Der Herr auf der Parkbank

Handel

Ein Essay zur Wirkung von SARS-CoV-2

Eine Kollegin von mir mag keinen Fußball. Das Thema SARS-CoV-2 war Thema bei einem Telefonat, bei dem sie um den Fußball aber nicht herum kam.

Ausgerechnet der Fußball …

In jener Woche fand am Niederrhein das „Geisterspiel“ zwischen Borussia Mönchengladbach und dem FC Köln statt. Die Übertragung im „Fohlenradio“ war wirklich gespenstisch. Laute Wortfetzen waren im Hintergrund zu hören, als wenn Samstagabend noch die letzten Kids auf dem Bolzplatz spielen. Die Stimmung des Reportes wirkte ohne Hintergrund gestellt und einsam. Er versuchte Stimmung zu machen, obwohl es keine gab. In den Tagen danach überschlugen sich die Ereignisse und kurzfristig wurde der gesamte Spieltag abgesetzt. Die Europameisterschaft stand an dem Wochenende noch auf der Kippe und in der Sportschau diskutierte Jessy Wellmer mit Experten über die Zukunft des Spielplans. Könnte  die restliche Saison noch im Sommer zu Ende gespielt werden? Was wäre, wenn die Hinrunde der nächsten Saison verschoben werden müsste? Ein detaillierter Rahmenplan drohte aus den Fugen zu quellen. Das blieb nicht die einzige Diskussion im Fußball. In der 12. Kalenderwoche festigten sich die Fragen, ohne Antworten zu finden. „Dem Fußball läuft die Zeit davon“, hieß am 21. März ein Videoclip der ARD. Der Virologe Alexander Kekulé von der Martin-Luther-Universität Halle prognostizierte gleich zu Beginn, dass Spiele wohl kaum vor September wieder stattfinden würden.

Ausgerechnet der Fußball …

Bei dem Telefonat mit meiner Kollegin sprang ich beim Thema SARS-CoV-2 auf den Fußball über und merkte den rapiden Temperaturverlust am Hörer. Das Wort Fußball traf auf einen virologischen, landwirtschaftlichen, unternehmerischen und gesellschaftlichen Gedankenkomplex und verursachte beim Aufprall ein ungläubiges Lachen. „Ja, der Fußball …“, sammelte ich mich und merkte wie die Temperatur im Hörer weiter fiel. Als ich allerdings sagte, der Fußball hat seit dem Geisterspiel etwas gemacht, das andere Wirtschaftszweige noch nicht einmal angefangen haben, fühlte sich der Hörer wieder wohliger an. Erst langsam, dann schneller bis zur Zimmertemperatur. Doch, fuhr ich fort, seit dem Geisterspiel ist der Fußball die einzige Sparte, die sich schon in einem öffentlichen Diskurs über die Auswirkungen Gedanken gemacht hat. Nicht nur von der Absage eines ganzen Spieltages, sondern mit weitreichenden Effekten, bis zur Verschiebung von Olympia.

Ausgerechnet der Fußball …

Im Video vom 21. März wurde es ganz konkret: Am 30. Juli laufen Spielerverträge aus. Wer wechselt wohin? Wird ein Vertrag zu fortlaufenden Bedingungen doch noch verlängert? Werden die Vereine den Kostenfaktor Spieler los? Auch ohne Vertragsende? Bezahlt die Premier League 40 Millionen für einen Top-Spieler, der frühestens im September bei einem Spiel eingesetzt werden kann? Christian Seifert von der Deutschen Fußball Liga GmbH bringt es in dem ARD-Video auf den Punkt: „Ehrlicherweise kommt für die Bundesliga jetzt der Punkt, dass die Liga zugeben muss: Ja, wir stellen ein Produkt her. Und wenn wir dieses Produkt nicht mehr herstellen, dann gibt es uns nicht mehr!“

Ja, ausgerechnet der Fußball …

Es hat Zeiten gegeben, in denen die Fußballspieler in der Virus-Pause in den Kohleschacht gefahren wären, Versicherungen verkauft hätten, die Ausbildung beendet oder im Lottogeschäft ausgeholfen hätten. Nach zwei Monaten hätten sie ihre Sportsachen heraus gekramt und sich auf dem Platz wieder getroffen. Tausende von Zuschauer wären gekommen. Was macht der moderne Spieler, der jetzt Millionen auf seinem Konto hat? Für die Vereine sind die Fernsehgelder und Werbeeinnahmen existenzsichernd – fallen aber weg? Fußball ist gesellschaftspolitisch sicher auch systemrelevant – aber nicht unbedingt in dieser Form.

Der Herr auf der Bank

Parkbänke sind rund zwei Meter lang. Meist setzen sich Ruhende mitten auf die Bank und signalisieren, dass sie keine Nachbarn wollen. Am Sonntag aber fand ich einen Herrn auf einer Parkbank, der ganz am Rand saß. Doch, den habe ich gestern schon gesehen, vorgestern auch und vor drei Tagen bereits, dachte ich. Erst heute habe ich verstanden, dass seine Sitzposition der seuchenrechtliche Grundlage folgt, Abstand zu halten. Aber eben auch eine Einladung ist. Also setzte ich mich an das andere Ende. Kaum, dass ich saß, sagte er „Auch der Goldpreis sinkt.“

Inferiore und superiore Güter

Die volkswirtschaftliche Schublade meines Agrarstudiums ging auf. Kartoffeln sind ein inferiores Gut. Kunden kaufen eine bestimmte Menge an Kartoffeln. Steigt deren Einkommen, bleibt die Nachfrage konstant. Egal, ob die Kartoffeln teurer oder billiger werden. Im Gegenteil, die erdverbundene Knolle wird sogar durch Reis und Chips ersetzt. Diamanten sind hingegen ein superiores Gut. Sie werden mit steigendem Einkommen stärker nachgefragt. Was hat der Herr gesagt?

„Auch der Goldpreis sinkt.“ Ich schaue leicht herüber und ziehe die Augenbrauen nach oben. „Wir sehen das Ende einer Epoche“, sagt der Herr, der auch im Sitzen sehr groß wirkt. Mit Sicherheit deutlich mehr als zwei Meter Größe. Die Kunden hamstern Kartoffeln und merken, dass man Geld nicht essen kann. Gold ersetzt auch kein Klopapier.

Kartoffeln und SUV

Bislang sind Ärzte, Krankenschwestern, die Polizei, Feuerwehr und Kassiererinnen im Supermarkt die Kartoffeln der Nation gewesen. Wichtig für die Daseinsvorsorge, schlecht bezahlt und mit horrenden Überstunden versehen. Die geringe Entlohnung baut auf den Altruismus der Beschäftigen oder der Alternativlosigkeit. Die Entwicklung des Reichtums in Deutschland zeigt die Ausbreitung billiger und hochpreisiger SUVs als Synonym für ein superiores Gut.

Der Herr auf der Bank sinniert weiter: Das ändert sich. Die Menschen stehen an den Fenstern und applaudieren gemeinschaftlich für Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger. Sie stehen samstags auf dem Balkon und singen um 15:30 Uhr ihre Fußballhymne. Ein Italiener würde mir die Füße küssen, gäbe ich ihm die Erlaubnis für einen Waldspaziergang. Eine Aktivität, die vor einigen Wochen gar keinen Wert hatte. Heute hängen in den Supermärkten Schilder, die um möglichst bargeldlose Zahlung bitten. Die Menschen besinnen sich gerade auf ihre eigene Gemeinschaft, sagt der schlanke Herr.

Das Ende der Industriekultur

Meine Aufträge erlauben mir, die Arbeit wie gewohnt zu Hause weiter zu führen. Telefonate mit Interviewpartnern und Kollegen ersetzen den direkten Kontakt. Und ich kann für einen besinnlichen Spaziergang alleine mit meinem Auto in den Brandenburger Wald fahren. Der Herr hat vor dem Ruhestand auch als Journalist gearbeitet. Vor langer Zeit habe sich die Redaktion einmal gefragt, was passiert, wenn die Wochenzeitung einmal zwei Wochen lang gar nicht erscheinen würde? Sie kamen zu dem Schluss, dass in der dritten Woche die Kündigungen reinkämen. Die Menschen würden feststellen, dass sie auch ohne die Zeitung auskommen.

SARS-CoV-2 ist noch lange nicht zu Ende. Vor dem Sommer gibt es kein Medikament für eine Behandlung. Ein Impfstoff wird erst im nächsten Jahr zur Verfügung stehen. So lauten die Prognosen. Die Digitalisierung der vergangenen Jahre hat vieles möglich gemacht. Die Buchhändlerin wird zu den Verlieren gehören. Nach der Pandemie wird es aber wieder Buchläden geben. In den kommenden Wochen erfahren viele, dass Konferenzen und selbst Messen virtuell stattfinden können. Zu Jahresbeginn hätte sich ein Bundesbürger heftig gegen die Wegnahme seines Bargeldes gewehrt. Nach der Pandemie gehört die Selbst-Scanner-Kasse und das bargeldlose Bezahlen zum deutschen Alltag, sagt der Herr auf der Parkbank.

Das Beschleunigungsvirus

Alles, was in den nächsten Monaten von zu Hause aus erledigt werden kann, wird nach der Pandemie weiterlaufen. Alles, was direkten Kontakt braucht, steht vor einer Neubewertung. Die Menschen dürfen auch heute mit ihrem SUV zur Arbeit fahren. Sie werden im Gesamtkontext aber darüber nachdenken, ob sich ein preiswerteres Auto nicht auch lohne. Gerade die Autoindustrie bekommt Milliarden auf die Fertigungsbänder gelegt. Die Manager von Sternen, den vier Ringen und den Buchstaben am Ende des Alphabets werden den zermürbenden Diskursen der Fußballmanger folgen? Welche Autos sind noch systemrelevant? Welche Fertigungen sind virus-resilient? Plötzlich haben sie das Kapital, das sie für den Umbau ihrer Wirtschaft brauchen. Unsummen, die in der Bankenkrise 2008 äußerst kritisch beäugt für die Erhaltung des unbändigen Kapitalismus verausgabt wurden, werden von noch größeren Summen zur allgemeinen Zufriedenheit für die Wirtschaft spendiert. Wofür die Konzerne das Geld ausgeben, werden die an den Fenstern klatschenden Menschen sorgsam bewerten und goutieren.

Das Anthropozän

Der neue Begriff des Anthropozäns wurde bislang negativen konnotiert. Kein anderes Lebewesen zuvor hat mit Bergbau, Tunnels, Stausseen und Landgewinnung, aber auch mit toxischen Stoffen die Erde so beeinflusst, wie der Mensch. Mit seinem Konsum zieht sich die Menschheit den Boden unter den eigenen Füßen weg. SARS-CoV-2 ist tödlich. Die lange Zeit zu Hause zeigt den Menschen, dass sie auch anders leben und überleben können. Was, wird sich in Abhängigkeit von der Zeitdauer tief in das Bewusstsein und epigenetisch sogar in die DNS eingraben. Der Begriff Anthropozän wird nicht mehr nur mit den negativen Zeiten in Verbindung gebracht werden, sondern er wird auch für eine Rückbesinnung auf das Menschliche in der menschlichen Gemeinschaft und Wirtschaft stehen.

Und die Bauern?

Die Ernährungsindustrie hat mit ihrer Vollversorgung den Hamstern gezeigt, dass alle Lücken in den Regalen am nächsten Tag wieder verschwunden sind.  Dau braucht es auch den Handel, den das Virus nicht zerstören kann.  Die Volllast der Ernährungsindustrie zeigt Wirkung und macht die Hamster müde. Der Kartoffelhandel hat längst mit seiner Lagerung die 12-monatige Versorgung im Griff. Das hat nur niemand bemerkt. Auch die Tiefkühllager sind voll. Die Bauern säen die Sommerkulturen aus. Auch die Vermehrungsflächen für die Saat der übernächsten Saison sind bestellt.

Vor wenigen Wochen als Wasservergifter, Massentierhalter und  Chemie-Gurus verschrieen, haben die Bauern plötzlich die Möglichkeit, der Bevölkerung über alle Schmähungen hinweg zu zeigen, dass sie für sie da sind. Wenn die kleineren Bio-Mengen aufgegessen sind, werden auch die Hardcore-Bios konventionelle Lebensmittel verzehren – und feststellen, dass sie am Leben bleiben. Die Menschen werden überlegen, welche Diskussionen in der Landwirtschaft Luxus waren und welche essenziell sind. Die Bedürfnispyramide nach Maslow wird mindestens am oberen Ende der „Selbstverwirklichung“ gekappt.

Neustart

Ich war gar nicht auf ein langes Sitzen im Freien eingestellt. Trotz aller Gedanken wurde es langsam kalt. Ich dankte, stand auf und ging nach Hause. Am nächsten Tag war der feine Herr auf der Parkbank weg. Alles nur geträumt? Ich lief ein wenig herum und sah in einer anderen Ecke des Parks den Herrn am Ende einer Parkbank sitzen. Ein neuer Schüler setzte sich gerade auf das andere Eck.

Roland Krieg

Zurück