Im Handel findet jeder eine Nische

Handel

Handel wird breiter und spezifischer

Die Marktkonzentration treibt den Erzeugern Sorgenfalten in die Stirn. Sie würden gerne höhere Preise durchsetzen, sitzen aber in der Wettbewerbsfalle der „Großen Fünf“.
Das jedoch ist nur eine Seite des Lebensmittelhandels. Die andere Seite ist facettenreich und bietet gerade für Frischeerzeuger von Obst und Gemüse neue Chancen – die aus ihrem Nischendasein herauswachsen.

Problem Flächenüberhang

Prof. Dr. Hendrik Schröder. Marketingexperte von der Hochschule Duisburg-Essen, stellte auf dem Frische Forum Obst und Gemüse der Fruit Logistica zunächst einmal klar, dass es Entwicklungen gegeben hat, die kaum mehr umkehrbar sind. Flächenüberhang und Einkaufszentren:

Da die Anzahl der Einwohner gleich geblieben ist, hat sich die Einkaufsfläche pro Bundesbürger in den letzten Jahren auf 1,5 Quadratmeter erhöht. Die Einkaufszentren sind entscheidende Treiber dieser Entwicklung und beeinflussen neben der Stadtplanung auch den Wettbewerb.
Eines der größten Einkaufszentren steht am „Limbecker Platz“ in Essen. 70.000 Quadratmeter Einkaufsfläche in einer Stadt mit 600.000 Einwohnern. Solche Zentren werden architektonisch „zelebriert“. Die Fassade des Essener Kauftempels ist nach Auskunft der Architekten dem schwungvollen Rocksaum Marylin Monroes nachempfunden, als sie für ein Foto über dem U-Bahnschacht stand. Nur: Die Konsumenten erkennen solche Parallelen nicht, räumt Schröder ein. Dennoch setzen sich die Zentren auch in kleineren Städten fest und binden in Orten wie Dinslaken mit 40.000 Einwohnern Kaufkraft auf Kosten des Fachhandels. Ebenfalls in den letzten 20 Jahren ging die Zahl der Lebensmittelgeschäfte von 59.000 auf 39.000 zurück.

Neue Entwicklungen

Das sind Entwicklungen, die nach Schröder nicht rückgängig zu machen sind. Doch eröffnen sich viele neue Modelle in den Bereichen offline, online und mobil. Der Handel reagiert damit auf die Veränderungen bei Verbrauchern: Arbeit und Freizeit wird nicht mehr so streng getrennt, die sozialen Netze eröffnen neue Kommunikationswege für einen Erfahrungsaustausch. Wellness und Gesundheit sollen sich auch in den Regalen der Lebensmittelgeschäfte wiederfinden.
Dennoch gibt es weiterhin die kognitive Ansprache der Kunden über den Preis. Immer häufiger wird jedoch der Mehrwert eines Produktes beworben und manche Ladengestaltung passt sich den Erlebniswelten der Menschen an: „Riechen, Schmecken und Sehen“, ohne störende Deckenhänger und Plakate an den Wänden.
Gerade bei Fisch, Wein und Obst und Gemüse passiere sehr viel in den Geschäften, erklärt der Marketingprofessor. So wird der Kunde in der Fischabteilung mit Meeresrauschen und Möwengeschrei empfangen und beim Betreten der Fußbodenkachel stiebt ein Fischschwarm nach allen Seiten fort. Da liege es nahe, dass Obst und Gemüse in einer Marktstandatmosphäre angeboten wird. Das ist die Domäne der neu entstehenden Nachbarschaftsläden.

Renaissance der Nachbarschaftsläden

Neben Einkaufszentren finden auch wieder Spezialitäten und Fachgeschäfte ihre Kunden. Ganz neu ist der „pop-up-store“, wenn bislang auch nur im Textilbereich: Ein Händler bezieht für ein paar Monate eine „besondere Location“ und zieht dann in die nächste Stadt. Für den Lebensmittelbereich gewinnt die „Mobilität“ aber auch an Bedeutung. Mittlerweile fahren mehr als 1.800 Verkaufswagen nicht nur über Land in die abgelegenen Winkel. Auf 12 Quadratmeter Verkaufsfläche bringen manche Händler bis zu 2.500 Produkte unter.
Offline und Online vermischt sich immer mehr. Filialisten wie tegut lassen über den Online-Händler Gourmondo vermarkten, der auch ein eigenes Lebensmittelsortiment im Angebot hat.
Eine Analyse der Hochschule Duisburg-Essen zeigt, dass die „puren online-Händler“ Lebensmittel im Versand an den Kunden bringen. Sie verzichten meist auf Tiefkühlkost und Obst und Gemüse. Oftmals kaufen die Kunden aber sehr viel Verpackung mit ein. Mit Frostware und Frischesegment operieren die Lebensmittelhändler, die selbst ausliefern. Kurze Wege für sensible Produkte.

Neues vom Discount

Die Finanzkrise spielt dem Discount in die Hände, der fast überall in Europa neue Kunden gewonnen hat, erläuterte Matthias Queck, Discount-Experte beim britischen Berater Planet Retail. In Deutschland und Europa steht Lidl vor Aldi, während Aldi dank des Markteintritts in die USA weltweit der führende Discounter geworden ist. Nach den beiden komme lange nichts, wenngleich sich in Deutschland die Edeka-Variante Netto-Markendiscount schon an Aldi Süd vorbei auf den dritten Platz gearbeitet hat.
Noch nimmt der Preis im Discount die beherrschende Stellung ein. Lidl macht beispielsweise in Großbritannien Werbung für günstige Preise von Montag und Samstag. Die gleichen Haushalte erhalten weitere Handzettel für den günstigen Wochenendeinkauf am Donnerstag und Freitag und einen Extrazettel für den „Super-Samstag“. Nicht genug: Zwei Tage später wird der „Frische-Montag“ mit Tiefpreisen beworben.
Doch Queck zeigte viele Beispiele, wo sich andere Qualitäten Bahn brechen. Denn wenn es immer billiger geht, dann müssen andere Produkte mit erheblichem Erklärungsbedarf an den Kunden gebracht werden. Da ist der Schritt zum Qualitätssortiment nicht mehr fern. Lidl experimentiert in Belgien und England mit „Healthy Till“ an der Ladenkasse. Dabei werden Süßigkeiten gegen hochwertige Nahrungsmittel aktionsweise ausgetauscht. Aldi Australien hat eine Lunchbox mit Obst und Gemüse eingeführt.
Fair Trade und Bio haben in den Discountern schon lange ihren Platz gefunden. Weil es eine preiswerte Variante für Premiumwaren sind, so Queck. Mittlerweile sehen Verbraucher die Produkte aber in einem komplexeren Zusammenhang. Um soziale, regionale, im Transport günstigere oder gesündere Produkte wird nach Einschätzung des Marketingexperten auch der Discount nicht herum kommen. Seit Aldi Markenprodukte eingeführt hat, gibt es im Discount schon längst Differenzierungen zwischen Economy, Standard und Premium. Teilweise werden die Produkte gleichzeitig beworben: Wer das Markenwaschmittel haben will, der kann es im Discount finden, wer aber dennoch sparen will, der kann auf das dreimal günstigere Handelsprodukt zurückgreifen.
Die Discounter testen nach Queck schon heimlich am „Self Check“. real hat es bereits eingeführt: Die Kunden ziehen die Ware selbst über den Scanner und „kassieren sich selbst ab.“ Das spart Personal – und gibt finanzielle Luft, den Preisvorteil beim Discount zu lassen.

Roland Krieg

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