Eigenes Versagen zerreißt deutsche Politik
Handel
Innenpolitische Fliehkräfte durch mangelhafte Entwicklungspolitik
Nachdem Alice Weidel von der AfD mit dem Begriff „Kopftuchmädchen“ alle Trümmerfrauen diskriminiert hat und das immer noch gültige Zahlungsmünzstück 50 Pfennig offenbar abschaffen will, zerreißt die Migrationspolitik auch die Union. Über die Geschwisterpartnerschaft von bayerischer Regionalpartei und bundesweiten Christdemokraten entscheidet am heutigen Montag die CSU-Präsidiumssitzung. Was Weidel und Seehofer so unrühmlich auf den Plan bringen ist eine seit Jahrzehnten verfehlte Entwicklungspolitik. Als die Welt digital noch nicht so zusammenrückte, waren Afrika und Co. weit weg. Geld für einen Brunnen wurde gespendet, asymmetrische Kriege gab es nur in der Tagesschau – doch seit einigen Jahren haben sich die Verlorenen dieser Welt auf den Weg gemacht und schauen mit ihren Augen in die Wohnzimmer der bundesdeutschen Sofagemütlichkeit.
Fluchtursachen bekämpfen wurde der Entwicklungshilfe als Oberbegriff neu übergestülpt, und bezeichnet nur die „alten Herausforderungen“. Entwicklung ländlicher Räume, Teilhabe am Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze in den Städten schaffen, Familienpolitik, Ernährungssicherheit, Bodenpolitik und Umbau einer Landwirtschaft von Subsistenzwirtschaft auf Marktorientierung.
Wirtschaftsflüchtlinge gibt es nicht. Wer Geld hat und nach Deutschland kommt, der ist Investor. Wer sich zu Hause weder ausbilden, noch selbstständig machen darf, wer keinen Zugang zu Krediten bekommt, der unlauteren Handelspraktiken ausgesetzt ist oder vor Ort weder Arbeitsschutz noch Sozialversicherung bekommt, der flüchtet nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus Gründen, weil repressive Politik vor Ort keine Entwicklung in persönlicher und materieller Hinsicht erwarten lässt.
Abertausende Entwicklungsprojekte setzen Bewässerung in Gang, schaffen Arbeitsplätze in der einer neuen Verarbeitungsfabrik, bauen Straßen, die Dörfer erstmals mit der Kreisstadt verbindet oder bildet landwirtschaftliche Berater vor Ort aus. Südostasien hat den Anschluss an die Weltwirtschaft geschafft, thailändische Reisexporteure bauen diesen bereits lieber in Vietnam und Kambodscha an, weil dort die Arbeitskosten niedriger sind und Südamerika steht immer noch an der Schwelle zur Agrarexportregion Nummer eins zu werden. Demgegenüber ist Syrien nach sieben Jahren Bürgerkrieg bereits versinken, nach einer kurzen Periode der Hoffnung steht auch der Süd-Sudan nach fünf Jahren Bürgerkrieg vor einer Hungersnot. Die Flüchtlingswellen ebben nicht ab und Europa und Deutschland bekommen nur einen kleinen Teil davon ab.
Umso erschreckender die innenpolitischen Diskussionen über Migrationspolitik, weil die Außen- und Entwicklungspolitik in ihren Hausaufgaben versagt hat. Das wirkliche Innenministerium liegt in der Berliner Stresemannstraße beim Bundesministerium für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Das ist kein Almosenministerium, sondern bearbeitet den Kern des weltgesellschaftlichen Zusammenlebens im Rahmen der Agende 2030 und der Pariser Klimaverträge.
Die „grüne Transformation“ ist das Schlüsselwort, dem Norden und Süden folgen müssen. Nur dann gelingt eine Balance zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost. Wie das im Süden erreicht werden kann, darüber diskutieren internationale Wissenschaftler zwei Tage lang auf Einladung des Deutschen Instituts für Entwicklungshilfe heute und morgen in Bonn. Zum Glück ohne Politik, den Blick auf das Wesentliche gerichtet. Leider ohne Politik, weil sie von den Berichten und Projekten nichts lernen kann. Denn die, die fern von uns leben, sind uns näher, als wir denken. Wer „Ich“ nicht in „Wir“ umwandeln kann, der hat in der Politik nichts verloren.
Roland Krieg