Vor Lebensmitteln wird gewarnt
Ernährung
Zwischenbilanz Lebensmittelwarnung.de
Ende Oktober ging das neue Informationsportal Lebensmittelwarnung.de online. Gemeinsam mit Dr. Helmut Tschiersky-Schöneburg, Präsident des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) stellte Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner das Portal vor. Eingestellt werden Lebensmittel, die als gesundheitsgefährdend gelten oder geeignet sind, Verbraucher zu täuschen.
Vorher – Nachher
Der Inhalt ist nicht neu.
Seit mehr als 30 Jahren gibt es das europäische Schnellwarnsystem RASFF (Rapid
Alert System for Food and Feed), an dem mittlerweile auch Länder in Übersee
Interesse zeigen und es damit auch zu einem globalen System entwickeln könnten.
Verbraucher und Medien können sich die Meldungen anzeigen lassen. Über das
System laufen nicht nur Meldungen über aktuell gesundheitsgefährdende
Lebensmittel, sondern auch nachgereichte Informationen. So kann das Ereignis
„Glasscherben in Konfitüre“ mehrere Meldungen generieren. Die meisten Meldungen
berichten über Produkte, die an den Außengrenzen der EU abgewiesen wurden. Der
Jahresbericht 2010 weist 576 Meldungen innerhalb der EU aus, die über
gesundheitsgefährdende Lebensmittel informieren, die schon auf dem Markt waren.
Nicht alle Länder melden über RASFF.
In Deutschland melden die
Bundesländer über unterschiedliche Behörden. Überregional melden sie an das
BVL, das auch die deutsche Schnittstelle zum RASFF ist. Die „Konfitüre mit
Glasscherben“ hätte beispielsweise Berlin an das BVL und die Medien gemeldet,
so dass die Verbraucher im Laufe des Tages über die Gefahr informiert werden.
Um sich aktiv einen Überblick zu verschaffen, mussten die Konsumenten auf den
relevanten Seiten der jeweiligen Behörden in allen Bundesländern nachschauen.
Letzteres hat das neue
Portal seit zwei Monaten gebündelt. Dort können die Bundesländer ihre Meldungen
zentral angeben, die dann per E-Mail, künftig über SMS und Twitter die
Verbraucher sofort informieren. Inhaltlich hat sich nach Auskunft des BVL der
Gefährdungsgehalt gegenüber dem RASFF geändert: Auf dem neuen Portal sollen nur
die gesundheitsgefährdeten Meldungen in das System fließen: Ein Ereignis, eine
Meldung.
Bilanz BMELV und BVL
Ilse Aigner zog nach gut
zwei Monaten im Dezember eine erste Zwischenbilanz: „Rund 1,6 Millionen
Zugriffe auf die Seite innerhalb der ersten vier Wochen zeigen: Das Interesse
ist hoch und wir erreichen mit dem Portal viele interessierte Verbraucher.“
Die
Verbraucherschutzbehörden erreichen die Verbraucher nun „bundesweit und nicht
nur über einzelne, regionale Medien“, erklärt Bremens Senatorin für Bildung,
Wissenschaft und Gesundheit, Renate Jürgens-Pieper, den Fortschritt bei der
Transparenz. Der große Zuspruch ermutigt zum Ausbau des Portals. „Was manchen
Nutzern fehlt, ist ein E-Mail-Newsletter, der über neu eingestellte Meldungen
informiert, oder ein RSS-Feed“, resümiert Dr. Tschiersky-Schöneburg. Noch in
diesem Jahr soll der Dienst um diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten
erweitert werden. Auch der Internetdienst „Twitter“ ist im Gespräch.
Überraschend viele Meldungen
Zum Start des Portals ging das BVL von drei bis fünf Meldungen im Monat aus. Zur Zeit der Zwischenbilanz vom 22. Oktober bis zum 09. Dezember hat Herd-und-Hof.de jedoch 21 Meldungen gesammelt, die sich auf die einzelnen Wochen wie folgt verteilen:
Gegenüber Herd-und-Hof.de sagte ein Pressesprecher des BVL, dass es im Vorfeld keine Erfahrungen über die tatsächlichen Einstellungen von Meldungen gegeben habe. Vorher wurde auch nicht jedes Ereignis per Meldung der Bundesländer an das BVL gemeldet, da fehlten Erfahrungswerte. In den letzten Wochen habe die Anzahl der Meldungen nachgelassen, was er auf die Unregelmäßigkeit der Ereignisse zurückführt. Im Portal tauchen jetzt lokale Ereignisse im großen Rahmen auf. Beispiel: Die Meldung vom 25. Oktober, in der eine Landfleischerei aus Rottenbach 40 Kilogramm grobe Mettwurst zurückgerufen hat.
Inkonsistente Datensätze
Am 05. Dezember wurde ein Käse zurückgerufen, der bundesweit in einem Discounter vertrieben wird. Hat ein Berliner Konsument seinen Meldefilter des Portals auf die Hauptstadt eingestellt, dann hat er die Warnung nicht erhalten. Berlin selbst hat zwar die Warnung von den anderen Bundesländern erhalten, heißt es beim BVL, diese aber dann nicht mehr für die Nutzer des Portals wieder eingestellt. Wenn dann die Berliner Medien nicht informiert werden, geht die bundesweite Warnung an den Konsumenten der Hauptstadt vorbei – es sei denn, er lässt sich über alle und alles informieren. Und das sieht dann so aus:
Die Wirkungsbilanz
Keine Frage: Das Portal
bündelt Informationen. Keine Frage: Die Bündelung verschafft einen schnelleren
Überblick. Aber, die Ereignisse haben in der Zahl und der Schwere durch das
Portal weder zu- noch abgenommen. Im Unterschied zum vorherigen Status erhöht
sich die lediglich die Informationsdichte. Da taucht für den Verbraucheralltag,
der allzu oft durch die Frage „Was kann man heute noch essen?“ geprägt ist,
auch die Frage nach der Wirkungsbilanz des neuen Portals auf.
Wer sich die Meldungen ins
Haus holt, muss selbst entscheiden, wie er sie auf sich wirken lässt. Nicht
alle Produkte sind in jedem Einkaufsportfolio, nicht alle Produkte sind in der
eigenen Region. Aber was passiert langfristig? Regen die Menge und die
Ausgestaltung der Warnungen tatsächlich die objektive Wahrnehmung an, oder
entsteht ein dauerhafter Alarmzustand?
Der Mensch ist Emotion
Verbraucherpolitiker und
Lebensmittelhandel müssen überwiegend mit einem emotional gesteuerten Verbraucher
rechnen. Diesen Rat gibt Prof. Dr. Reimar von Alvensleben vom Lehrstuhl
Agrarmarketing der Universität Kiel.1) Ist der Verbraucher stark in
ein Thema involviert, dann erreichen ihn auch sachliche Argumente. Bei einem
geringen Involvement erfolgt die Informationsverarbeitung hingegen emotional.
Für Alvensleben erreichen Informationen über Lebensmittel den Menschen in
erster Linie auf peripheren Weg, stoßen Sachinformationen „schnell an ihre
Grenzen“.
Lebensmittelskandale gehören
nach Alvensleben eher zu den Schlüsselereignissen, die eine hohe Aufmerksamkeit
erzielen und das Interesse nach Mehr wecken. Zudem erwarten Verbraucher von
Lebensmitteln ein „Null-Risiko“, was die Risikokommunikation erschwert.
Auf die Langzeitwirkung darf
man auch unter den Gesichtspunkten Verfügbarkeitsheuristik und
Wahrscheinlichkeitsvernachlässigung gespannt sein. Mit diesen Begriffen
beschreibt Prof. Dr. Dr. Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstituts für
Risikobewertung (BfR), die Risikowahrnehmung. Die Verfügbarkeitsheuristik
beschreibt die Einschätzung, dass ein Risiko groß ist, wenn es leicht fällt,
konkrete Beispiele zu finden. Durch die Wahrscheinlichkeitsvernachlässigung
wird die Aufmerksamkeit nur dem schlimmstmöglichen Fall gewidmet, selbst wenn
dieser höchst unwahrscheinlich ist.
Die Voreinstellung der
Verbraucher ist jedenfalls klar, wie das Kölner Rheingold-Institut 2010 in
einer Studie für den Handel herausgearbeitet hat: Das Vertrauen in die
Lebensmittel sinkt mehrheitlich und Lebensmittelskandale scheinen dazu beigetragen
zu haben.82 Prozent der Befragten erwarten künftig mehr Lebensmittelskandale.
Wahrscheinlich diejenigen,
die sich die Warnungen abonnieren.
Lesestoff:
Das Portal: www.lebensmittelwarnung.de
Das europäische Schnellwarnsystem: http://ec.europa.eu/food/food/rapidalert/index_en.htm
Den Bericht zur Freischaltung des neuen Portals auf Herd-und-Hof.de finden Sie hier
1) Alvensleben, Reimar: Lebensmittelskandale und Ökoprodukte. Wie Verbraucher Qualität und Risiken wahrnehmen; in: Lohmann Information, Oktober – Dezember 2002, 4/2002, S. 1 ff
Roland Krieg