Schulverpflegung? Note 5!

Ernährung

Appetit auf Schule

> Nach Auffassung des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) muss die ?Ernährungssituation in vielen Schulen mit der Note 5 ? ?Mangelhaft? ? bewertet werden. Auf der Tagung gestern im Umweltforum Berlin ?Appetit auf Schule? diskutierten Vertreter von Kommunen und Schulen, Wissenschaftler und Caterer über den Mittagstisch in den Schulen. Moderator Rainer Steen vom Praxisbüro Gesunde Schule in Heidelberg bedauerte allerdings, dass gerade die Vertreter aus der Schulpraxis vielfach fehlten.
Denn gerade sie sind betroffen: Nach Angaben der Bundesregierung sollen bis 2007 insgesamt 10.000 Ganztagsschulen entstehen und stellen die Schulen vor ein enorme Herausforderung: ?Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen bekommt die Schulverpflegung für Schüler und Schulen einen neuen Stellenwert, gleichzeitig wird der Mittagstisch zum Zankapfel?, stellte Dr. Ulla Simshäuser vom IÖW fest. Sie hat aus der anwendungsorientierten Forschung heraus federführend die ?Leitlinien für eine Ernährungswende an den Schulen? zusammengetragen, die auf der Tagung vorgestellt wurden. Denn: nur satt machen alleine reicht nicht. Eine gute Schulverpflegung soll der Hebel für Ernährungswissen, Esskultur und Verbraucherbildung sein.

Europaweite Ansätze
Das Problem übergewichtiger Kinder betrifft viele Länder und der Schulansatz ist keine deutsche Erfindung. Prof. Dr. Ines Heindl vom Institut für Ernährungs- und Verbraucherbildung der Universität Flensburg zeigte verschiedene Aktivitäten in Europa, die auf dem Europäischen Spiralcurriculum 2000 basieren. Dort hatte sich die EU auf Grundsätze für die Schulverpflegung geeinigt (?Eating at School?; www.coe.int). So sind in Dänemark die Schüler bei der Ausgestaltung des Verpflegungskonzeptes beteiligt. In den Niederlanden gibt es einen nationalen Aktionsplan, der mit den Entscheidungen der Schulen über die Verpflegung verknüpft ist und in Großbritannien gibt es traditionell zwei verschiedene Gemüse zum Mittagessen, die von den Kindern klaglos gegessen werden. Hingegen wird Gemüse als gesundes Extra zu Fast Food wiederum abgelehnt. Da spielt sich bei Geschmacksvorlieben wohl auch viel mehr über den Bauch als über den Kopf ab.
Prof. Heindl stellte auch klar, dass Ernährungsarmut überwiegend in bildungsfernen Schichten zu finden ist. Mit dem Begriff ?Healthy Literacy? bezeichnet sie ein Gesundheitswissen, dass über das Verstehen von Verpackungsetiketten hinausgeht und vielfach verloren gegangen ist. In Schottland erstellen in dem Projekt ?Hungry for Success? Schulen, Schulträger, Eltern und Schüler gemeinsam Verpflegungsstandards bis 2006. Die sind so weitreichend, dass sie sogar Ernährungsprofile für Lebensmittel umfassen.

Vier Leitlinien für die Ernährungswende
Am gleichen Ort wurden vor über einem Monat die ersten bundesweiten Rahmenkriterien für die Schulverpflegung vorgestellt (Herd-und-Hof.de vom 05.05.2005). Die Kriterien sind zunächst ein politisches Signal, sich des Themas übergewichtiger Kinder in der Schule anzunehmen und eigentlich ?schlichte Empfehlungen?. Die gestern vorgestellten Leitlinien sind keine Ergänzung oder bauen gar auf ihnen auf, wie Dr. Simshäuser gegenüber Herd-und-Hof.de klarstellte, sondern sind ein eigenes Projekt aus einer mehrjährigen Forschung. Trotzdem können die Leitlinien den Weg beschreiben, die Rahmenkriterien umzusetzen. Im Einzelnen zusammengefasst:
Lebensraum gestalten: Wenn es in der Schule noch nicht einmal einen Aufenthaltsraum gibt, wird die Einrichtung eines Speisesaals schwierig. Dabei gehört ein geeigneter Raum zum Umfeld dazu, wie auch die Pflicht, dass Schüler und Lehrer gemeinsam speisen. Ungesüßte Trinkmöglichkeiten im Unterricht werden als Essenz dieser Leitlinie genauso benannt, wie die Beschneidung der Hausmeistertätigkeit, sofern er mit dem Verkauf von Lebensmitteln eine Verdienstmöglichkeit an der Schule hat.
Kompetenzen stärken: Hier werden die Konsumkompetenz, wie auch soziale und ökonomische Kompetenz des Umgang mit Geld und durch fächerübergreifenden Unterricht in Ernährungs- und Verbraucherbildung gebündelt.
Qualitäten bündeln: Diese Leitlinie beschäftigt sich mit der Qualitätssicherung und Organisation der Schulverpflegung, bei der Mindestanforderungen festgesetzt und regionale Kompetenzenten eingerichtet werden sollen.
Strukturen entwickeln: Da ein überwiegend ehrenamtliches Engagement die anspruchsvolle Aufgabe nicht bewältigen kann, müssen auf allen Verwaltungsebenen Strukturen eingerichtet werden, welche die Ernährungswende ermöglichen.

Lob und Kritik
In der Bewertung fand Margit Büchler-Stumpf aus dem hessischen Kultusministerium lobende Worte (?alles drin?) wollte jedoch verstärkt auf die Problematik der Umsetzung hinweisen. Viele Schulen haben für die Einrichtung von Mensen keinen Platz. Die Schule wird auch nicht einfach in die Verantwortung der Eltern und in die an die Kinder weitergegebenen Essgewohnheiten eingreifen können. Da ist eine Zusammenarbeit nur über den Konsens möglich, wer wen wie verpflegt.
Prof. Ulrike Arens-Azevedo von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und Mitglied im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) war in einigen Punkten besonders kritisch. Die Leitlinie zur Qualitätsbündelung geht ihr als ganzes zu weit, weil diese Aufgab kein integraler Bestandteil der Schule ist. Sie wies darauf hin, dass es auch ein extra Pflegequalitätsgesetz zur Einführung von Qualitätssysteme in der Altenpflege brauchte. Die Schulen, so ihr Fazit, sind von einer Ernährungswende noch sehr weit entfernt. Sie streute allerdings auch nachhaltige Hoffnung: Der Aufbau und die Umsetzung der Leitlinien braucht einen langen Atem und sichern doch schon einmal, ?dass in den Köpfen etwas passiert?.
Um was es konkret geht, brachte Dr. Barbara Methfessel von der Pädagogischen Hochschule mit einem Beispiel auf den Punkt: Sie musste kürzlich erwachsenen Menschen erklären, dass grüne Kartoffeln nicht unreif, sondern giftig sind. Hier ist ?Kulturwissen? verloren gegangen, dass mühsam wieder zurück erlernt werden muss. Damit ist die Schulverpflegung zwar ?für die Schule gedacht, aber für die Gesellschaft gemeint?, formulierte Norbert Brugger vom Städtetag Baden-Württemberg. Das Wissen kann über ein gesondertes Fach, praktische Kochkurse oder unterrichtsübergreifend geschehen. Darin waren die Experten nicht einig.

Schulverpflegung kostet Geld
Auch die Kostenfrage fand keine Lösung. Sie zog sich als unüberwindlicher Flaschenhals wie ein roter Faden durch die Diskussion. Bei einer Vollkostenrechnung müssen etwa 5 Euro pro Mahlzeit angenommen werden, wobei sich bei ehrenamtlicher Aufsicht und regionalen Standortbedingungen der Aufwand reduzieren kann. Fünf Euro kann sich nicht jede Familie leisten und Bücher-Stumpf nannte sogar Beispiele, bei denen 50 Cent schon unbezahlbar waren. ?Es braucht wirklich kluge Modelle?, die Finanzierung zu sichern, sagte Dr. Arens-Azevedo. Ein bisschen verkehrte Welt sieht sie in der Subvention studentischer Speisung, die den Schülern nicht zugute kommt. Rainer Steen sieht bei bestimmten Leistungen die Gesellschaft in der Pflicht, wozu er die Schulverpflegung zählt. Daher sei eine reine Kostenrechnung auch falsch. Die Kinder zu Hause verpflegen, kostet schließlich auch Geld ? etwa zwei Euro.
Unentschieden blieb auch die Frage, was denn eine gesunde Ernährung ist. Wenn man sich dem ?richtigen Essen? nähert und entkrampfter formulieren kann, dass auch Pommes in Maßen erlaubt sein dürfen, dann muss eine ?richtige Ernährung? nicht ständiges Kalorien zählen oder nur Biokost sein, sondern ergibt sich womöglich automatisch als Ergebnis des Prozesses ?Health Literacy?.

Wo gibt es Rat?
Um allerdings diesen Prozess zu starten sind die Eltern gefragt. Angesichts leerer Kassen und vor allem der weitgehend bescheinigten Unkenntnis der Schulleitungen, nicht zu wissen, was denn als erstes zu tun ist, bleiben den Eltern die Initialzündung ? im Interesse und als Aufgabe für ihre Kinder. Bei der Ernährungswende ist jeder gefragt und nicht mehr nur die anderen, und die, die es tun können, müssen es für die tun, die es nicht können. Denn die Eltern und Kinder, die es am dringendsten bräuchten, würden es am wenigsten tun, sagte Dr. Simshäuser. Hier sind die Berliner einmal ganz weit vorne. Die Mutter, die morgen in der Schulverpflegung Verbesserungsbedarf sieht, kann sich ganz konkret an die www.vernetzungsstelle-berlin.de wenden, die bereits 2003 ?Berliner Qualitätskriterien? zusammen mit der AOK und dem Berliner Senat herausgebracht hat. Die Vernetzungsstelle Schulverpflegung berät und unterstützt die neuen Ganztagsschulen bei der Umsetzung der Mittagsspeisung. In den Berliner Qualitätskriterien finden sich Musterspeisepläne und Empfehlungen für die Zwischenmahlzeit.

Das IÖW
Das Heidelberger Institut bearbeitet das Thema ?Ernährung im Schulalltag? im Rahmen des vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojektes www.ernaehrungswende.de. Die gestern vorgestellten Leitlinien stehen unter www.ioew.de als Download bereit.

Roland Krieg

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