Von Kuhmilchkugeln und Guarkernmehl
Ernährung
Hundert Tage Lebensmittel-Klarheit
Früher wurde Mehl mit
Gips gestreckt und Milch mit Wasser. Waren die Brote zu klein wurden die Bäcker
in einem Holz- oder Metallkäfig mit der so genannten Bäckertaufe öffentlich in
das nächste Gewässer getunkt. Heute trägt sich der Konsument mit anderen
Sorgen, wenn er in einer satten Gesellschaft Joghurt kaufen möchte: Er hat die
Wahl zwischen dutzenden Joghurts, die alle um seine Aufmerksamkeit eifern. Die
einen mit Erdbeeren als Augenschmaus, die anderen mit zugesetzten Mineralien.
Der dritte wirbt mit einem alten Rezept.
So viele Erdbeeren wie
sie den deutschen Joghurts stecken wollen gibt es nicht. Reisende wissen, dass
die Schinkenmenge aus dem Schwarzwald größer ist als die Schweinepopulation und
die Norddeutschen wissen, dass sie beim Schinkenbrot diesen auf das Brot legen
müssen und erwarten ihn nicht mitgebacken. Kölner haben sogar Spaß daran, wenn
sie ihren Gästen ein Roggenbrötchen mit Käse servieren, wenn diese einen „halven
Hahn“ bestellt haben.
Das Gleichgewicht
zwischen Werbung und Inhalt, zwischen Wissen und Glauben stimmt nicht mehr. In
der allgemeinen Vertrauenskrise zwischen Verbrauchern und Ernährungsindustrie hat
das Verbraucherportal www.lebensmittelklarheit.de „den Nerv
getroffen“, wie es Gerd Billen, Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband
am Donnerstag sagte. Zusammen mit Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner
und Projektleiter der Verbraucherzentrale Hessen, Hartmut König, zog er nach
100 Tagen die erste Bilanz des Portals.
Das Portal in Zahlen
3.880 Produktmeldungen
sind eingegangen, 920 konnten bearbeitet werden und 72 Produkte wurden nach
Prüfung der Verbraucherzentrale Hessen eingestellt. Auch drei Bio-Produkte sind
dabei. „Bio-Lebensmittel sind nicht fei von Täuschung“, erläuterte König. 43
Prozent der Beschwerden beziehen sich auf die Kennzeichnung, 25 Prozent auf
Zutaten und Zusatzstoffe und 16,3 Prozent beschweren sich über das
Erscheinungsbild. In den 100 Tagen gab es 1.840 Expertenanfragen.Weil vor allem in den
ersten Tagen das Portal elektronisch in die Knie ging wird das Projekt um
200.000 Euro aufgestockt, erklärte Ilse Aigner. Serverkapazität und Personal werden
erhöht. Die überwältigende Resonanz
zeige, dass es richtig war, das Portal zu fördern. Verbraucher haben Anspruch
auf Information und Transparenz. Die Ergebnisse des Portals wirken in beide
Richtungen. Zum einen dient es der Information für die Verbraucher, die über
das Portal auch die rechtlichen Grundlagen kennen lernen, zum anderen haben die
Firmen bereits 19 Produkte auf Grund der Beschwerden geändert. Für Aigner
wichtig, damit „Made in Germany“ ein Qualitätsprodukt bleibt. Die Unternehmen
bräuchten die Sensibilität gegenüber ihren Kunden und hätten die Zeichen der
Zeit erkannt.
„Es gärt etwas“
Das Portal ist ein Spiegelbild
des Konsumenten und ein Ausdruck, dass die Ernährungsindustrie zuvor etwas
versäumt hat. „Es gärt etwas bei den Verbrauchern“, folgert Billen nach dem Erfolg
des Portals. Die Industrie hat es mittlerweile auch übertrieben. Wer
Kuhmilchkugeln als Mozzarella verkauft oder in ein traditionelles Rezept aus dem
Jahr 1846 Guarkernmehl, modifizierte Stärke und Natriumsulfit einmischt, der
hat das Portal heraufbeschworen.
Das Portal verfolgt auch
klare poltische Ziele. Die Verbraucherschützer sitzen zusammen mit Industrie
und Verbänden in der Kommission des Lebensmittelbuches, indem die Leitlinien
festgeschrieben sind, wie viel Kalbfleisch in einer Kalbswiener enthalten sein
müssen. Den Vorsitz hat bis zum Jahr 2014 Dr. Birgit Rehlender von der Stiftung
Warentest. Da aber jede Gruppe eine Entscheidung blockieren kann, können
derzeit Richtlinien und Verbraucherwünsche nicht zusammengebracht werden. Mit
Hilfe des Resonanz über das Portal könne die Zusammensetzung und Entscheidungsstruktur
überdacht werden, so Kommissionsmitglied König.
Das ist Ilse Aigner auch
lieber als staatliche Verordnungen. Verordnungen müssen letztlich mit dem
EU-Recht abgegolten werden und da seien „sehr dicke Bretter zu bohren“. Billen
sieht Änderungen „über das Portal“ schneller erreicht.
Verbände…
Ob die Firmen aus Druck oder Einsicht ihre Produkte ändern bleibt ein Geheimnis. Der Erfolg gibt dem Portal recht. Dass die Verbände von dem Portal „nicht begeister sind, ist deren Rolle“, erklärte Billen. Die ziehen nur verhalten ihre 100-Tage-Bilanz. Prof. Dr. Matthias Horst, Hauptgeschäftsführer des Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL), mahnt eine sachliche Information und einen fairen Dialog zwischen Verbraucher und Wirtschaft an. Im Portal finde allerdings eine „Vermischung von Meinungen und Fakten gerade im Informationsteil“ statt. Überschriften seien tendenziös und diskriminierend formuliert. In der Summe fürchtet der Spitzenverband durch eine Diskreditierung „Benachteiligungen im Wettbewerb“. Die Furcht, das Portal entfalte eine Prangerwirkung habe sich bestätigt, erklärte Prof. Horst.
… und Firmen
Im Vorfeld der
Zwischenbilanz übernimmt aber auch die Industrie selbst die Initiative,
Wahrheit und Klarheit auf den Markt zu bringen. Die „geschützte geografische
Angabe“ (g.g.A.) als europäisches Herkunftszeichen besagt lediglich, dass ein
Produkt in einer Region erzeugt, oder hergestellt, oder verarbeitet oder eine
besondere spezielle Eigenschaft hat. Daher werden überwiegend norddeutsche
Schweine für den Schwarzwälder Schinken verwendet, solange die Räucherei im
Schwarzwald stattfand. Mitte des Monats hat das Bundespatentgericht der
Schutzgemeinschaft der Schwarzwälder Schinkenhersteller Recht gegeben, das der
Schinken auch dort geschnitten und gepackt werden muss. Allerdings wird sich an
der gängigen Praxis so schnell nichts
ändern, betont die Abraham Schinken GmbH, die auswärts schneidet und packt und
sich ihrerseits auf ein Urteil aus dem Jahr 2008 beruft. Der Schutzverband muss
als nächstes bei der EU beantragen, dass Schneiden und Packen zwingend im
Schwarzwald erfolgen muss. So lange gilt für die Abkürzung g.g.A.: geschnitten,
gepackt: Auswärts.
Ganz frisch und mit
weniger Medienecho hat der Deutsche Fleischer-Verband (DFV) Aldi Süd abgemahnt.
Der Discount vertreibt industriell verarbeitetes Fleisch unter dem Begriff „Meine
Metzgerei“. Nach Ansicht des DFV ist das eine rechtswidrige Irreführung der
Verbraucher, erklärte Hauptgeschäftsführer Martin Fuchs gegenüber
Herd-und-Hof.de. Fuchs will die Abmahnung nicht als Aktion im Kielwasser des
Lebensmittelportals verstanden wissen, erläuterte er am Tag zuvor. Fuchs behält
sich eine Klage vor, weil die Verbraucher hinter dem Begriff traditionelles
Handwerk vermuten. Zunächst aber hat Aldi Süd noch Gelegenheit, Stellung zu nehmen.
Die Stimme aus dem Netz
Wo liegt die Wahrheit?
Zunächst ist das
Interesse an dem Portal groß. Gerd Billen erwartet dass die Zugriffe weniger
werden, weil sich vieles wiederholt. Das Portal kann nur der Anfang sein.
Billen will es mit dem Bundesinstitut für Risikobewertung und mit dem neuen
Portal www.lebensmittelwarnung.de
verknüpfen, damit der Konsument sich noch umfangreicher informieren kann.
Einer Mitarbeiterin
des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) fehlen im Portal andere weitergehende
Informationen. Wenn der Kunde mehr Kalb in der Kalbswiener haben möchte, dann
muss er auch über mögliche Preissteigerungen informiert werden.
Letztlich geht es
darum, dem Verbraucher nicht nur einen Einblick in die Zutaten geben zu wollen,
sondern auch das System erklären zu müssen, warum die Lebensmittel so sind, wie
sie sind. Beispielsweise beschweren sich Kunden die im Portal, dass nicht alle
Zutaten regionalen Ursprungs sind. Das Portal jedoch laviert sich um eine
Definition des Begriffes „regional“ herum. Sind es 50 oder 100 Kilometer, ist
ganz Deutschland erlaubt oder gilt Europa als Region? Dürften 3,7 Millionen
Berliner nur Obst und Gemüse aus Brandenburg essen, dann sähe der Salatteller
ziemlich leer aus.
Die Zahlen der
Zwischenbilanz müssen sich dem großen Rahmen stellen. In 100 Tagen wurden 72
Produkte veröffentlicht. Zu 150.000 Lebensmittelprodukten in Deutschland kommen
jährlich bis zu 30.000 neue Produkte hinzu1). Auch wenn nur ein
Drittel nach einem Jahr noch im Regal steht. Wird die „große Täuschung“ zum
Scheinriesen?
Neue Semantik finden
Nicht nur die Semantik
zwischen Verbrauchern und Bauern ist aus den Fugen geraten. Nach Prof. Dr.
Roosen, Betriebswirtschaftlerin der Universität Freising-Weihenstephan, ist die
Differenz zwischen Verbraucher und Lebensmittelindustrie angewachsen. Auf der
Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus
in Halle Ende Oktober, sagte sie, dass die Kunden mit der aktuellen Lebensmittelherstellung
kaum mehr vertraut sind und eher noch die Landwirtschaft kennen. Ihr Misstrauen
resultiert auch aus der Wahrnehmung der Marktpositionen, so Prof. Roosen. Zur
Aufklärung braucht es nicht nur die Erklärung der Technologie, sondern ebenso
die Vermittlung der „Grundidee einer technologischen Gesellschaft“.
Dr. Sabine Eichner,
Geschäftsführerin der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE),
forderte auf der gleichen Tagung, dass Spielregeln aufgestellt und eingehalten
werden müssen.
Dann schmeckt auch
wieder das Käseimitat, ohne dass es gleich zu einem Brandzeichen geworden ist.
Natürlich ordentlich deklariert.
Lesestoff:
Das Portal www.lebensmittelklarheit.de geht online
Hier irrt der
Verbraucher, führt der BLL aus
Die Semantik zwischen
Verbraucher und Bauer
1) Franz Kilzer auf dem Forum „Lebensmittel und
Ernährung der Zukunft“, Berlin 2006. Auf Herd-und-Hof.de
Roland Krieg (Text und Fotos)