„Welches Label hätten S´ denn gern?“

Ernährung

Nährwertkennzeichnung bleibt nur Teil der Wirklichkeit

„Big 4“, „4+1“, „Big 8“ oder „Big six“? Vielleicht reicht auch ein Häkchen auf der Lebensmittelpackung aus? Welche Nährwertkennzeichen auf die Verpackung drauf sollen und welche Wirkung sie hervorrufen – da gehen je nach Modell die Meinungen weit auseinander. Auch die Ernährungsfachtagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), Sektion Sachsen, brachte letzte Woche in Leipzig keine Klarheit. Ernährungsindustrie und Verbraucherzentralen liegen mit ihren Vorstellungen von GDA und Ampel unversöhnlich auseinander und haben auch noch Zeit, sich zu positionieren: Vor April 2009 wird es keine Lesung im europäischen Parlament zu diesem Thema geben und die neue Verordnung der EU wird wegen der Übergangszeiten nicht vor 2013/2014 umgesetzt werden, so Astrid Freund vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales.

Ziel...
Das Ziel der Lebensmittelkennzeichnung ist die Information der Verbraucher. Sie will ihn vor Irreführung und Täuschung schützen. Hierzu gibt es eine Reihe von Rechtsgrundlagen: Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln (2000/13/EG), Richtlinie von chininhaltigen und koffeinhaltigen Lebensmitteln (2002/67/EG), Richtlinie über die Nährwertkennzeichnung (90/496/EWG) und sonstige, vor allem nationale Vorschriften wie die Verordnungen über Fruchtsaft, Honig, Zuckerarten, Butter und Nahrungsergänzungsmittel.
Vorgeschrieben sind Verkehrsbezeichnung, der Produktverantwortliche, Mengenangaben, Zutatenverzeichnis, Mindesthaltbarkeit, „enthält Süßholz“, Angaben bei Zusatz von Phytosterinen, Angabe der Losnummer und der Preis. Mittlerweile kommen bis zu 12 allergene Zutaten auf die Liste und eben jetzt noch die Nährwertkennzeichnung in neuer nicht tabellarischer Form. Mit dem Vorschlag zur Lebensmittelinformationsverordnung vom Januar 2008 will die EU alle bestehenden Verordnungen straffen und vereinheitlichen. Dann werden auch alle bisherigen gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen aufgelöst.
Die Pflichtangaben bleiben weiterhin bestehen, doch gibt es Änderungen, die auch Deutschland betreffen. Eine davon ist die Nährwertkennzeichnung, die bislang nur obligatorisch vorgesehen bleibt. Die Mitgliedsländer sollen nach Angaben von Astrid Freund nationale Regelungen erlassen können. Da bliebe aber die Harmonisierung des Binnenmarktes auf der Strecke.

... und Realität
Wie wenig Konsumenten mit Verpackungsaufdrucken umzugehen wissen, zeigte Uta Viertel von der Verbraucherzentrale Sachsen: Pflanzensterine sind natürliche Bestandteile von Pflanzenzellen und führen bei regelmäßigem Verzehr zu einer Absenkung des Cholesterinspiegels um bis zu zehn Prozent. Lebensmittel mit zugesetzten Pflanzensterinen gelten als Novel Food und müssen entsprechend gekennzeichnet sein. Viel hilft nicht viel, denn bei mehr als zwei Gramm Pflanzensterine am Tag sinkt der Cholesterinspiegel nicht weiter ab. Deshalb gilt die Empfehlung, nicht mehr als drei Gramm am Tag aufzunehmen. Kinder unter fünf Jahren, Schwangere und Stillende sollen auf diese Lebensmittel ganz verzichten und wer Medikamente gegen zu hohen Cholesterinwerte nimmt, sollte seinen Arzt konsultieren, bevor er zusätzlich solche Lebensmittel kauft und verzehrt. So ist es seit 2004 auch deutlich auf den Verpackungen aufgedruckt.
Aber die Umsetzung bei Verbrauchern ist mangelhaft, wie eine Studie der Verbraucherzentralen mit dem Bundesinstitut für Risikoforschung aufzeigte.
Uta Viertel fasste noch einmal zusammen: Nur 89 Prozent der Käufer von Lebensmitteln mit Pflanzensterinen kannten ihren Cholesterinwert, bei acht Prozent war er mit Sicherheit nicht gemessen worden. In 16 Prozent der Haushalte aß die gesamte Familie von den Lebensmitteln mit, nur acht Prozent wussten, dass Pflanzensterine extra zugesetzt werden und nur vier Prozent der Käufer kannten die Grenze von drei Gramm am Tag. Nur vier Prozent der Käufer wussten, dass Pflanzensterine die Aufnahme fettlöslicher Vitamine (A,D,E und K) im Darm hemmen.
Doch auch wer sich mit den Lebensmittel auskennt, muss aufpassen. Ein zusammengestelltes Frühstück bringt den Konsumenten jedoch ohne Mathematikstunde schnell jenseits der Drei-Gramm-Grenze: Wer ein Scheibe Brot (0,50 g Sterine) mit 10 g Margarine (0,75 g) und einer Scheibe Käse (0,70 g) verzehrt, kommt bei zusätzlichem Genuss von 200 ml Milch (0,60 g) und einem Joghurt (2,0 g) auf eine Gesamtsumme von 4,55 g Pflanzensterine, rechnet Uta Viertel vor.

Die Vielfalt der Logos
Die Nährwertkennzeichnung ist auf Lebensmittelverpackungen bereits vorhanden. Die tabellarische Form hat aber, so Prof. Dr. Joachim Westenhöfer von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, „offenbar keine nachhaltigen Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten gehabt“, denn Übergewicht und Adipositas bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nehmen dramatisch zu. Eine Reform ist naheliegend, wobei derzeit noch nicht einmal Klarheit besteht, welche Informationen angegeben werden sollen.
Basis sind die „Big 4“: Energie, Kohlenhydrate, Protein und Fett. Die Bundesregierung splittet die Fettangabe in ihrem „4+1“-Modell noch in die Angabe der ungesättigter Fettsäuren auf. Wer es ausführlich mag, ergänzt bei den „Big 8“ die Werte für Zucker, gesättigte Fettsäuren, Ballaststoffe und Kochsalz. Die EU favorisiert nach Angaben von Astrid Freund die „Big six“: Energie, Fett, gesättigte Fettsäuren, Kohlenhydrate, Zucker und Salz. Aufmerksame Kunden finden im Lebensmittelregal noch weitere Varianten.

Die britische Ampel verblasst
Als Vorbild für die Verbraucherzentrale gilt die britische Ampel. Die aber verliert an Schärfe. „Gleich ob Ampelkennzeichnung, GDA-Kennzeichnung oder ein Hybridmodell aus beiden, die meisten Studienteilnehmer waren in der Lage, die Nährwertinformationen auf der Packung richtig zu interpretieren“, sagte Prof. Dr. Klaus Grunert. Er ist Autor einer kürzlich vorgestellten Studie des European Food Information Council (EUFIC). Darin wurden mehr als 2.000 Kunden der größten britischen Supermarktketten befragt, welches Modell am hilfreichsten ist. Tesco arbeitet mit dem GDA-Modell, Sainsbury mit der Ampel und ASDA mit einem Hybridmodell. 80 bis 90 Prozent konnten quer über alle vorhandenen Kennzeichnungsvarianten gesündere von ungesünderen Lebensmitteln unterscheiden. Demnach waren für alle Briten die Kennzeichnungsmodelle gleich verständlich.
Gegenwind bekommt die Ampel von den Tories. Die Opposition hatte sich kürzlich gegen die Ampel ausgesprochen. Seit die regierende Labour-Partei sich auf die Ampel konzentriert, sei der Fortschritt in der Bekämpfung des Übergewichtes zurückgegangen, sagte Gesundheitsexperte Andrew Lansley. Die Regierung sei keine Lebensmittelpolizei und die Ampel wäre ein bevormundender Ansatz. Die Tories bevorzugen das GDA-Modell. Im nächsten Jahr wird im britischen Unterhaus neu gewählt und die Tories werden offenbar die Labour-Regierung ablösen.
roRo (mit aid infodienst und Lebensmittelzeitung)

Neben den Inhaltsstoffen steht die Form der Darstellung auf dem Programm. In Deutschland favorisieren die Verbraucherzentralen das Ampel-Modell, während die Ernährungsindustrie sich bei den Angaben auf das GDA-Modell (guideline daily amount) stützt. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr die Verbraucher befragt, welches Modell sie bevorzugen würden und als Kompromiss das farbige GDA-Modell synthetisiert.
Weltweit gibt es noch mehr Modelle. In Neuseeland hat sich ein grünes Häkchen durchgesetzt, dass von der nationalen Herzstiftung gefördert wird. Die europäische Ernährungsindustrie favorisiert vergleichbare Symbole, die in den Niederlanden bereits eingeführt sind. Prof. Westenhöfer macht klar, dass auch diese Modelle auf einer Ampel basieren. Lebensmittel, die bestimmte Werte einhalten, bekommen das Positivzeichen.

Verstehen heißt nicht umsetzen
Prof. Westenhöfer kritisiert, dass die Fürsprecher der einzelnen Logos Verbraucher lediglich befragen, welches System sie mögen und ob sie meinten, es auch richtig anzuwenden. Weniger untersucht sind die Auswirkungen der Systeme, ob Verbraucher auch tatsächlich ihr Ernährungsverhalten ändern.
Ernaehrungspyramide DGEDaraufhin hat der Wissenschaftler für Public Health 420 Probanden Lebensmittelpaare vorgelegt, die nach dem Ampelsystem, den GDA, der farblichen GDA, mit einem einfachen Symbol oder gar nicht gekennzeichnet waren. Die Kunden erkannten in unterschiedlicher Weise die gesünderen Lebensmittel. Bei der Ampel griffen sie am häufigsten zum gesünderen Produkt, beim nicht gekennzeichneten am wenigsten.
Allerdings: In einem zweiten Schritt sollten die Personen Tagespläne aus den Lebensmitteln zusammenstellen. Und hier gab es keine Unterschiede mehr, denn sowohl bei der Zufuhr an Energie, als auch bei gesättigten Fetten, Kohlenhydraten, Zucker oder Natrium wichen die Menüs kaum voneinander ab. Verbraucher versprachen durchaus, ein- bis zweimal die Woche mehr zu einem gesünderen Produkt zu greifen - doch den Ernährungsexperten ist das viel zu wenig. Alle untersuchten Labels hätten zu keinem tiefgreifenden Wandel des Ernährungsverhaltens geführt. Fazit des Professors: „Ernährungsinformationen können nur in Grenzen das Verhalten ändern.“ Auch ohne jegliche Kennzeichnung war die Auswahl der Produkte nicht wirklich falsch. Wer also auf die Ampel setze, um das Gesundheitsproblem zu lösen, der, so Westenhöfer, „setzt auf ein tot gerittenes Pferd“.

Entscheidung in 20 Sekunden
„Die Ampel verhindert nicht jeden Unfall, aber sie schafft Ordnung“, verteidigte Heike Lemmermöhle von der Verbraucherzentrale Bundesverband die Ampel. Sie sorge für eine schnelle Entscheidung und ist leicht verständlich, denn „Gesundheit wird im Supermarkt gemacht“, so die Verbraucherschützerin. Wer allerdings alles auf die Etiketten schreiben möchte, was drauf soll, brauche schon bald eine Mogelpackung oder einen Beipackzettel, warnte Michael Warburg von Unilever Bestfoods aus Hamburg. Die Industrie fürchtet den roten Punkt als Zeichen des Verbotes und verteidigt die industriellen Portionsgrößen mit dem Hinweis, dass Verbraucher auch nicht in 100-Gramm-Portionen denken. „Die Etikettierung ist nur ein kleiner Baustein in der Gesundheitsproblematik“, so Warburg und wehrt sich vehement gegen die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel.
Das ist so richtig wie falsch, denn die Gesundheit wird auch nicht allein im Supermarkt gemacht. Weniger als 14 Minuten hält sich der Durchschnittskonsument im Supermarkt auf, führte Lemmermöhle an. Nur bei Fertiggerichten nutzt er 40 Sekunden, um sich für ein Produkt zu entscheiden. Die Durchschnittsdauer der Auswahl liegt bei 20 Sekunden.
Tabelle und GDADie DGE ist mit beiden Modellen nicht zufrieden. Die Ampel ist sehr plakativ und wird dem einzelnen Lebensmittel nicht immer gerecht, findet Dr. Helmut Oberritter von der DGE. Die Farben bezeichnen Wertspannen von Inhaltsstoffe, die ernährungsphysiologisch weniger homogen sind. Die Zuckermenge zwischen 5 und 12,5 Gramm wird einheitlich mit der Farbe Gelb versehen, doch weist die Spanne große ernährungsphysiologische Differenzen auf.
Die DGE arbeitet wie die Weltgesundheitsorganisation mit Referenzwerten, die nicht auf einzelne Lebensmittel heruntergebrochen werden können. „Nutritive Referenzwerte sind so zu interpretieren, dass die Zielgröße durch die Gesamtheit der Ernährung zu erreichen ist“, so Oberritter.
Die GDA wollen sich dadurch auszeichnen, dass sie dem Verbraucher signalisieren, wie viel Prozent seines Tagesbedarfs der Verzehr deckt. Allerdings halten die Angaben den wissenschaftlichen Untersuchungen nicht Stand. Männer haben einen Tagesbedarf von 2.500 (Teenager) bis 2.000 kcal (ab 65. Lebensjahr). Bei Frauen senkt sich der Bedarf in der gleichen Zeitspanne von 1.900 auf 1.600 kcal. Die Bedarfsangaben der GDA beziehen sich alle auf einen Tageswert von 2.000 kcal: Für jugendliche Männer zu wenig, für Frauen ab 50 eine „Zwangsernährung“, folgert Dr. Oberritter.

Talking Food
Im November feiert Talking Food sein 10jähriges Jubiläum und hat noch immer viele Ideen. Die Kampagne „Talking Food – Wissen, was auf den Tisch kommt“ war im November 1998 ein deutscher Beitrag zu einer EU-Kampagne über Lebensmittelsicherheit. Die EU-Finanzierung endete 2002, doch Talking Food machte weiter. Zusammen mit dem aid infodienst unterstützt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz das Jugendportal und führt die Kampagne mit dem Motto „Jugend is(s)t aufgeklärt fort. Projektkoordinatorin der ersten Stunde Eva Weißen: „Die Definitionen du die Themen, die wir zu Beginn von Talking Food entwickelt haben, sind heute so aktuell wie vor zehn Jahren: Über Lebensmittel sprechen, diskutieren, verschiedene Meinungen und Argumente hören, sich selbst eine Meinung bilden und andere anregen, das Thema aufzugreifen.“ Das Angebot wendet sich vor allem an Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren und kommuniziert hauptsächlich über das Internet: Alle 14 Tage erscheint ein Newsletter mit einem Schülerquiz, der Frage der Woche und einem Saisontipp für die Küche: www.talkingfood.de
roRo

Ende offen
Der Wert eines Lebensmittel könne nicht auf vier Zahlenangaben beschränkt werden, sagte der Ernährungsgelehrte. Mittlerweile werden Lebensmittel auch nach ökologischen und sozialen Standards gehandelt. Zudem zeige sich, dass Menschen mit höherem Einkommen und besserer Bildung weniger Ernährungsprobleme aufweisen, als Menschen mit geringerem Einkommen und weniger Bildung. Die in der Studie KiGGS identifizierte Bevölkerungsgruppe gilt es, zuerst mit Informationen zu versorgen.
Die Nährwertkennzeichnung kann kein Ersatz für die Verbraucherausbildung sein, folgert die DGE. Sinnvoll kann die Kennzeichnung sein, wenn sie für verpackte und zusammen gesetzte Lebensmittel gilt, die für Verbraucher nur schwer auszuwerten sind. Ein Modell helfe aber weniger, verschiedene Lebensmittel untereinander zuzuordnen, kann aber horizontal in einer Produktkategorie helfen, eine bessere Alternative zu finden, empfiehlt Dr. Oberritter.

Lesestoff:
 
Das europäische Vergleichsmodell unter www.choicesinternational.org
Die Position der Verbraucherzentralen finden Sie im Netz unter www.vzbv.de, wobei speziell die Hamburger Verbraucherzentrale die Portionsangaben der Industrie unter die Lupe genommen hat: www.vzhh.de
Die Studie über die britische Kennzeichnung finden Sie unter www.eufic.org
Die Stellungnahmen der DGE zu Ampel und GDA finden Sie unter www.dge.de /Wissenschaft/Stellungnahmen. Ganz allgemeinverständlich hat die DGE eine dreidimensionale Lebensmittelpyramide herausgebracht, die Lebensmittel zueinander in Wert setzt.

Roland Krieg; Fotos: roRo

29.01.2018: Linkbereinigungen; Roland Krieg

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