Süße Geschmacksevolution
Ernährung
Bittergeschmack beeinflusst menschliche Evolution
>Wer in der Steinzeit durch seinen Geschmackssinn vor dem Verzehr giftiger Substanzen gewarnt wurde, hatte gegenüber geschmacksunempfindlichen Menschen einen deutlichen Selektionsvorteil. Dieses lassen neue genetische Untersuchungen eines "Bittergeschmacks-Gens" vermuten, die ein internationales Wissenschaftlerteam durchführte, zu dem auch Prof. Dr. Wolfgang Meyerhof und Dr. Bernd Bufe vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE) gehören. Der Artikel wurde von ihnen zusammen mit dem Autor N. Soranzo in Current Biology veröffentlicht.Zyanogene Substanzen
Zyanogene Glukopyranoside sind Bitterstoffe wie sie in Bittermandeln oder Maniok vorkommen. Sie sind in der Natur weit verbreitet und werden von mehr als 2500 Pflanzen und Insektenarten als Schutz vor Fressfeinden synthetisiert. Hauptquelle für die Giftigkeit dieser Substanzgruppe ist das Zyanid-Ion. Der enzymatische Abbau der Glukopyranoside im Magen-Darmtrakt führt zur Freisetzung des Zyanids, das rasch in den Blutstrom aufgenommen wird, wo es mit zweiwertigen Eisen-Ionen reagiert. Es bildet sich Zyano-Hämoglobin, bei dem eine einmalige Dosis von 1 mg Zyanid pro Kilogramm Körpergewicht für die meisten Wirbeltiere tödlich ist.
Allerdings werden ständig aufgenommene geringere Dosen vertragen, besonders, wenn diese zusammen mit Proteinen verzehrt werden, da der aus Aminosäuren stammende Schwefel zur Bildung des weniger giftigen Thiozyanats führt.
Zu den Substanzen gehören beispielsweise Salicin (Weidenrinde), Arbutin (Bärentrauben), Amygdalin (Bittermandeln), Linamarin (Maniok) und Prunasin (Mandeln).
Die Untersuchung
Die Forscher analysierten die Erbsubstanz von 997 Menschen aus 60 verschiedenen Weltpopulationen in Hinblick auf genetische Variationen eines bestimmten Geschmacksrezeptors. Dieser ist für die Wahrnehmung von Bitterstoffen wichtig, aus denen beim Verzehr die giftigen Zyanide freigesetzt werden.
Nach Auswertung der vorliegenden Daten trat während der Steinzeit, vor ca. 80.000 bis 800.000 Jahren, in diesem Geschmacksrezeptor-Gen eine Mutation auf, die zu einer neuen Rezeptorvariante führte. Eine funktionelle Untersuchung zeigt, dass diese empfindlicher auf Bitterstoffe reagiert als die ursprüngliche. Daher sollten Träger der neuen Genvariante zyanidhaltige Stoffe bereits in geringeren Konzentrationen als bitter wahrnehmen als die Träger der ?alten?.
Urmenschen mit "neuer" Variante könnten infolgedessen eine natürliche Aversion gegenüber giftigen, zyanidhaltigen Pflanzen entwickelt haben, woraus sich ein deutlicher Selektionsvorteil ergibt - so mutmaßen die Forscher.
Für ihre Theorie spricht, dass heute, mit Ausnahme der Afrikaner, 98 Prozent aller Menschen Träger der "neuen" Genvariante sind. Interessanterweise sind 13,8 Prozent der Afrikaner mit der ursprünglichen Variante des Bitterrezeptors ausgestattet. Es wird vermutet, dass hier ein Zusammenhang mit dem Auftreten der Malaria besteht. So kann ein chronischer Verzehr geringer Mengen zyanidhaltiger Nahrung zu einer Zyanid-induzierten Sichelzellenanämie führen, die einen gewissen Schutz vor einer tödlich verlaufenden Malariainfektion bietet. Für diese Theorie spricht auch die geographische Verteilung der ursprünglichen Genvariante, die ungefähr der Verteilung von Malaria-Resistenz-Genen entspricht.
Ernährungsverhalten
"Die untersuchten Genvarianten haben in der Vergangenheit vermutlich eine wichtige Rolle für das Ernährungsverhalten gespielt und die menschliche Evolution beeinflusst, daher liegt der Gedanke nahe, dass sie sich auch auf das heutige Essverhalten auswirken," so Wolfgang Meyerhof, Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am DIfE. "Der Selektionsvorteil von damals scheint sich heute allerdings ins Gegenteil zu verkehren, da viele Menschen bestimmte Gemüse ablehnen, weil sie bitter schmecken, obwohl ihr Verzehr das Risiko für bestimmte Krebs- oder Herz-Kreislauferkrankungen senken kann. Die Lebensmittelindustrie ist bemüht, den Bitterstoffanteil in der Nahrung zu reduzieren. Neue Erkenntnisse über die ?genetische Programmierung? des Geschmacks könnten zudem dazu beitragen, die Akzeptanz gesunder, aber bitter-schmeckender Lebensmittel zu erhöhen."
roRo