Zwei Jahre Lebensmittelklarheit

Ernährung

Lebensmittelklarheit: Dialog statt Klagen

Verfassungswidrig sei das Verbraucherportal Lebensmittelklarheit.de. Unbescholtene Unternehmer würden an einen Pranger gestellt und ruiniert. Zwei Jahre nach Start unter Federführung der Verbraucherzentrale Hessen und mit Förderung des Bundeslandwirtschaftsministeriums ist bei Gerd Billen vom Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) Gelassenheit eingezogen. Niemand hat geklagt, die Unternehmer reagieren auf die Auseinandersetzung und das Portal wird erwachsen: Es gehe nicht mehr um das immer neue Einstellen von kritisierten Produkten, sondern ab sofort sollen mit einem Schwerpunktthema und ab Herbst mit einem Dialog mit den Unternehmen die Verbraucher zu einem Partner der Ernährungsindustrie werden.

„Es gibt viel zu tun“

„Es gibt viel zu tun und es gibt viel zu ändern“, fasste Billen am Donnerstag das Jubiläum des Internetportals zusammen. Drei von vier Verbrauchern fühlen sich durch die Aufmachung der Produkte getäuscht, so die Begleitforschung. Mehr als 90.000 Konsumenten haben sich an mittlerweile elf abgeschlossenen Umfragen beteiligt. Täuschungen sind demnach nicht nur ein Einzelfallproblem, sondern systematisch verbreitet, so Billen. Das Verhältnis zwischen Verbrauchere und Ernährungsindustrie sei im Status einer „zerrütteten Ehe“ angekommen.
Mehr als 7.600 Produktmeldungen sind in den beiden letzten Jahren eingereicht worden. Abzüglich Doppelmeldungen wurden 360 Produktmeldungen veröffentlicht. Das ist zwar wenig gegenüber rund 100.000 Produkten, die in den deutschen Regalen stehen – aber, so Billen: „Es wird getrickst und getäuscht.“ Die Kuh auf der Weide signalisiert nicht vorhandenen Weidegang, die Gärtnerin holt die Bohnen nicht aus einem Garten, die Schweine für den Schwarzwälder Schinken dürfen auch aus Übersee kommen [1] und woher die tiefgefrorenen Erdbeeren stammen, steht auf der Verpackung eben nicht immer drauf.
Bei 212 der 360 eingestellten Produkten fühlen sich die Verbraucher getäuscht. 73 Mal bei den Angaben von Zutaten und Zusatzstoffen, 56 Mal beim Erscheinungsbild auf der Verpackung und 45 Mal bei der Kennzeichnung. So weist ein Produkt „Kräuter und Gewürze pur“ nur elf Prozent echte Kräuter auf, was von der Firma mittlerweile geändert wird. En Klassiker ist auch die Angabe von „heimischen Früchten“, von denen der Hersteller sagt, er „bemühe“ sich die abgedruckten Früchte aus Europa zu erhalten. Und noch immer werben Firmen mit dem Extra „ohne Geschmacksverstärker“ und führen Hefeextrakt in der Zutatenliste auf.

Der Wechsel stärkt die Beständigkeit

Ab sofort können Verbraucher Schwerpunktthemen setzen. Megatrends wie Regionalität oder Tierschutz sollen damit erkennbar und ausführlich anhand von Produktbeispielen diskutiert werden. Ab Herbst wird der Dialog mit den Unternehmen intensiviert und in einer neuen Rubrik „Im Dialog“ dargestellt.
Gerd Billen nennt mit Hipp und Alnatura zwei Positivbeispiele, die den Verbraucherschützern keine Vorabbriefe und Standardantworten senden, sondern bei Reklamationen Rezeptur und Produktgestaltung ändern. Unilever und Nestlé hingegen sind wenig änderungsbereit, aber antworten immerhin. Die Änderungsquote bei den im Portal kritisierten Produkten liegt nach Angaben der vzbv bei 30 Prozent.

Das Verbrauchergrundgesetz

Zur Bundestagswahl versendet die vzbv einen kleinen Merkzettel mit dem Verbrauchergrundgesetz. Tenor: „Was draufsteht, muss drin sein“, „Was drin ist, muss draufstehen“ und „Was draufsteht, muss verständlich sein“.
Eine der Forderungen ist die Abschaffung der Ausnahmeregelung für die Angabe von Zutaten. Diese müssen alle auf die Verpackung. Gegenüber Herd-und-Hof.de zeigt sich Gerd Billen aber auch kompromissbereit: Ein Tiefkühlunternehmen hat auf der Verpackung einen Code angegeben und die Zutatenliste im Internet ausführlich eingestellt [2]. Das sei in Ordnung, denn auf den Verpackungen sei nicht mehr viel Platz, weil die Schrift ja auch etwas größer werden solle.

Regionalität

Ein neues Dauerthema ist die Regionalität, obwohl es noch immer keine Definition gibt, wie groß die Region ist und ob sie grenzüberschreitend sein darf. Ist ein Bundesland, Deutschland oder die EU regional [3]? Der vzbv laviert sich um das Thema herum und orientiert sich am Projekt Regionalfenster [4]. Für Grenz- und Strukturfragen hat die vzbv keine Antworten parat. Gegenüber Herd-und-Hof.de hat Hartmut König, Projektleiter des Portals in der Verbraucherzentrale Hessen, die Forderung erhoben, dass auch die Zutaten zu 95 Prozent aus der Region stammen müssten.

Verbraucherbildung

Gerd Billen sieht aber auch die Konsumenten in der Pflicht. Die Menschen haben den Kontakt zur Landwirtschaft und zur modernen Lebensmittelproduktion verloren. Umfragen zeichnen immer wieder unglaubliche Fehlleistungen auf, wenn Jugendliche glauben, dass ein Huhn sechs Eier am Tag legt. Daher ist die Verbraucherbildung ein weiterer Baustein der Paarberatung von Konsument und Industrie. Bewegen müsse sich aber die letztere auch. Lebensmittel sind zu einem Vertrauensprodukt geworden, erklärt Billen. Kunden wollen Ware, die ihren persönlichen Bedürfnissen nach Umwelt-, Tierschutz oder Regionalität oder vegetarischer Rezeptur entspricht. Wenn die Konsumenten die Schweine für den Schwarzwälder Schinken mittlerweile nur noch aus dem Schwarzwald haben wollen, dann reiche es nicht, wenn sich die Industrie hinter 20 Jahre alten Leistungsbeschreibungen verschanze.
Ob da die Ehe noch zu kitten ist, bleibt offen. Gerd Billen will Änderungen nicht nur in einzelnen Verordnungen umsetzen, sondern gleich das gesamte System über die Lebensmittelbuch-Kommission dem Verbrauchern näher bringen. Doch weil sich die Industrie unbeweglich zeigt, ist die Reform der Lebensmittelbuch-Kommission zum Stillstand gekommen.

Lesestoff:

www.lebensmitteklarheit.de

[1] Streit um Schwarzwälder Schinken

[2] Zutaten mit Bilder und Herkunft bei Frosta im Internet

[3] Regionalität bedeutet auch Strukturwandel

[4] Regionalfenster startet in Berlin

BLL-Jahrestagung zwischen Eskalation und Aufklärung

Roland Krieg

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