Gegessen wird immer
Handel
Export als Ventil des gesättigten Marktes
„Iss den Teller leer, dann gibt es auch schönes Wetter.“ Was aber wenn der Magen schon voll, wenn man schon satt ist? So ist es auch im Handel. Die Regale sind voll und trotzdem sollen immer mehr Produkte hinein, um der Ernährungsindustrie die Zukunft zu versüßen. Im letzten Jahr hat der Handelskongress in Berlin den Wettbewerb um den Zehntelkunden propagiert – den, der schon alles hat. Wo also soll die Zukunft der Ernährungsindustrie liegen, fragten sich gestern mehr als 350 Experten aus Industrie, Handel, Politik und Wissenschaft auf der „Zweiten Zukunftskonferenz Ernährungsindustrie“. Das wichtigste Ergebnis: In den Export, dem Ventil für den gesättigten Markt.
Agrarexporte auf Rekordniveau
Zunächst einmal konnte 2007 der Gesamtumsatz der Ernährungswirtschaft nominal um 6,7 Prozent (real 2,3 %) auf 147,4 Milliarden Euro gesteigert werden. Überdurchschnittlich wuchsen die Fleischverarbeitung (+28,5%), die Teigwarenherstellung (+21,9 %) und die Produkte der Mahl- und Schälmühlen (+20,0 %).
Herausforderung Verbraucherschutz |
Jeder vierte Umsatzeuro wird derzeit im Ausland verdient. Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass der Export in diesem Jahr noch einmal um 10 Prozent zulegt und damit eine neue Rekordhöhe von 47 Milliarden Euro erreicht. 80 Prozent des Exports gehen in den Binnenmarkt, den Gert Lindemann, Staatssekretär aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium, schon als Heimatmarkt bezeichnete. Hier sind die Niederlande, Italien und Frankreich die wichtigsten Handelspartner. Der Rest geht in Drittstaaten, bei denen Lindemanns Kollegin Ursula Heinen Russland, die USA und China hervorheben möchte. Die ersten sechs Monate 2008 haben alleine eine Exportsteigerung um 18,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gebracht. Das ist eine Erfolgsgeschichte, weil die Ernährungsindustrie in Deutschland überwiegend mittelständisch geprägt ist, wie Jürgen Abraham, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) verkündete. 5.800 Unternehmen erwirtschaften die Gesamtleistung der Ernährungswirtschaft mit rund 530.000 Beschäftigten. Zusammen mit den vor- und nachgelagerten Bereichen arbeiten in der Branche 2,4 Millionen Menschen.
Export Ost
Den Export dominieren immer noch die westlichen Bundesländer. Doch holt der Osten auf und weist mit 10,9 Prozent mittlerweile stärkere Zuwachsraten auf als der Westen.
Entwicklung der Agrarstruktur | ||||
|
2006 in Mio. € |
2007 in Mio € |
Änderung % |
Anteil in % |
BRD |
34,786 |
37,502 |
7,8 |
100,00 |
West |
30,217 |
23,434 |
7,3 |
86,5 |
Ost |
4,569 |
5,067 |
10,9 |
13,5 |
B |
0,910 |
1,088 |
19,5 |
2,9 |
BB |
0,455 |
0,447 |
- 1,8 |
1,2 |
MV |
1,082 |
1,148 |
6,0 |
3,1 |
SN |
0,723 |
0,821 |
13,6 |
2,2 |
ST |
1,031 |
1,083 |
5,4 |
2,9 |
TH |
0,366 |
0,475 |
30,0 |
1,3 |
Q: Statistisches Bundesamt; Zahlen für 2007 sind vorläufig |
Bei einem Vergleich mit dem Zeitraum ab 2000 stiegen die Agrarexporte aus dem Osten sogar um 38 Prozent.
Dr. Engelbert Lütke Daldrup, Staatssekretär aus dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Infrastruktur weiß auch warum der Osten aufholt. Mittlerweile ist die Verkehrsinfrastruktur so hervorragend ausgebaut, dass sich die westlichen Länder sogar schon beschwerten. Die Arbeitsplätze in Telekommunikation haben in dem Maße aufgeholt, wie die Lücken im Breitbandanschluss kleiner werden. Arbeitskräfte im Osten sind preiswerter als im Westen und die verarbeitende Industrie kann auf große und günstige Zulieferer zurückgreifen. Von Ostdeutschland aus sind die wachsenden Märkte in Ost- und Mitteleuropa schneller zu beliefern. Heute arbeiten rund 100.000 Menschen in 1.200 Betrieben der ostdeutschen Ernährungswirtschaft. Gerade die beiden Flächenländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern haben große Teile des Landes auf ökologischen Landbau umgestellt und können hier noch viel zusätzliches Marktpotenzial erschließen, so Daldrup. Die Leistungen der Ernährungswirtschaft resultiere aus harter Arbeit. Der am Montag zurückgetretene Brandenburger Wirtschaftsminister Ulrich Junghanns pflichtete in einem seiner letzten Auftritte dem bei. Die Kompetenz der neuen Bundesländer müsse man sichtbarer machen, um von dem Image der Förderregion wegzukommen. Die einst kurz vor der Insolvenz stehende Sektkellerei aus Freiberg ist in Deutschland mittlerweile die größte und hat die traditionellen aus dem Westen bereits einverleibt. Auch die Spreewälder Gurke ist im Ausland bekannt. „Die Branche ist uns wichtig“, so Junghanns.
Mittelstand: Wunsch- und Problemkind
Alle wollen kleine und überschaubare Strukturen. Dazu gehört der Mittelstand, der allerdings keine fest definierte Größe haben muss. Trotzdem ist er der Liebling der Wirtschaft. Das hat in den demographisch belasteten Regionen auch seinen Sinn. Der Mittelstand investiert am Standort, schafft Arbeitsplätze und sichert somit die Lebensfähigkeit des ländlichen Raums. Darin sind sich alle einig.
Doch auch die größeren Strukturen im Osten sind nicht das Ende der Fahnenstange. Ende 2019 läuft der Solidarpakt II aus. Wer bis dahin keine wettbewerbsfähige Struktur gefunden hat, verliert den Anschluss, warnt Daldrup.
Herausforderung Wettbewerb |
Der Mittelstand verbindet gerade für Verbraucher an seinen Standorten die Nähe zur Erzeugung und schafft über die Rückverfolgbarkeit Vertrauen in die Produkte. Die Brandenburger Marketingorganisation pro agro beispielsweise rückt mit der Aktion "von hier" die Ware in das Blickfeld der Berliner Konsumenten. So haben auch kleinere Betrieb eine Möglichkeit, neue Märkte zu erschließen.
Ob das aber für die Zukunft reicht, bleibt offen. Denn der Mittelstand ist zu klein. Nur 0,2 Prozent des Umsatzes steckt die ostdeutsche Ernährungsindustrie in die Forschung. Funktionelle Lebensmittel sind ein neues Marktsegment und Sachsen und Sachsen-Anhalt haben sich zusammen geschlossen, der Wirtschaft mehr Forschung für die überalternde Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Auch sollen Lebensmittel gesünder und funktional werden, um dem Anspruch der Verbraucher gerecht zu werden. Das kann der einzelne Wirtschaftsbetrieb nicht mehr verfolgen. So sollen Netzwerke Forschung und Praxis zusammen bringen. Wer dann noch auf den Weltmarkt will, der muss kooperieren. Bei Absatz, Marketing und Qualitätssicherung, so Daldrup.
BEN |
Aachener Printen statt Rioja
Die Zukunft Export kann sich aber der Mittelstand nicht alleine erschließen. Bereits in den 1960er kamen die spanischen Lkw mit Südfrüchten nach Deutschland. Allerdings fuhren sie leer wieder zurück. Heute ist das anders. Heute schleust der Lebensmittelhandel auf der Rücktour regionale Spezialitäten in alle Himmelsrichtungen. Walter Pötter von der Lidl-Stiftung bedauert zwar, dass der Fokus auf regionale Produkte wie den Aachener Printen oder Nürnberger Würstchen nicht den gleichen Klang und die Verbreitung hat wie ein Rioja oder französischer Camembert – aber die Gastarbeiter haben die deutschen Regionalprodukte kennen gelernt und in ihre Heimat mit zurückgenommen. Deshalb sei die deutsche Exportwirtschaft auf dem Ernährungssektor auch ohne globale Produkte erfolgreich und sollte diese Chancen nutzen.
Die Fokussierung auf ein regionales Produkt sei auch deshalb notwendig, weil man keine „Cola nach Spanien und keinen Jakobs Kaffee nach Franreich“ exportieren könne: Die Produkte sind schon da.
Nur können die mittelständischen Betriebe die Lkw, Züge und Binnenschiffe nicht alleine befüllen, sondern brauchten einen starken Handelspartner, der den Firmen die Wege ins Ausland erschließt, so Pötter.
Herausforderung Image |
Das Deutschland überhaupt exportieren könne, liege im harten Wettbewerb. Hätte die britische Tesco, die französische Carrefour oder der amerikanische Wal Mart hier Fuß gefasst, dann wäre Deutschland ein Agrarimportland, prophezeit Pötter [Lidl will übrigens im März 2009 in die Schweiz.]
Export fordert die Wirtschaft heraus
Derzeit ist die Ernährungsindustrie im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren noch sehr stark auf den Binnenmarkt ausgerichtet. Ein Drittel der Betriebe ist unterdurchschnittlich groß, beschreibt Prof. Dr. Rolf Langhammer, Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Der Anteil inländischer und ausländischer Direktinvestitionen liegt unter den Werten anderer Sektoren. Daher müssen Exportwillige ernsten Herausforderungen begegnen.
Als exogene auf die Branche wirkende Faktoren bezeichnet Dr. Langhammer die künftige enge Rohstoffbasis. Auf die Angebotsseite Landwirtschaft wirken Klima, Wetter und Bodennutzungskonkurrenz in Form der Urbanisierung, Infrastruktur und des Tourismus. Mehr als der Zuwachs der Weltbevölkerung wirke sich eine veränderte Diät aus. 80 Prozent der künftigen Nachfrage in China werde durch den steigenden Konsum veredelter Produkten generiert. Wer aber Produkte veredeln will, der muss in energieaufwendigere Prozesse investieren.
Als endogene Faktoren wirke die Biotreibstoffförderung. Sie verzerre generell den Wettbewerb zu ungunsten der Nahrungsproduktion. Und das mit oft zweifelhafter CO2-Bilanz. Günstiger sei es, Biodiesel aus Brasilien zu beziehen, was aber mit einer restriktiven Zollpolitik verhindert werde. Vorbeugender Verbraucherschutz mit seinen Standards minimiere die Chancen auf einen freien Handel und die „Dauerrunde Doha“ der Welthandelsorganisation zeige, dass mit steigendem Verarbeitungsgrad der Produkte, der Importschutz steigt. Die beiden letzten Punkte werden auch in Zukunft strittig sein, so Dr. Langhammer.
Exporthilfe
Die deutschen Botschaften in den wichtigsten Exportländern sind mittlerweile alle mit Agrarreferenten besetzt, um den Export zu fördern. Die neue CMA hilft mit Messebeteiligungen und Beratung. 2009 will die Ernährungsindustrie in die Offensive gehen und im März mit einer Ausstellung in Japan beginnen, verrät Jürgen Abraham. Den Export hatte jüngst EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel sogar als zweites Standbein der Ernährungssicherheit bezeichnet.
Export ist aber nicht nur eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Angesichts von nunmehr 920 Millionen Hungernden will Abraham den Menschen „nicht den Fisch, sondern die Angel“ schicken, damit sie sich selbst ernähren können. Voraussetzung sei aber, dass beispielsweise Mitarbeiter in Schwarzafrika „bei Leib und Leben“ geschützt werden.
Als Beispiel der wirtschaftlichen Hilfe nannte er die Firma, die gerade in Russland investiert.
Erfolg auf Schalke |
Zukunft beginnt mit der Gegenwart
Die Gegenwart ist die Summe der Vergangenheit und wer die Zukunft bezwingen will, muss sich zunächst der Gegenwart stellen. Und da gibt es genug Baustellen.
Der aktuelle Konjunkturreport der BVE weist für den August 2008 einen Umsatz von 12,8 Milliarden Euro aus. Gegenüber Juli ist das ein Rückgang von 3,8 Prozent. Der Verbraucherpreisindex für Nahrungsmittel und Getränke lag im September 0,3 Prozent unter dem Vormonat. Der saisonbedingte Rückgang ist in den Sommermonaten nicht ungewöhnlich. Auf Jahressicht fiel die Teuerungsrate mit + 6,1 Prozent immer noch hoch aus, lag aber unter den Spitzenwerten von acht Prozent zu Jahresbeginn. Bei Milch werden die hohen Anlieferungsmengen den Preis wieder drücken.
Herausforderung Konsum |
Sorge macht sich die BVE über die Finanzkrise. Abraham sagte am Dienstag, dass sie indirekt über die Verbraucherverunsicherung die Ernährungsbranche treffe. Er fürchtet, dass die hohe Preissensibilität in eine Kaufzurückhaltung münden könnte. Das Misstrauen der Banken untereinander erschwere die Kreditvergabe an die mittelständischen Unternehmen. Auf der anderen Seite hat die Finanzkrise Geldmittel aus den Agrarrohstoffmärkten abgezogen. Zusammen mit den guten Ernten in diesem Jahr sind die Preise auf den internationalen Rohstoffbörsen gesunken. Allerdings, so warnt der BVE, werden die Preise wieder anziehen. Abraham ermahnte die Politik, die Finanzkrise nicht als Hebel zu nutzen, die Wirtschaft generell stärker zu reglementieren.
Ampel als „vermintes Feld“
Die Diskussion über die Nährstoffkennzeichnung ist ein „vermintes Feld“, so Gert Lindemann. Ob die Kennzeichnung die aktuelle farbliche Form oder anders aussehen soll, weiß noch niemand. Wir „wollen am Ende eine allerseits akzeptierte Lösung haben“ verspricht der Staatsekretär. Die Ernährungsindustrie will nicht eine Kennzeichnung am Ende der Kette, sondern mit Informationen und Aufklärung den mündigen Verbrauchern die gesunde Ernährung von Beginn an beibringen. Friedrich-Otto Ripke, Staatssekretär aus dem niedersächsischen Agrarministerium versprach, in Niedersachen Ernährungsaufklärung und Hauswirtschaft wieder in den Schulen einzuführen. Dr. Wilhelm Priesmeyer aus der SPD-Fraktion glaubt auch nicht, dass die farbliche Kennzeichnung die „Rettung des Gesundheitssystems“ sei. Da müssen andere und zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden.
Streit um BVL
Mit der Vorstellung der Ergebnisse des Lebensmittelmonitoring 2007 hat das BVL eine ganze Front gegen sich aufgebracht. Die deutschen Obst- und Gemüseerzeuger, der Bauernverband und die Raiffeisengenossenschaften haben sich deutlich dagegen gewehrt, dass das BVL in einer Pressemitteilung vor dem Verzehr vereinzelten Gemüses und Obst gewarnt hatte. Die Branche fühlt sich an den Pranger gestellt und Walter Pötter stellte auf der Zukunftskonferenz die Lidl-Untersuchungen aus den Jahren 2006 bis 2008 vor:
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2006 |
2007 |
2008 |
Zahl Gutachten |
18.536 |
28.967 |
29.000 |
o. Beanstandung |
99,21 % |
99,23 % |
99,47 % |
Über gesetzlichen Höchstwert |
0,79 % |
0,77 % |
0,53 % |
roRo; 2008: hochgerechnet |
Stellvertretend für die Branche sieht Lidl seine eigenen Anstrengungen in den letzten Jahren nicht genug gewürdigt. Lidl stellt vor allem die Masse der eigenen Proben den 64 Proben des BVL gegenüber.
Auch hier wird der Streit noch weitergehen.
Roland Krieg; Fotos: roRo