Vielfalt statt Einheitsbrei
Ernährung
BLL tagt zum Lebensmittelangebot in Deutschland
Die Zeiten, in denen auf dem Einkaufszettel „Brot, Milch und Eier“ standen sind schon lange vorbei. Heute steht der Konsument alleine beim Produkt „Müsli“ vor zwei Meter Regal und muss sich entscheiden. Welche Verpackung gewinnt das Rennen um die visuelle Aufmerksamkeit, sind bei den Marken A und B verschiedene Getreide drin, gibt es versteckte Zucker? Und morgens titelte die Zeitung, dass die Menschen immer dicker werden und sich zu wenig bewegen.
Einkaufen ist zu einer individuellen Informationsbeschaffung unter gesellschaftlicher Begutachtung geworden und die Regenbogenpresse bedient die Sucht nach einfachen Inhalten mit Verbraucher“informationen“, dass Pizza Abwehrstoffe blockiert und Spagetti traurig machen.
So wie der Konsument seinen Standort auslotet, tagte gestern der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) in Berlin, um das Lebensmittelangebot genau zu betrachten: „Vielfalt statt Einheitsbrei“ als Ergebnis und Tagungsmotto.
Ernährung, Genuss, Gesundheit
Die Lebensmittelwirtschaft sieht sich in der Verantwortung, die Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen, sicheren, bekömmlichen und wohlschmeckenden Lebensmitteln zu versorgen, stellte Dr. Theo Spettmann, Präsident des BLL, fest. Allerdings gibt es nicht mehr „den“ Verbraucher und die Bedürfnisse haben sich individualisiert. Deshalb hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in einer Studie die Produktvielfalt und Produktinformationen in einem Haushaltspanel analysiert.
Dietmar Pech-Lopatta von der GfK spricht von den Megatrends Genuss, Convenience und Health und Gesundheit, die im Markt mittlerweile ihre deutlichen Spuren hinterlassen haben:
Trends |
Marktanteil |
X |
Produkte mit bes. Wachstum |
1.Hbj.07 zu 1.Hbj.06 |
von Haushalten |
Genuss |
+ 16 |
X |
Fresh Cut Salads |
+ 59 |
23 % |
Conveniencee |
+ 39 |
X |
Salad Bowls |
+ 127 |
10 % |
Health + Ges. |
+ 23 |
X |
Smoothies |
+ 163 |
11,3 % |
roRo nach GfK |
Zum Genuss zählt alles, was jenseits des Kernnutzens liegt und sowohl edle Schokolade als auch eine schöne Verpackung sein kann. Lange Öffnungszeiten und leicht zu öffnende Verpackungen gelten genauso zur Convenience wie Fertiggerichte und „Verwöhnprodukte“, mit denen sich der Konsument belohnt, zählen zum Bereich Wellfood.
Insgesamt hat der Verbraucher bei durchschnittlich 190 Einkäufen im Jahr die Wahl zwischen den verschiedensten Produkten. Von besonderem Interesse sind die bedarfsoptimierten Produkte, die fett-, zucker- oder kalorienarm sind. Seit 2002 haben diese Produkte um 17 Prozent, an Anzahl um 33 Prozent im Regal zugenommen. Dabei sind alle Warengruppen von Fleisch über Molkereiprodukte bis zum Dessert betroffen. Innerhalb dieser Kategorien sind die Anteile bereits beachtlich. Jeder fünfte Käse und jede fünfte Scheibe Wurst ist bereits fettreduziert. Bei Molkereiprodukten stellen die Waren ohne Berücksichtigung der Milch bereits über 37 Prozent. Bezieht die GfK die Milchvarianten mit ein, dann sind es 50 Prozent aller Produkte, die eine Bedarfsoptimierung erfahren haben. Selbst die in der Öffentlichkeit kritisch betrachteten salzigen Snacks werben zu 15 Prozent mit günstigen Versprechungen.
Die Haushalte werden immer individueller. Die Vielfalt der Lebenssituationen findet sich in der Vielfalt der Verpackungsgrößen wieder. Zwischen drei und 98 verschiedene Packungsgrößen können einzelne Produkte aufweisen. Im Schnitt bedienen sieben Packungsgrößen die Ein- bis Mehrpersonenhaushalte. Dabei greifen kleinere Haushalte auch zu kleineren Verpackungen. Es sich gezeigt, dass es in den letzten Jahren keinen Trend zu XXL-Verpackungen gegeben hat. Rund 16 Prozent der Verpackungen sind gleich geblieben, und über die Hälfte ist kleiner geworden.
Wenn sich ein Produzent entscheidet, Nährwertangaben freiwillig auf seinem Produkt anzugeben, dann muss er einige Pflichtangaben machen. So sind nicht alle Waren ausgezeichnet – aber die Mehrheit doch recht deutlich. Die Marktforscher unterscheiden hier zwischen den Big4 und Big8. Big4 sind die Angaben Brennwert, Eiweiß, Fett und Ballaststoffe, die mit weiteren Zusätzen, wie „davon Zucker“ oder „davon ungesättigte Fettsäuren“ auf die Big8 ausgedehnt werden können:
Innerhalb der Warengruppe sind die Unterschiede in der Kennzeichnung erheblich. So weisen süße Brotaufstriche nur zu 32 Prozent oder Schokoladen nur zu 39 Prozent Nährwertangaben auf. Bei Fleisch und Wurst wird die 50 Prozentmarke bereits überschritten und die meisten Angaben finden sich in den Bereichen Alkoholfreie Getränke (ohne Wasser) (89%), Tiefkühlpizza (91%), weiße Molkereiprodukte (92%) und Fertiggerichte (97%).
Angesichts der Eckpunkte über die Lebensmittelkennzeichnung stellt die Studie fest, dass bereits 60 Prozent aller Artikel im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) bereits gekennzeichnet sind.
Die Big4-Kennzeichnung ist doppelt so oft vorhanden. Die Kennzeichnungen finden sich auf Waren mit hoher Einkaufsrelevanz. Die gekennzeichneten Artikel stellen 66 Prozent des Umsatzes im LEH. Als die Stichprobe durchgeführt wurde, gab es bereits drei Prozent der Artikel, die mit der neuen Kennzeichnung, der Angabe des täglichen Bedarfs ausgezeichnet waren. Vor allem bei den Produkten, die sowieso schon viele Angaben gemacht haben. 79 Prozent der Produkte haben weiterführende Informationsangebote wie Hotlines und Websites verzeichnet.
Informationen sind ausreichend vorhanden
Dr. Spettmann sieht in den Ergebnissen der Studie eine Bestätigung für die Positionen der Lebensmittelwirtschaft, dass Rezepturen nicht von der Politik umgeschrieben werden müssen und eine Ampelkennzeichnung mit verbietendem Charakter nicht nötig sei. Das bisherige überproportionale Wachstum der bedarfsoptimierten Lebensmittelprodukte zeige, dass es einen weiteren Bedarf an neuen und innovativen Artikeln gibt und prognostiziert, dass die Zukunft weitere Produkte für den individuellen Bedarf in die Regale stellen wird. Die Aufgabe der Lebensmittelindustrie liege vielmehr darin, den eigenverantwortlichen und mündigen Verbraucher in der Auswahl der Produkte zu unterstützen.
Und warum sind die Menschen dick?
Manche Fragen sind leichter gestellt als beantwortet. Es sind ja nicht alle Menschen übergewichtig und adipös, wenn auch in weniger werdenden Ausmaße. Dr. Gert Mensing vom Robert-Koch-Institut schärfte mit seinem Vortrag über die Studien KIGGS und EsKiMo, dass sich das soziale Milieu festmachen lässt, wo Übergewicht überproportional vorkommt.
Es musste aber einmal soweit kommen, denn Prof. Dr. Peter Stehle, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zeigte, wie seit den 1880er Jahren der Energieumsatz bei den Menschen zurück geht und die Energieaufnahme zunimmt. In den 1950er Jahren trafen sich die Kurven und fehlende Alltagsaktivität und zu wenig sportliche Bewegung bauen den Energieüberhang nicht mehr ab.
Er spendet auch wenig Trost, denn bei der Alterung der Gesellschaft kommt derzeit hinzu, dass die älteren Menschen rund 600 kcal pro Tag weniger Energie brauchen. Ein Drittel des Rückgangs geht auf den verringerten Grundumsatz und zwei Drittel auf kaum noch zu leistende körperliche Aktivität zurück. Die Seniorenernährung braucht neue Produkte: weniger Energie bei gleicher Menge an Nährstoffen.
Drei Ratschläge der DGE |
Prof. Stehle sieht auch eine Menge Bewegung, den Kampf gegen das Übergewicht zu fechten, denn Verhaltensänderungen in der Ernährung sei nicht von der Mehrheit der Bevölkerung alleine zu bewerkstelligen.
So habe die Forschung mit der neuen Lebensmittelpyramide den Verbrauchern einen neuen Anhaltspunkt gegeben. Die Lebensmittelindustrie reduziere bereits die Energiedichte und wertet Produkte nutritiv auf. Auf Verbraucherseite mehren sich Anzeichen, auch wenn die zweite nationale Verzehrsstudie wegen Terminverschiebung noch nicht veröffentlicht ist: Prof. Stehle behilft sich mit der Agrarstatistik, die mehr Obstverzehr ausweist. Der Konsum von Fleisch und Zucker stagniert.
„Trotzdem spielt die Zielgruppe noch nicht mit“, klagte Stehle und fragte, ob die Methode der Verbraucherinformation die richtige, die Erwartungen zu hoch oder die Evaluierung die falsche sei. Er konnte auch Schwächen ausmachen, dass nach einigen guten Projekten keine Umsetzung in der Praxis folgt oder keine Vernetzung zwischen den Akteuren vorhanden ist.
Der Zehntelkunde
Zurück zum Einkaufszettel: Was soll neben Brot, Milch und Eier noch alles drauf? Hand aufs Herz: Jedes „Riboflavin“, jedes „30 Prozent“, jeder „nicht lösliche Ballaststoff“ ist doch schon zu viel!
Außerdem gibt es in der letzten Zeit neue Anforderungen, „klimagerecht“ einzukaufen – oder ich suche mir die WHO-Richtwerte für meine Menüzusammenstellung aus!? Hat der Kunde nicht längst vor der Siegelflut kapituliert? Zu Herd-und-Hof.de sagte Dr. Spettmann, dass die Lebensmittelindustrie die Informationen so einfach und übersichtlich wie möglich gestalten möchte, aber noch nicht alle Unternehmen die gleichen Wünsche hätten. Die Siegel dienen auch dem Wettbewerb gegenüber dem Konkurrenten und manche folgen auch politischen Trends. Durch die Inflation der Siegel bestehe die Gefahr, dass der Verbraucher nicht mehr hinsehe.
Die verschiedenen Siegel sind jedoch auch ein anderes Signal, das der deutsche Handelskongress in Berlin hervorgebracht hatte: Der Handel kann die Anzahl der Kunden im gesättigten Markt nicht mehr vermehren. Er muss um einen Zehntelkunden buhlen – mit immer neuen Ideen und neuen Produkten. Dann sind Siegel nicht mehr Verbraucherinformationen, sondern Marktsegmente.
Lesestoff:
Die GfK-Studie will der BLL demnächst auf seiner Internetseite der Öffentlichkeit präsentieren: www.bll.de
Morgen Teil II: Wider dem Salzteufel
Roland Krieg