Übergewicht: Klöckner muss liefern
Ernährung
Ärzte fordern echte Gesamtstrategie gegen Übergewicht
15 Prozent der Kinder in Deutschland sind übergewichtig oder adipös. Die im März vom Robert-Koch-Institut vorgestellten Zahlen zeigen auf der einen Seite eine Verdopplung der übergewichtigen Kinder seit den 1980er Jahren – die Zahlen stagnieren jedoch in den letzten Jahren auf hohem Niveau. Ist das eine Entwarnung oder bleibt ein Grund zur Besorgnis? Die Menschen wissen, was gesund ist, ernähren sich aber meistens doch nicht entsprechend. Verwirrende Kennzeichnungen wie 50 Begriffe für Zucker, das Lebensstil-Croissant am Morgen auf dem Weg zur Arbeit, das bereits ein Viertel der Energiezufuhr deckt, sitzende Arbeitswelten und Wissensirrtümer, wie die Einstufung von Fruchtzucker als gesund, verwirren auch den Blick auf die Ursachen. Hinzu kommen genetische Veranlagungen und sogar epigenetische Effekte der Großelterngeneration [1].
Die Ursachen für Übergewicht und Adipositas sind zahlreich und vielfältig. Die Krankheit resultiert aus dem Lebensmittelangebot, dem sozio-ökonomischen Status, Lebensstilfaktoren, sowie Vorbelastungen. Die Ursachen können beeinflussbar oder nicht beeinflussbar sein. Zuletzt kam eine britische Studie zu dem Ergebnis, dass auch Freihandelsabkommen dick machen [2]. Für Ärzte ist es „5 nach 12 und nicht mehr nur 5 vor 12“, sagte Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte am Mittwoch. Der bvkj ist Teil eines neuen Bündnisses aus Krankenkassen, der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Organisation foodwatch, das den Versprechen der Politik nicht mehr glaubt. „Wir haben die Geduld verloren“, sagte Fischbach.
Langsames Erwachen der Politik
Vor einem Jahr hat die AOK auf die Einladung zu einem Zuckerreduktionsgipfel vom damaligen Ernährungsminister noch eine Absage erhalten, beklagte Martin Litsch vom AOK-Bundesverband. Erst, als das Ministerium die Aufmerksamkeit der Veranstaltung bemerkte, habe die Politik reagiert und vor den Wahlen noch eine Reformulierungsstrategie aufgestellt – die allerdings im Sommer 2017 wieder von der Kabinettsliste gestrichen wurde. Ja oder Nein, Gebote oder Freiwilligkeit? „Ich hoffe, dass wir jetzt einen Schritt weiter kommen“, sagte Litsch. 2.061 Unterschriften hat das Bündnis von überwiegend Kinderärzten gesammelt, um der Adipositas-Prävention neuen Schub zu geben. Nicht viel angesichts 300.000 zugelassener Ärzten. Doch sie haben mit foodwatch und dem Kinderarzt und Fernsehmoderator Dr. Eckart von Hirschhausen medienerfahrene Partner gewonnen. „Nichts ist so wirksam wie Bildung und poltische Lenkung“, erklärte Hirschhausen. Auch beim Thema Rauchen habe es Widerstand aus der Industrie gegeben. Wenn bei Jugendlichen Altersdiabetes diagnostiziert wird, muss dringend etwas geschehen. Zucker ist von einem teuren Gewürz zu einem Grundnahrungsmittel geworden. Doch wer zu viel davon isst, der kann später kaum noch körperlich arbeiten und zahle auch keine Krankenkassenbeiträge mehr ein. „Das ganze System kollabiert“, warnt Hirschhausen.
Rund 65 Milliarden kosten ernährungsbedingte Krankheiten jährlich. Darin sind Folgekosten wie Arbeitsunfähigkeit bereits einberechnet. Die Kassen sehen eher die direkten Kosten. Eine von zehn Millionen Versicherten nähert sich der Adipositas, sagt Dr. Jens Baas von der Techniker Krankenkasse. Die Ausgaben für Herz-Kreislaufmedikamente hätten sich in den letzten Jahren verdoppelt. „Man muss in die Lebenswelt reingehen“, rät er.
Mit der Plattform Ernährung und Bewegung, In Form des Bundeslandwirtschaftsministeriums, der Zertifikation von Schul- und Kitaessen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und Tausende einzelne Projekte gibt es genug. Allein: Das reicht nicht aus, beklagt Dr. Dietrich Garlichs von der DDG. Es gehe darum, vom Klein-Klein und der Projektiritis wegzukommen. „Wir brauchen eine Wende in der Präventionspolitik“, fordert er. Dazu haben die Ärzte einen langen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben. Die vier Kernforderungen sind: eine verständliche Lebensmittelkennzeichnung in Form einer Nährwertampel, Beschränkung der an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung, verbindliche Standards für die Schul- und Kitaverpflegung und steuerliche Anreize für die Lebensmittelindustrie, gesündere Rezepturen zu entwickeln – etwa durch eine Sonderabgabe auf gesüßte Getränke.
Herd-und-Hof.de sprach mit Dr. Dietrich Garlichs von der DDG über die Ziele:
HuH: Sie haben heute das gesamte Folterinstrumentarium für die Ernährungsindustrie und die Politik aufgezeichnet. Nicht das erste Mal, Sie geben nicht auf?
Dr. Dietrich Garlichs: Das ist ein Megaproblem. Schon aus diesem Grunde kann man davon nicht ablassen. Wenn man den Kampf gegen das Rauchen betrachtet, sind wir ja erst ziemlich am Anfang. Wir relativ jung mit unseren Forderungen. In vielen anderen Ländern wurde inzwischen reagiert und deshalb sehe ich gute Chancen auch für einen Erfolg in Deutschland.
HuH: Sie haben erwähnt, dass Einzelmaßnahmen alleine nicht reichen. Das Thema ist äußerst komplex. Es gibt genetische und epigenetische Effekte, bei denen Gebote und Verbote nicht helfen. Was muss Ihre Gesamtstrategie alles umfassen?
Dr. Dietrich Garlichs: Wir haben die Umwelt des Menschen dramatisch verändert. In den 1950er Jahren, als ich aufwuchs, gab es kaum Übergewicht und Diabetes. Heute haben wir eine Umwelt, in der die Menschen ständig von Marketingbotschaften der Lebensmittelindustrie und Verkaufsständen und Angeboten für Fertigprodukte umgeben sind. 24 Stunden am Tag. Die Menschen wissen kaum noch, was in den Fertigprodukten drin ist. Wir müssen den Menschen wieder erleichtern, eine gesunde Wahl zu treffen. Das war früher überhaupt keine Frage. Das geht am leichtesten durch Preissignale. Das hat bei den Alcopops gewirkt. Die sind durch die entsprechende Steuer sofort verschwunden. Und das sieht man auch beim Rauchen. Das wirksamste Mittel waren die drastischen Steuererhöhungen. Das ist ein Instrument, das auch bei denen ankommt, die nicht hinhören oder gar nicht interessiert sind.
HuH: Defizite gibt es aber auch in der Ärzteschaft. „Sprechende Medizin“ heißt das Stichwort [3]. Viele Ärzte, die bei den Krankheitsprogrammen der Kassen teilnehmen empfehlen lediglich: Esst mehr Salat und bewegt euch mehr. Gibt es da nicht Ausbildungsdefizite bei den Ärzten?
Dr. Dietrich Garlichs: Unser Gesundheitssystem ist sehr einseitig auf die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet. Etwas anderes wird nicht bezahlt. Bezahlt wird der Reparaturbetrieb und nicht die Verhinderung von Krankheit. Darum glaube ich, dass unsere Aufgabe nicht alleine der medizinische Sektor lösen kann. Wir brauchen Regeln für das Alltagsleben. Wenn wir zum Arzt gehen, ist es meistens zu spät. Wir brauchen Regeln, die von Kindheit an wirksam sind und jeden erreichen.
HuH: Die AOK hat für den 17. Oktober zu einem zweiten Reduktionsgipfel eingeladen. Sollte man da nicht einen Ernährungsstrategiegipfel mit allen Ressorts und der Ernährungsindustrie anberaumen?
Dr. Dietrich Garlichs: Auch die Industrie ist zu diesem Gipfel eingeladen und wir diskutieren natürlich auch mit der Industrie. Aber vorhin ist sehr treffend gesagt worden, wir haben hier nicht wirklich ein Erkenntnisproblem. Wir wissen, wo die Probleme sind und was getan werden muss. Wir haben hier ein Umsetzungsproblem. Und daher ist die wichtigste Aufgabe, Druck in der Öffentlichkeit herzustellen, damit die Politik endlich agiert.
HuH: Vielen Dank für das Gespräch
Wirkung in die Breite erzielen
Die vielen Projekte erreichen nach Ansicht der Ärzte auch im Wesentlichen nur die Wissenden. Die vorgeschlagenen Instrumente sollen die Menschen erreichen, die mit Aufklärung und Information bislang nicht erreicht werden.
Die Ernährungsindustrie hat das durchaus erkannt. Als Reaktion auf die Übergewichtsstudie stellte der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) fest: „Der Feind der Kindesgesundheit ist die „sitzende Gesellschaft“ und nicht der Schoko-Hase zu Ostern.“ Ende April hatte der BLL Ernährungsministerin Julia Klöckner zu seiner Jahrestagung eingeladen. Man sei bereit für den nächsten Schritt beim Thema Reformulierungen. Die Reduktionsstrategie komme auf jeden Fall, so Klöckner, spricht sich aber weiter gegen Elemente wie die „Zuckersteuer“ aus [4].
Dieses Lavieren des Agrar- und Ernährungsressorts weckt mittlerweile auch bei den Ärzten Skepsis, ob das Thema dort richtig angesiedelt ist. Für eine Umsiedlung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes in das Gesundheitsministerium hat sich Dr. Garlichs ausgesprochen. Die Abteilung sei in dem Ressort, wo die Interessen der Landwirte und Ernährungsindustrie vertreten werden, am falschen Ort.
Prompt fühlt sich der BLL auf die Füße getreten. „Wir als Ernährungsindustrie benötigen keine Belehrungen von Interessengruppen, weil wir seit Jahren handeln und beispielsweise stetig innovative Rezepturen entwickeln, bestehende optimieren und über Nährwerte und Inhaltsstoffe aufklären“, wetterte Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff. Der Brief an die Kanzlerin folge keiner Eigeninitiative, sondern „Schuldzuweisungen und falsch adressierten Forderungen“. Die Kassen sollten ihre Angebote verbessern und die DDG werde von der Pharma-Industrie finanziert. Zusammen sollten sie „den Menschen kostenlosen Zugang zu Ernährungskursen und Bewegungs- und Entspannungsprogrammen verschaffen.“ Der BLL zeigt sich sehr verbittert, weil vor einer Woche erst ein Auftakttreffen zu einem Runden Tisch mit dem Ministerium eingeladen wurde. Der Brief und die Forderungen seien „billige Agitation“. Doch, zum wem gehen die Menschen, wenn es zwickt: Zum BLL oder zum Arzt?
Jetzt muss Julia Klöckner zeigen, ob die Politik mit ihrer ureigenen Aufgabe der Moderation und Leitpolitik alle Ursachen und Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt und in einer Gesamtstrategie wirkliche Fortschritte beim „Megaproblem“ Übergewicht und Adipositas erzielen kann. Dazu gehört auch die Berücksichtigung physiologischer Fallen im Stoffwechsel, die Dr. Arya Sharma im letzten Jahr vorgestellt hat [5].
Lesestoff:
Den offenen Brief „Ärzte und medizinisches Fachpersonal gegen Fehlernährung“ finen Sie beispielsweise auf der Seite der DDG: https://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de
[1] Die Neurobiologin Isabel Mansuy von der Universität Zürich forscht an vererbbaren epigenetischen Effekten. Stress und Umwelteinflüsse beeinflussen die Methylgruppe an den Genen, so dass diese nicht abgelesen werden. So kann Hunger die Mutter und die Eizellen des Fötus beeinflussen, der dann diese epigenetische „Erfahrung“ an seinen Nachkommen wiedergibt. Nicht nur bei Mäusen zeigen Enkel und Urenkel ein epigenetisches Erbe. Studien bei niederländischen Frauen, die den Hungerwinter 1944/45 erlebt haben, vererbten ihren Enkeln chronische Krankheiten und den Hang zu Übergewicht. Diese Effekte sind reversibel und machen Sinn, weil ein Organismus so sich schneller an eine sich ändernde Umwelt anpassen kann, als wenn dies ausschließlich über eine echte Genexpression geschieht: Das Erbe in unseren Genen: National Geographic, Mai 2018
[2] Freihandelsabkommen machen dick: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/freihandelsabkommen-machen-dick.html
[3] Als „sprechende Medizin“ wird das ausführliche Gespräch zwischen Arzt und Patient als individueller Wirkfaktor für eine Behandlung bezeichnet. Die Techniker Krankenkasse hat sich im letzten Jahr für einen Vergütungsanreiz bei der Umsetzung der „sprechenden Medizin“ ausgesprochen.
[4] Wie wirksam sind Zucker- und Fettsteuern? https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/fettsteuer-mexiko-oder-daenemark.html
[5] Der Körper verteidigt sein letztes Fettpolster durch Stoffwechseloptimierung: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/gesund-aufwachsen.html
Interview mit Dr. Angela Kohl vom BLL nach dem peb-Kongress 2017: https://herd-und-hof.de/ernaehrung-/aufklaerung-statt-werbeverbote.html
Roland Krieg; Die Fragen stellte Roland Krieg; Fotos: roRo