Endstation Seniorenteller
Handel
Ernährungsbranche muss auf Export setzen
6.000 Betriebe. 550.000 Beschäftigte. 80.000.000 Kunden. 173 Milliarden Euro Umsatz. Zahlen einer gesunden Branche, die doch eigentlich nicht meckern kann. Hinter den Zahlen steht die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), die am Mittwoch mit ihrem aktuellen Jahresbericht einen Einblick in die Details gab. 170.000 Produkte haben die Firmen in die Regale des Lebensmittelhandels platziert. Jedes Jahr kommen 40.000 neue hinzu – von denen jedoch mehr als 90 Prozent nach 12 Monaten wieder verschwunden sind. Der Kunde hat sich an die Vielfalt, an hochwertige Produkte und Sicherheit gewöhnt. „Jeder kann sich für seinen Geldbeutel nach seinem Lebensstil ernähren“, sagte BVE-Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff.
Die Branche reagiert flexibel auf neue Verbrauchertrends, wie die vegetarischen und veganen Sortimente belegen. Gegenüber anderen Waren haben sich Lebensmittel seit 1991 mit 40 Prozent um 12 Prozentpunkte weniger verteuert. Die Gruppe der Kunden, die Lebensmittel mit individuellem Zusatznutzen wie „free from…“-Produkte, Bio, Fair Trade oder Wellness legen hat um 18 Prozent zugenommen und spendiert 16 Prozent mehr Geld an der Ladenkasse. Die Konsumlaune der deutschen Konsumenten ist trotz weltweiter Krisen seit Monaten ungebremst [1].
Doch malt die BVE auch trübe Wolken an den Himmel. Auf dem Binnenmarkt sucht sie verzweifelt den Weg um den Seniorenteller herum. Das statistische Bundesamt hat Ende April die aktuelle Bevölkerungsvorschau veröffentlicht. Je nach Zuwanderungsstärke werden in Deutschland im Jahr 2060 nur noch zwischen 67 und 73 Millionen Menschen leben. Das sind nicht nur acht bis 13 Millionen weniger als heute – sie werden auch älter sein als heute. Damit ändern sich die Ernährungsgewohnheiten, die Zahl der Seniorenteller nimmt zu. Das bewegt die Branche schon heute.
Innovationen
Derzeit gibt der Durchschnittshaushalt rund 340 Euro pro Monat für Lebensmittel aus. Vor allem in den Städten nimmt der Außer-Haus-Verzehr an Fahrt auf. Zusätzlich spendiert der Haushalt weitere 115 Euro für das Essen unterwegs. Neben diesem Markt muss sich die Branche den steigenden Ein-Personenhaushalten anpassen, die seit 2000 um weitere 21 Prozent gewachsen sind. Die Angebote müssen bedürfnis- und bedarfsgerechter zugeschnitten werden.
Export bleibt ein Fundament
Der Export war für die Ernährungsbranche schon immer ein wichtiges Standbein und konnte bei stagnierendem Binnenmarktgeschäft für ein Umsatzventil sorgen. Im letzten Jahr erreichte die Exportquote mit 32 Prozent und 54 Milliarden Umsatz neue Rekordwerte. 80 Prozent der Waren gehen in die EU, berichtet Stefanie Lehmann, BVE-Referentin für den Außenhandel. In die europäischen Nicht-EU-Länder Schweiz, Russland und Norwegen werden mit 7,1 Prozent genauso viel Lebensmittel exportiert wie nach Asien. Die Gewinner der Exporte sind Fleisch und Fleischprodukte (19,5 Prozent), Milch und Milchprodukte (16,7 Prozent) und Süßwaren, Dauerbackwaren und Speiseeis mit 14,2 Prozent.
Der Export ist auch für kleinere Unternehmen interessant, bekannte Stefanie Lehmann gegenüber Herd-und-Hof.de. Die Waren nach Europa gehen derzeit in die Länder mit guter Konjunktur, wie beispielsweise Großbritannien. Zudem haben Deutschlands Nachbarn oft den gleichen Lebens- und Ernährungsstil, weswegen für den Verkauf über die Grenzen hinweg keine besonderen Produktentwicklungen notwendig sind.
Herausforderungen
Die Mängelliste für eine ungetrübte Konjunktur ist aber ähnlich lang. Neben der Demografie drückt die gegenüber anderen Sektoren um die Hälfte niedrigere Umsatzrendite von 1,8 Prozent die Branche. Die Ernährungsindustrie steht nicht nur gegenüber dem konzentrierten Lebensmittelhandel, bei dem die fünf größten Händler 73 Prozent des Marktes vereinen, unter Druck, die Firmen leiden unter steigenden Energiepreisen und Lohnkosten.
Hinzu kommen immer wieder politische Pläne. In Brüssel wird derzeit über eine Neuauflage einer Alkohol-Strategie nachgedacht [2]. Teile der SPD dachten Ende April laut über eine Erhöhung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für bestimmte Lebensmittel, wie Süßwaren nach. „Offenbar haben manche in der SPD aus dem politischen „Rohrkrepiere“ Veggie-Day nichts gelernt. Die Verbraucher wollen keine Bevormundung und sind sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, was sie essen wollen“, wiegelt Minhoff solche Regulierungswünsche ab [3].
Die Preis-Frage
Erstaunlicherweise klagt die Ernährungsindustrie über hohe Rohstoffpreise. Doch gerade bei den wichtigsten Geschäftsfeldern Fleisch und Milch leiden die Bauern seit Jahren unter niedrigen Preisen und wünschen sich höhere Erzeugerpreise. Stefanie Lehmann bestätigt zwar, dass es bei den deutschen Rohwaren gerade „keinen Run“ gibt, aber die Preise noch immer fünf Prozent über dem Niveau von 2010 liegen. Der Rohstoffindex legte im Februar noch einmal zu und lag gegenüber dem Vorjahr um 3,1 Prozentpunkte höher. Der aktuelle BVE-Konjunkturbericht klagte über starken Ertragsdruck, der das Kostenmanagement der Lebensmittelindustrie herausfordere.
Die abnehmende Hand des Handels klagt ebenfalls über niedrige Margen und kleine Preise. Dort immerhin setzt sich die Erkenntnis durch, dass es billiger nicht mehr geht. Die Marktforscher der Information Resources GmbH aus Düsseldorf glauben in ihrer letzten Studie, das Ende der Preisspirale nach unten sei erreicht. Sinkende Preise sorgen nicht mehr für mehr Abverkauf [4].
Der Handel und der Bauernverband stellen die Preisfrage gerade in einem großen Freilandexperiment auf den Prüfstand. Für die Initiative Tierwohl zahlen die Verbraucher seit Januar vier Cent für jedes Kilo Schweinefleisch in einen Tierwohl-Fonds, aus dem die Landwirte für Standards oberhalb des Tierschutzgesetz belohnt werden. Fleisch hingegen ist seit Januar nicht teurer geworden. Die Kunden zahlen das Geld ohne Murren. Da müsste also noch mehr Luft nach oben sein: Für mehr Zusatzentlohnung und höhere Standards.
Christoph Minhoff will Herd-und-Hof.de in diesem Punkt aber nicht folgen. Keine Frage: Die Initiative sei ein voller Erfolg. Diesen Montag hat sie vermelden können, dass 2.142 Betriebe mit insgesamt 12.030.514 Schweinen an ihr teilnehmen. Wer jetzt durch das Audit falle, der wird gleich durch einen Betrieb auf der Warteliste ersetzt. Für Minhoff sind zweckgebundene Preiserhöhungen aber ein zweischneidiges Schwert, weil sie immer mit dem Kartellamt abgeglichen werden müssen. Die vielfach von Politikern erhobene Forderung, höhere Preise im Lebensmittelhandel durchzusetzen, sei im freien Markt nicht umsetzbar.
Außerdem müsse die Ernährungsbranche an die Kunden denken, die durch ihre Abhängigkeit von Transferzahlungen keine höherpreisigen Lebensmittel leisten können. Die Zahl dieser Menschen steigt, prognostiziert Minhoff.
Mit Blick auf die Rentenleistungen in naher Zukunft, droht der Seniorenteller auch deshalb eher Schmalkost zu tragen.
Lesestoff:
[2] EU vor neuer Alkoholstrategie
[3] Freie Entfaltung zur Krankheit?
[4] Der Ausweg aus der Billigfalle
Roland Krieg