Das Waisenkind der Weltwirtschaft
Handel
Neue Liebe zum alten Feind
Die Welthandelsorganisation WTO hat sich in den ersten zehn Jahren seit ihrer Gründung 1995 als Organisation außerhalb der Vereinten Nationen mit Deregulierungen und liberalisiertem Handel auf die gleiche Stufe von Weltbank und Internationalem Währungsfonds gestellt. Die Tagung 2005 in Hongkong brachte erstmals die Zivilgesellschaft auf die Handelsbühne und die vier Jahre zuvor gestartete Doha-Entwicklungsrunde zu Fall. Seit dem dümpelt die Organisation in „schwierigem Fahrwasser“, wie Frithjof Schmidt, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen am Dienstagabend vermerkte. Die Partei lud rund drei Wochen vor der 10. Ministerratssitzung in Nairobi zu einem Fachgespräch über die Zukunft der WTO.
Die alten Feindbilder taugen auch heute noch. Bis vor zweieinhalb Jahren plädierte Sven Hilbig von Brot für die Welt auch für die Auflösung der WTO und einen Neustart internationalen Handels. Doch dann begannen die Verhandlungen zu TTIP, das Investitionsabkommen zwischen der EU und den USA. Seit die EU vor zehn Jahren nach Abbruch der Doha-Runde auf bilaterale Abkommen setzte, haben sich diese weltweit verhundertfacht [1]. TTIP ist lediglich eine Fortsetzung des globalen Trends. Die Zahl der Freihandelsabkommen ist aber nicht nur unübersichtlich und fragmentiert den Welthandel. Sie sind auch ein „Rückfall in die Diskriminierungspolitik“ sagte Prof. Dr. Heribert Dieter von der Stiftung Wissenschaft und Politik. So gewinnt die WTO neue Freunde und auch Sven Hilbig plädiert für das ehemalige Relikt des Freihandels. Mit Blick auf die Kritik an TTIP und dem CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada sei die Rückkehr zur WTO ein Fortschritt – aber nur nach einer Reform.
Auf der Intensivstation
In Doha in Katar begann die gleichnamige Verhandlungsrunde als Entwicklungsrunde für die Südländer. Und ausgerechnet die gilt als gescheitert. „Wird in Nairobi das Licht ausgemacht für die WTO?“ fragte am Montagabend Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel im Europaparlament. Für ihn ist Doha „tot“. Für Richard Kühnel von der Europäischen Kommission, der am Fachgespräch im Bundestag teilnahm nicht: „Für uns ist die WTO nicht gestorben.“ Der „Sand im Getriebe“ stamme nicht von der EU. „Ein gut ausgestalteter Handel nutzt allen.“ Allerdings setzt Kühnel auf die neue Handelsstrategie der EU [2]. Die EU müsse Öffentlichkeit, große Konzerne und Klein- und Mittelständische Unternehmen ausbalancieren. Die kleinen Unternehmen leiden unter nicht-tarifären Handelshemmnissen, die beispielsweise bei TTIP fallen sollen. Die jetzigen Abkommen der EU seien nicht mehr mit den alten „Standardabkommen“ vergleichbar. Beispielsweise will die EU ein eigenes Kapitel zur Nachhaltigkeit in das Abkommen aufnehmen [3].
Der Multilaterale Handel über die WTO bleibt nur Lippenbekenntnis. Das haben auch am Montag die Europaparlamentarier beklagt. Heute soll einen Resolution verabschiedet werden, die Bekenntnis zum Multinationalen Handel beinhaltet, die WTO zum Weitermachen ermuntert, den freien Handel mit Fairness verbinden will und die Doha-Runde doch noch zum Abschluss bringen möchte. Oder wird die Entschließung ein Abgesang?
So ganz abschreiben will die WTO niemand. Denn in der WTO hat jedes Land ein Vetorecht und der Streitbeilegungsmechanismus wird noch heute von allen Ländern anerkannt und gilt als beispielhaft für die Sorgen der Südländer.
Reform der WTO
Der Puls also schlägt noch. Der WTO fehlen Menschenrechts- und Umweltstandards, beklagt Tom Koenigs, Menschenrechtspolitiker bei den Grünen. Dann wäre auch Sven Hilbig mit der WTO ganz zufrieden. Sie wird als wichtige Plattform für den Welthandel gebraucht, ergänzt Kühnel. Das sehen auch die Europaparlamentarier so. Für Pablo Zalba Bidegain von den spanischen Christdemokraten sieht in ihr eine Ergänzung zu den bilateralen Abkommen. Hannu Takkula, liberaler Finne, will mit Bernd Lange in der WTO die Entwicklungsagenda in den Vordergrund stellen, die gerade erst in New York verabschiedet wurde, und der deutsche Helmut Scholz (Linke) will die WTO in Politik und Zivilgesellschaft einbetten.
Groß sind die Erwartungen an Nairobi nicht. Prof. Dieter glaubt aber gegenüber Herd-und-Hof.de, dass die beiden nächsten G20-Präsidentschaften der Handelsorganisation wieder Leben einhauchen können. Das sind China und Deutschland. Die könnten sogar ein „Doha-Light“ bewirken.
Die Agrarfrage
Schuld an allem ist die Landwirtschaft. Jan Urhahn vom Inkota-Netzwerk bringt es auf den Punkt. Welthandel im Agrarbereich heiße nichts anderes als Förderung der Exportwirtschaft. Der Schutz der Kleinbauern hat manche Verhandlungsrunde zum Abbruch geführt. Mehr als zwei Milliarden Menschen sind Landarbeiter und Kleinbauern. Von denen können lediglich zehn bis 20 Prozent in internationale Wertschöpfungsketten integriert werden. Besser wäre es sogar, den Agrarsektor ganz aus den WTO-Verhandlungen herauszunehmen, schlägt Urhahn vor. Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht und solle nicht als Verhandlungsmasse für andere Fragen deinen.
Die Exportorientierung ist nach Harald Ebner, Grünen-Sprecher für Gentechnik und Bioökonomie, nicht nur für die Südländer problematisch. Sie bestimmt auch die Ausrichtung der Landwirtschaft in Europa, wie die derzeit niedrigen Agrarpreise in nahezu allen Sektoren zeigen.
Aktuell: Keine Einigung
Ein informelles Treffen von Agrarunterhändlern am 18. November hat im Vorfeld der WTO-Konferenz wiederholt keine Einigung erzielen können. Ein Vorschlag geht in Richtung Exportwettbewerbsfähigkeit, ein anderer Vorschlag, der so genannten Gruppe 33, der „Freunde spezieller Produkte“, zu der auch China gehört, wollen einen „Safe Guard Mechanism“ für sensible Produkte. Zum Schutz ihrer Produkte dürfen sie die Zölle erhöhen.
Der erste Vorschlag wird unter anderem von der EU favorisiert und sieht den Abbau von Exportsubventionen vor. Der Text geht zurück auf einen Vorschlag aus dem Jahr 2008 und wurde um Anmerkungen der Südländer ergänzt. So will Indonesien auch die Nahrungsmittelhilfe zu den verpönten Exportsubventionen zählen. Ende offen.
2015 wurde als Gipfeljahr eingeleitet. Nach dem Finanzierungsgipfel in Addis Abeba [4] und der Agenda 2030 in New York [5] sowie dem Klimagipfel in Paris nächste Woche, schien der Welthandelsgipfel in Vergessenheit geraten zu sein. Doch eine Gipfel-Klammer für den fairen Handel fehlt noch. Da kann die WTO in Nairobi zu einem neuen Höhenflug ansetzen.
Lesestoff:
[1] Bilateral statt multilateral: Die Freihandelsabkommen der EU
[3] TTIP-Kapitel zur Nachhaltigkeit online
[4] Multilateraler Handel muss auch umgesetzt werden
[5] Staaten einigen sich auf Weltzukunftsvertrag
Roland Krieg