung

Berlin als Testfeld Deutschlands

>„Schülerinnen und Schüler sollten eine Mittagsverpflegung erhalten, die dem aktuellen Stand der Ernährungswissenschaft entspricht und die Anforderungen an eine nachhaltige Verpflegung berücksichtigt“ – so die Autoren der ersten bundesweiten Rahmenkriterien für die Schulverpflegung: Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Verbraucherzentralen und der Ökologische Großküchen Service (Herd-und-Hof.de vom 05.05.2005).
Die Schulverpflegung gewinnt durch die Einrichtung von rund 10.000 neuen Ganztagsschulen an Bedeutung. Einige Wochen später stellte Dr. Ulla Simshäuser vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) die „Leitlinien für eine Ernährungswende an den Schulen“ vor, prophezeite allerdings auch, dass der Mittagstisch neben einem neuen Stellenwert auch „zum Zankapfel“ wird.

Berlin zieht erste Bilanz
Mit dem neuen Schuljahr wurde in Berlin an fast 400 Grundschulen ein Mittagstisch eingeführt, weswegen gestern abend im Berliner Abgeordnetenhaus auf Einladung des IÖW eine erste Bilanzierung gezogen wurde. Schließlich sind 51 Prozent der Berliner Grundschulkinder nach Senatsangaben in diesem Schuljahr in Ganztagsbetreuung und bekommen ihr Mittagessen in der Schule – damit nimmt Berlin eine Spitzenposition innerhalb der Bundesländer ein. Doch wie sieht das Essen angesichts leerer öffentlicher Kassen aus? Christiane Knoppick, Schulleiterin der Grundschule unter dem Regenbogen in Berlin Marzahn: „Die Kinder und Jugendliche bekommen von ihren Eltern einfach kein Geld für das Mittagessen – und das bei einem Preis von 1,85 Euro pro Essen.“ Und der Ernährungswende gemäß sollte das Essen qualitativ und zu 10 Prozent aus ökologischem Anbau stammen.

Kosten
André Schindler, Vorsitzender des Landeselternausschusses in Berlin, führte an, dass die Kostenfrage oft wichtiger ist als die Qualität. Raumprobleme, die Zusammensetzung der Stundenpläne oder das gemeinsame Essen von Schülern und Lehrern treten dahinter zurück.
Erstrebenswert sei ein kostenfreies Essen wie es in Finnland vorgelebt wird, so Berlins Senator für Bildung, Jugend und Sport, Klaus Böger, aber das sei nicht zu finanzieren. In seinem Gedankenmodell könnte auf die Auszahlung des Kindergeldes verzichtet werden, um damit allen Kindern in der Schule nicht nur einen Mittagstisch zu bieten.
Allerdings meldeten sich auch Schulleiter, die beklagten, dass Eltern verlernt haben, mit Geld umzugehen. Die sehen in einer monatlichen Planung die Abbuchung für das Schulessen nicht voraus, weswegen bei Unterdeckung des Kontos die Kinder dann ausgeschlossen werden.
Als schwierig in Berlin wurde mehrfach angeführt, dass es verschiedene Schulformen gibt. In den offenen Ganztagsschulen zahlen die Eltern pro Monat und Kind 23 Euro. Der Rest wird vom Land bezuschusst, dass allerdings meist diese Gelder bei andern Budgets, wie beispielsweise der Schulreinigung, abzwacken muss. In den geschlossenen Ganztagsschulen schließen die Eltern einen privatrechtlichen Vertrag mit dem jeweiligen Caterer ab und bezahlen 40 Euro im Monat. Ist das Geld allerdings nicht pünktlich da, gibt es keines. Mehr Geld haben Schulen mit freien Trägern, die sich sogar noch Schulküchen und richtige Ernährungskunde leisten können. Bei soviel Heterogenität ist eine gemeinsame Lösung schwierig. Wobei allerdings eine Mutter das Modell der Lernmittelfreiheit anpries: Wer es sich leisten kann, der bezahlt die Bücher, und wer es sich nicht leisten kann, der ist von der Zuzahlung befreit. Das sei doch auf den Mittagstisch zu übertragen.

Qualität
Wichtig sei es, sich nicht in einer Geschmacksdiskussion zu verlieren, so André Schindler. Sabine Schulz-Greve von der Vernetzungsstelle Schulverpflegung Berlin beschriebt die Berliner Qualitätskriterien als Erfolgsmodell. Sie werden in den Ausschreibungen der Schulen für Caterer nicht nur in sieben Berliner Bezirken berücksichtigt, sondern mittlerweile sogar von anderen Bundesländern als Referenzmodell übernommen.
Doch gerade dort, wo die Vermittlung eines gesunden Lebensstiles besonders wichtig wäre – nämlich an Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien – bleiben die Plätze am Mittagstisch oft leer. Nur neun von 100 älteren Kindern der Marzahner Barlachschule nehmen das Angebot an, in der benachbarten Grundschule von Christiane Knoppick zu essen. Die anderen verzichten ganz, weil ab der 5. Klasse die Subventionen wegfallen. Das liege aber nicht nur an den Kosten, sagt die Schulleiterin. Die Kinder kennen Mittagessen von zu Hause als Kühlschrank, den sie aufmachen und sich das herausnehmen, was sie gerade mögen. Oder sie verpflegen sich im Fast Food Restaurant. Was den Eltern als gesund gilt, schmecke den Kindern oft gar nicht.
Daher ist die „Ernährungswende“ auch vielschichtiger als nur der Mittagstisch in der Schule. Thomas Korbun vom IÖW spricht vom „Analphabetentum in Sachen Ernährung“. Eine gesunde Ernährung vermeidet nicht nur Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen, sondern auch die sozialen Folgekosten, die anerkanntermaßen im zweistelligen Milliardenbereich liegen. Zudem besitzt die ökologische Komponente einen qualitativen Umweltaspekt. Kinder müssen, so Korbun, Ernährungs- und Verbraucherverhalten wieder lernen.
Unterstützung fand er bei einer Ernährungsberaterin im Publikum die pointierte: „Wir essen nicht was wir mögen, sondern mögen was wir essen.“ Wenn Kinder und Eltern nur gesüßte Joghurts kennen und diesen einmal selbst herstellen sollen, dann wird er ihnen überhaupt nicht schmecken: egal ob die Zutaten aus dem ökologischen oder konventionellen Landbau stammen. Die Geschmacksprägung ist für unverfälschte Lebensmittel bereits verloren gegangen. Daher bietet die Schule eine Riesenchance, das neu zu entdecken, so Korbun.

Verantwortung
Klaus Böger geht davon aus, dass die Eltern ein eigenes Interesse haben, ihre Kinder in der Schule verpflegt zu sehen. Dem allergrößten Teil der Eltern sei das Thema Mittagstisch aber egal, wie es aus dem Publikum hieß. Daher liege die Verantwortung in der Durchführung bei der Schule. Schließlich sollen die Kinder einmal verantwortungsbewusster mit diesem Thema umgehen, als manche ihrer Eltern. Die Kinder lernen über die Wertschöpfungskette Lebensmittel einmal etwas für sich selbst und für die Zukunft.
Einige Eltern haben sich auch schon über den Caterer beklagt. Was geliefert wurde, entsprach nicht den Vorstellungen. Die Bezirksämter bieten eine Vorauswahl an Firmen an, die ihre Angebote unterbreiten dürfen. Fünfzig Prozent der Entscheidung bestimme der Preis, die andere Hälfte die Qualität, wie Salzgehalt oder Konsistenz. Das ist manchen Eltern zu wenig und würden gerne einen anderen Lieferanten wählen. Das gehe, so ein Schulamtsleiter, bei Ablauf des Vertrages oder während einer Probezeit bei berechtigten Einwänden. Dabei müsse man allerdings aufpassen, dass die Meinungen mitunter sehr verschieden sein können, warnte Sabine Schulz-Greve: Oft steht ein kleines engagiertes Grüppchen der gleichgültigen Mehrheit gegenüber. Was bei einem Lieferanten in einem Stadtteil als gut bewertet wird, kann in einem anderen Stadtteil durchfallen.
Christiane Knoppick beschrieb den Qualitätsprozess in Marzahn: Dort können Eltern eine Eingabe machen und das Essen jederzeit überprüfen. Die Schule macht einen täglichen Qualitätscheck. Der Caterer schickt dann einen Kundenberater in die Schule, wobei es oftmals bereits am nächsten Tag eine Verbesserung gäbe. Die Kommunikation zwischen Caterer, Schule und Eltern müsse stimmen.

Wir üben noch
Schulessen? Note 5! So hieß es noch bei der Vorstellung der Leitlinien zur Ernährungswende in der Schule. Eine Änderung wird es nach drei Wochen in Berlin noch nicht geben, zumal viele Eltern mit diesem Thema auch zum ersten Mal konfrontiert werden. Lehrer und Schulleiter, sowie Ernährungswissenschaftler aus dem Publikum und das Podium waren mit der eingeschlagenen Richtung durchaus einig – auch wenn sich alle bewusst waren, dass Kindern nicht unbedingt dass schmecken wird, was den Eltern als gesund gilt. Nicht alle Eltern wollen Ernährungskompetenz an die Schule abgeben. Das der Staat angesichts von 70 Milliarden Euro jährlichen Kosten für ernährungsbedingte Erkrankungen und übergewichtiger Kinder eine Fürsorgepflicht hat, erscheint auch unstrittig. Weitestgehend gibt es auch Übereinstimmungen darüber was alles auf den Tisch kommt. Und Sabine Schulz-Greve gibt zu bedenken, dass andere europäische Länder viel weiter sind und Deutschland als Entwicklungsland im Bereich der Schulverpflegung betrachten. Damit hat weniger das Schulessen die mangelhafte Note verdient, als mehr die Verwaltung mit unterschiedlichsten Schultypen und die Kommunen, die oft nur beim Erziehungsauftrag auf leere Kassen verweisen.

Lektüre:
Leitlinien für eine Ernährungswende und Informationen über das IÖW:
www.ioew.de/home/downloaddateien/LeitlinienErnaehrungswende.pdf
Originaltöne der Podiumsdiskussion können heute ab 12:00 Uhr abgerufen werden unter:
www.ioew.de/home/presse29_ton.htm
Die Berliner Qualitätskriterien und Ansprechpartner bei Fragen über den Mittagstisch gibt es unter:
www.vernetzungsstelle-berlin.de/bilder/aktuelles-files/Berliner_Qualitaetskriterien.pdf
Die bundeseinheitlichen Rahmenkriterien der DGE gibt es unter www.biokannjeder.de oder gedruckt bei geschaeftsstelle-oekolandbau@ble.de

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