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Ernährung

FU nimmt die ?Novel Food Verordnung? unter die Lupe

> Die EU-Gesetzgebung regelt unter anderem, welche Lebensmittel in der EU auf den Markt dürfen, welche genehmigungspflichtig sind und aus welchen pflanzlichen Rohstoffen Lebensmittelfarbstoffe gewonnen werden dürfen. Ein Blick auf eine der Verordnungen lässt erheblichen Zweifel am Sinn der Definition aufkommen: Zu ungenau und teilweise sogar widersprüchlich sind die Bezeichnungen, die das Gesetz vorgibt. Dieses Ergebnis präsentieren die Botaniker der Freien Universität Berlin in der Berliner Messehalle 4.2 am Stand 222.

Novel Food Verordnung
1997 verabschiedete die Europäische Union die so genannte "Novel Food Verordnung" (EG 259/97), in der festgelegt wurde, welche Produkte in der EU als Lebensmittel ohne vorherige Prüfung verkauft werden dürfen und welche ?neuen Lebensmittel? erst einen Genehmigungsprozess durchlaufen müssen. Was vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang in der EU von Menschen verzehrt wurde, darf demnach ohne Prüfung vermarktet werden. Alle anderen Lebensmittel müssen als ?neuartiges Lebensmittel? zugelassen werden. Die Botaniker fragten sich: Inwiefern stellt die Verordnung tatsächlich eine Verbesserung des Verbraucherschutzes dar? Schränkt sie nicht die Wahlfreiheit des Verbrauchers in sinnloser Weise ein? Behindert sie vielleicht unnötig den freien Warenverkehr mit Drittländern? Schafft sie klare Rechtsgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten für Industrie und Landwirtschaft?

Rechtsunsicher und begrenzend
Das Ergebnis ist eindeutig. Der Verordnungstext gibt weder Umfang oder Form noch Zeitraum für gültige Nachweise des ?nennenswerten Verzehrs? an und schafft damit erhebliche Rechtsunsicherheit für die Industrie. Haben die antiken Griechen den Aaronstab noch verzehrt, also vor 1997 als Lebensmittel geführt, gilt die Pflanze heute zu den giftigen Vertretern, die nicht gegessen werden dürfen.
Zudem schränkt er aus Sicht der Wissenschaftler grundlos den freien Warenverkehr mit außereuropäischen Staaten, die Entwicklungsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sowie die Wahlfreiheit des Verbrauchers ein. Uralte Kulturpflanzen, die nicht über den Großhandel vertrieben werden ? wie zum Beispiel die Kerbelrübe, Wegerich oder zahlreiche Kohlsorten - werden genehmigungspflichtig, da hier der Nachweis des ?nennenswerten Verzehrs? nicht über den Handel erbracht werden kann. So auch sämtliche Obst- und Gemüsesorten, die bisher in der EU nicht vertrieben worden sind, selbst wenn sie in ihren Herkunftsländern als Grundnahrungsmittel gelten.

FU fordert Grüne Liste
?Die Festlegung, was 'selbstverständlich' ein Lebensmittel ist und was genehmigt werden muss, unterliegt keiner nachvollziehbaren Logik?, sagt der Botanik-Professor Hartmut Hilger von der Freien Universität Berlin. ?Wir schlagen deshalb vor, dass plausible Kriterien festgelegt werden, die den Markt für bisher nur lokal und/oder im Selbstanbau genutzte Arten sowie außereuropäische Lebensmittel offen halten. Dadurch würden sowohl die Dynamik als auch die Entwicklungsmöglichkeiten des Marktes erhalten bleiben, und die Wahlfreiheit des Verbrauchers wäre weiterhin gewährleistet.? Mittelfristig wünschen sich Hartmut Hilger und sein Kollege Maximilian Weigend eine ?Grüne Liste? der als Lebensmittel in der EU zugelassenen Pflanzen. Die Liste sollte in jedem Mitgliedsstaat der EU auf der Basis gleicher Kriterien erstellt werden. ?Damit wäre die Marktvielfalt für den Verbraucher gesichert?, meint Weigend. Zudem entfallen langwierige und teure Zulassungsverfahren, die manche Kleinunternehmen gar nicht erst aufbringen können.

Falsche Begrifflichkeiten
Wie notwendig die Beteiligung von sachkundigen Botanikern ist, zeigt sich etwa an der ?Verordnung über die Reinheit von Lebensmittelfarbstoffen? (EG/95/45). Sie steckt, so Weigend, voller chaotischer und sachlich falscher Definitionen der pflanzlichen Rohstoffe. In ihr würden Begriffe und botanische Trivialnamen ohne jegliche Definitionen durcheinander geworfen.
Ein Beispiel: der Verordnungstext zu Chlorophyllen, die als grüne Lebensmittelfarbstoffe beliebt sind: ?Chlorophylle werden durch Lösungsmittelextraktion aus natürlichen Arten essbarer Pflanzen und natürlichen Gras-, Luzerne- und Brennnesselarten gewonnen...?
?Gras? ist ein Begriff, der jeder botanischen Definition entbehrt; die Pluralform ?Luzernearten? ist faktisch falsch, da es nur eine Luzerne gibt, nämlich Medicago sativa; und: ?Brennnessel? umfasst je nach Sprache ganz unterschiedliche Pflanzen.
Rotkohl ist durch die züchterische Bearbeitung des Menschen schon lange keine ?natürliche Pflanzenart? mehr. Somit könne er nicht mehr zur Gewinnung von Lebensmittelfarbstoff eingesetzt werden. Die Botaniker der FU sehen in der Verordnung ?ein kontraproduktives und großenteils sinnloses Sammelsurium von widersprüchlichen Aussagen?.

roRo

[Sie können sich alle bisherigen Artikel zur Grünen Woche im Archiv mit dem Stichwort ?IGW 2005? anzeigen lassen.]

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