Arbeitnehmerfreizügigkeit ab Mai 2011
Handel
Wirtschaftskonferenz Polen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit
Deutschland wollte die Übergangsregelung gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit noch ein letztes Mal verlängern, doch nach Dr. Marzenna Guz-Vetter von der Berliner EU-Vertretung hatte die EU das nicht akzeptieren können, denn das sei nur bei schweren Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt möglich gewesen. So gilt ab dem 01. Mai die Arbeitnehmerfreizügigkeit im polnischen Nachbarland auch für Deutschland und Österreich, die auf die Übergangsregelung bestanden.
Vier Grundfreiheiten
Die EU als „Hüterin der Verträge“, so Dr. Guz-Vetter,
sieht die EU erst vollendet, wenn Arbeit, Dienstleistungen, Waren und Kapital
im gemeinsamen Binnenmarkt frei fließen können. Wegen der Übergangsregelung
müssen Polen derzeit noch eine Arbeitsgenehmigung vorweisen, bevor sie vor
allem in der Gebäudereinigung, im Transport, aber auch in der Fleischindustrie
und auf den Obst- und Gemüsebetrieben als Saisonarbeitskräfte arbeiten dürfen.
Ab dem 01. Mai 2011 haben die Polen dann die gleichen Rechte wie die „Alt“-Unionsbürger
hinsichtlich des Mindestlohns, des bezahlten Mindestjahresurlaubs und der
Höchstarbeitszeit. In rund einem halben Jahr gelten dann die Sozialversicherungsbestimmungen
des Arbeitsortes. Die Arbeitsverträge können dann direkt zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer abgeschlossen werden und sind nicht mehr über die
Bundesagentur für Arbeit zu genehmigen. Die Bauern müssen nicht mehr alle sechs
Monate das Personal wechseln, sondern können auf ihre Facharbeiter
längerfristig zurückgreifen.
Welche Auswirkungen auf Polen und Deutsche im Mai
zukommen, darüber diskutierten am Montag Vertreter beide Länder auf der 3.
Wirtschaftskonferenz Polen, die gemeinsam von der IHK Berlin und der Polnischen
Botschaft veranstaltet wurde.
Übergangsregelung längst überholt
Polen ist das einzige Land in der EU, das auch in der
Wirtschaftskrise wuchs. Im letzten Jahr lag das Wirtschaftswachstum bei 1,8, im
kommenden Jahr wird es auf 3,5 Prozent geschätzt. Für Rafal Baniak, Vize-Wirtschaftsminister
Polens, war die Übergangsregelung ein Schmerz. Seit dem EU-Beitritt im Jahr
2004 hatten die Polen das Gefühl, es war nur ein halber Beitritt. Denn gerade
das westliche Nachbarland hätte sich für eine gemeinsame Wertschöpfung
geeignet.
Dan Mulhall, irischer Botschafter in Berlin, berichtete
von den Vorzügen der eingewanderten Arbeiter. Irland selbst hat eine lange
Auswanderertradition und musste zwischen den 1840er Jahren und heute rund die
Hälfte der ehemals acht Millionen Einwohnern ziehen lassen. Vor etwa zehn
Jahren stand der Inselstaat kurz vor der Vollbeschäftigung und ab 2004 halfen
die polnischen Wanderarbeiter dem Aufschwung erst richtig nach. Gemessen an den
ausgestellten Sozialversicherungsausweisen sind zwischen 2004 und Ende 2009
mehr als 960.000 Nicht-Iren in das Land gekommen. Waren es zu Beginn rund
70.000 jährlich, waren es in den letzten Jahren 200.000 Einwanderer pro Jahr. Die
Polen haben beispielsweise im Jahr 2008 rund 850 Millionen Euro nach Hause zu
ihren Familien überwiesen, was nach Mulhall ein deutliches Signal sei, dass die
Arbeiter nicht an der unteren Lohnstufe gearbeitet haben. Und selbst in der
irischen Wirtschaftskrise würden die Polen noch meist im Land bleiben.
Auslandsarbeit hilft auch zu Hause
Die Auslandsüberweisungen haben auch der Republik Polen
geholfen. Nach Rafal Baniak flossen bis 2009 rund 24 Milliarden Euro auf die
polnischen Banken. Dadurch wurde der Konsum stimuliert und es wurden mehr
Steuer gezahlt, die der Staat wieder ausgeben konnte.
Mit Rückblick auf das Jahr 2004 wurde allseits
bedauert, dass Deutschland die Option der Übergangsregelung gezogen hat. Die
befürchtet „Migrantenflut“ ist ausgeblieben und es wird auch für die Zeit nach
dem Mai 2011 keine Arbeiterflut erwartet. Gerade Deutschland und Polen sind
nach IHK-Präsidiumsmitglied Tobias Weber die wirtschaftlichen Zugpferde der EU
aus der Krise. Das hätte man schon längst haben können, so Dr. Guz-Vetter. Die
Beschränkungen hätten vor allem Ostdeutschland geschadet. Fachkräfte aus Polen
hätten hier Industrieansiedlungen unterstützen können – so handelt eher der
Westen als der Osten Deutschlands mit seinem östlichen Nachbarn.
Keine Billigarbeiter mehr
Letztlich ist auch das wirtschaftliche Niveau in Polen
deutlich angestiegen und die Menschen kommen nicht mehr zu Billigjobs nach Deutschland.
Die Arbeitsbeziehungen sind viel komplexer geworden. Nach Weber gibt es in
Berlin mehr als 6.000 polnische Firmen. Das sind mittlerweile mehr als
türkische Unternehmen.
Deutschland und Polen leiden beide unter dem demografischen
Wandel. Nicht nur Deutschland, sondern auch Polen sucht händeringend
Facharbeiter. So bietet der kommende 01. Mai auch mehr Chancen, einen
gemeinsamen Arbeitsmarkt aufzubauen. Tomasz Kalinowski, Gesandter-Botschaftsrat
Polens, beruft sich auf eine Studie, die untersucht hat, woher und wohin
polnische Arbeiter nach dem 01. Mai Arbeit suchen: Berlin wird zwar wegen
seiner nähe im Fokus liegen, doch die meisten werden in die Regionen gehen, denen
es besser geht: Düsseldorf und Oberbayern. Es werden auch nicht die Menschen
Polen verlassen, denen es wie in Krakow oder Lodz besser geht. Die meisten
werden aus dem ärmeren landesteilen wie Nordpolen und Masuren Arbeit im Ausland
suchen.
Nur der Anfang
So gesehen stellt der 01. Mai auch nur den Anfang einer
weiteren Entwicklung. Nach Staatssekretär Dr. Jens-Peter Heuer aus dem Berliner
Senat für Wirtschaft, Technologie und Frauen muss die Politik noch einige
Weichen stellen: Berlin muss seine Arbeitskräfte qualifizieren und ihnen auch
Perspektiven geben, ostwärts zu wandern und Deutschland muss die Arbeitnehmerfreizügigkeit
sozial flankieren, damit Scheinselbstständig, Lohndumping und Schwarzarbeit
aufhören. Für die gemeinsame Oderregion mit den drei Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern,
Brandenburg und Sachen sowie den Wojewodschaften Dolnoslaskie, Lubuskie,
Zachodniopomorski und Wielkopolskie ist der 01.Mai nach Ansicht von Staatsekretärin
Kerstin Liebich vom Senat für Integration und Arbeit „eine nachholende Entwicklung“.
Erst wenn die Menschen die gemeinsame Region auch gemeinsam begreifen, dann
können im Austausch die Menschen jeweils dort hingehen, wo es am nötigsten sei.
Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels sei das längst keine
Frage zwischen einzelnen Ländern mehr. So stellt sich auch Dr. Marzenna
Guz-Vetter Europa vor: Die Menschen sollten ihre konservativen Vorbehalte überwinden
und es nicht mehr als hinderlich empfinden, in einem anderen Land arbeiten zu
gehen.
Außerdem, so Andrzej Malinowski, Präsident des Vereins „Polnische
Arbeitgeber“, drängt die Zeit. Die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der
Leyen will noch vor Weihnachten ein Konzept vorlegen, die dringend benötigten
Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Das gleiche könnte auch Polen mit
gleicher Dringlichkeit einfordern.
Lesestoff:
Die gemeinsame Oderregion hat eine eigene Internetseite: www.oder-partnerschaft.eu
Roland Krieg