Lebensminister Seehofer

Handel

Jahrestagung des BLL zur Verbraucherpolitik

Die Evolution hat den Menschen gelehrt: Was süß schmeckt ist ungefährlich – iss mich. Fett ist in der Nahrung wichtig, weil es, neben der Energiezufuhr, Träger der Geschmacksstoffe ist. Seit der Mensch in der zivilisierten Bürogesellschaft aber immer weniger Energie verbraucht, führen zu viel Süßes und zu viel Fett zu Übergewicht: In Europa ist es jeder Dritte und sogar jeder fünfte ist fettleibig. Ohne Aussicht auf Besserung haben bereits Kinder und Jugendliche zu viel Pfunde auf den Hüften. Das erstaunlichste ist dabei, dass fast jeder weiß, dass man sich mehr bewegen und mehr Obst und Gemüse essen soll und Verbraucher bekommen es an allen Ecken immer wieder zu hören. Allein – es hilft nicht. Die Kosten für ernährungsbedingte Krankheiten belaufen sich in Deutschland auf jährlich rund 70 Milliarden Euro.
Greift keine Vernunft, hilft das Gesetz!? Fette, Transfette, Zucker und Salz sollen geregelt werden, damit sie nicht im Überfluss Schaden anrichten. Markos Kyprianou, EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz will europäische Vorschriften, sollten die einzelnen Mitgliedsländer das Problem nicht von der Waage kriegen.
Die Schweden zeigen mit einem grünen Schlüsselloch auf der Verpackung ein Lebensmittel mit wenig Fett und viel Ballaststoffe an. England probiert es mit einer Ampel: grüner Punkt für wenig Salz, Fett oder Zucker, ein gelber Punkt für mittlere Gehalte und ein roter Punkt für hohe Bestandteile. Jüngst rückte Nestlé mit einem eigenen Ernährungskompass nach: relevante Nährwertangaben wie Brennwert, Eiweiß, Kohlenhydrate und Fett stehen auf der Packung und eine Rufnummer verweist auf ein Ernährungsstudio.

Spannungsbogen Verbraucherschutz
Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) widmete sich gestern auf seiner Jahrestagung im Berliner Hotel Palace dem Thema Verbraucherpolitik – „Herausforderungen in dieser Legislaturperiode“. Präsident Dr. Theo Spettmann will, „dass eine Verbraucherpolitik angestrebt wird, die nicht auf bürokratische Reglementierung, sondern auf die gestaltende Funktion im Wettbewerb setzt“. Die Branche sucht das Gleichgewicht zwischen Verbraucher- und Wirtschaftsinteressen und will künftige Reglementierungen, wie das Verbraucherinformationsgesetz, als überbordende Bürokratie abgebaut sehen. Neue Gesetze müssten einer „sorgfältigen Folgenabschätzung“ unterzogen werden und ein Mindestmaß an Rechtsqualität einhalten. Damit meint Spettmann auch die so genannten „Health Claims“, die Nährwertprofile auf Lebensmittel vorschreiben wollen.
„Es ist uns nicht egal, ob unsere Kinder und Jugendlichen sich ausgewogen ernähren und ob sie sich ausreichend im Alltag bewegen“, nimmt der Präsident seine Branche in die Pflicht. Zum Grünbuch der EU-Kommission „Förderung der gesunden Ernährung und körperlichen Bewegung“ (Kom (2005) 637) nimmt der BLL auf seiner Internetseite ausführlich Stellung. „Übergewicht hat multifaktorelle Ursachen“, heißt es da. Jeder Lösungsansatz müsse das berücksichtigen: „Eine Politik, die sich im Wesentlichen nur auf die Vermarktung von Lebensmittel fokussiert, ist nicht zielführend.“
Prof. Dr. Edda Müller, Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband, bekräftigte gestern noch einmal die Vorwürfe an die Ernährungsindustrie, die mit 120 Milliarden Euro Umsatz eines der Zugpferde der deutschen Wirtschaft ist. Mittlerweile ist die 3. Generation Lebensmittel auf dem Markt, die mit Mineralien und Vitaminzusätzen einen erhöhten Nutzen verspricht. Während zwar die Gewinnmargen der Industrie höher werden, sei der ernährungsphysiologische Nutzen noch nicht wirklich erwiesen, so Müller.
Seit die Ernährungsindustrie begonnen habe, speziell für Kinderprodukte und Jugendliche ein ausgeklügeltes Design zu entwerfen, werden die Kinder immer dicker. Müller fragte, ob es dabei einen Zusammenhang geben könnte. Gerade XXL-Packungen, in denen Süßigkeiten für den Kinobereich angeboten werden, hätten zugenommen. Dabei zügelten sich Verbraucher, die erst einmal eine Mehrfachpackung aufgerissen haben, erst dann, wenn die Verpackung leer gegessen sei. Die Verantwortung trage daher die Ernährungsindustrie, die sich klar werden sollte, dass Nährwertprofile deswegen eingefordert werden, weil den Menschen das Ernährungswissen fehlt.

Machen nur die Kalorien dick?
Der BLL sieht seine Mitglieder dabei ungerechtfertigt angegriffen, denn „Themen wie Produktzusammensetzung, Werbung und Marketing für Lebensmittel bestimmen eine unter politischen Vorzeichen geführte Diskussion“, so die Stellungnahme zum Grünbuch, „deren Adressat insbesondere die Lebensmittelindustrie ist.“ Verantwortlich sei aber vielmehr der dramatische Verlust an Alltagsaktivität in der Bevölkerung. Das Problem des Übergewichts wird zu wenig differenziert auf die Gesamtbevölkerung übertragen – betrifft jedoch überwiegend die sozial Schwachen.
Besonders wehrt sich der Verband gegenüber den Vorwürfen, dass Werbung und Vermarktung von Lebensmitteln die Menschen und vor allem Kinder irreführt. Es gebe „keinerlei tragfähige Belege“ für dies Behauptung, kritisiert der BLL und stützt sich auf eine Arbeit im „Journal of the Royal Society of Medicine“ (Ashton; 2004; 97:51-52): Ein entsprechendes Verbot von Food-Werbung an Kinder unter 10 Jahren in der kanadischen Provinz Québec und in Schweden hatte keine positiven Auswirkungen auf das kindliche Übergewicht.
Vehement wehrte sich gestern Dr. Spettmann gegen das drohende Verbraucherinformationsgesetz (VIG) , weil er fürchtet, dass die mögliche Auskunftspflicht Produkte, Marken und Unternehmen zu unrecht öffentlich machen könne: „es drohe ein Pranger.“

Lebensminister Seehofer
Das VIG aber kommt, versicherte gestern Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer auf der Jahrestagung. Endlich sei es soweit, dass die Theorie des Gesetzes in die Praxis umgesetzt werden müsse. Es sei auch keine zusätzliche Bürokratie, wie vom BLL kritisiert, denn es sei ein Bürgerservice. Es werde ein schlankes Gesetz, dass dem Informationsanspruch gegenüber einer Behörde gerecht werde und daher unter die Serviceleistung falle – wenn auch gebührenpflichtig. Allen könne man es nicht recht machen, denn „es gebe in Deutschland 80 Millionen Juristen“.
Noch nie in der Geschichte war die Nahrung in der Mehrheit so sicher wie heute und die Menschen werden im Durchschnitt fast 80 Jahre alt. Trotzdem stirbt jeder zweite an Herz-Kreislauferkrankungen, aber man höre, so Seehofer, keine öffentliche Diskussion um die richtige Lebensführung. Ernährung ist dabei nur ein Puzzleteil in dem Ziel „lange und gesund zu leben“. Deutschland sei zwar in der kurativen Medizin Weltspitze, aber in der Prävention noch immer Entwicklungsland. Genauso wichtig wie tägliche Verordnungen in der Tierhaltung oder über Nährwertprofile sind festzulegende Maßstäbe und Grundhaltungen des Lebens, weswegen er gestern das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in ein Lebensministerium „umtaufte“. Man solle viel mehr über Lebensgewohnheiten und -führung reden, als über einzelne schwarze Schafe, von denen immer gleich auf die ganze Branche geschlossen würde.

Wessen Verantwortung ist die richtige Ernährung?
So schlank und eindeutig kann der Entwurf für das VIG allerdings nicht sein, denn in der Podiumsdiskussion bemängelte Ulrike Höfgen, verbraucherpolitische Sprecherin Bündnis 90/Die Grünen, dass der Tatbestand der Täuschung im VIG nicht enthalten sei. Mit gleicher Verve allerdings bestand ihre Kollegin aus der CDU/CSU-Fraktion, Julia Klöckner, darauf, dass Konsumenten auch darüber informiert würden. Klöckner lehnt die Sichtweise ab, dass Verbraucher vor Produkten geschützt werden müssten: „Die Lebensmittelindustrie muss sich nicht für ihre Vielfalt entschuldigen.“ Allerdings dürfe man den Verbraucher auch nicht zwangsbeglücken, wie es bei der Grünen Gentechnik geschehe, erwiderte Höfgen.
Klöckner gesteht jedem einzelnen das Recht zu, dick werden zu dürfen. Damit liegt die Verantwortung bei jedem einzelnen, der allerdings auch aufgeklärt und informiert sein muss, sich dagegen wehren zu können. Schließlich gebe es „keine guten und bösen“ Lebensmittel, wie es Hans-Michael Goldmann (FDP) formulierte; aber stehen die Informationen ausreichend und jedem zur Verfügung? Nach Dr. Kirsten Tackmann (Die Linke) gibt es bereits viele Menschen, die keinen Zugang mehr zu weiter führenden Informationen haben. Deshalb lehnt sie den Plan der Gebührenerhebung beim VIG strikt ab. Verbraucherzentralen werden finanziell knapp gehalten und sind im ländlichen Raum kaum noch vorhanden. Viele Menschen in den strukturschwachen Regionen könnten sich auch keine Zeitungen mehr leisten. Zudem, so Klöckner, reicht eine Information alleine noch nicht aus - sie muss auch verstanden werden.
So gab es gestern den Konsens, dass Ernährungswissen wieder gelehrt werden müsse. Goldmann forderte, dass die Ernährungslehre wieder in den Lehrplan der Schule aufgenommen werden müsse.
Skepsis gegenüber Broschüren und Etiketten zeigt auch der BLL. In seiner Stellungnahme zum Grünbauch der EU heißt es: Entscheidend ist eine „frühe Verbraucherbildung“ in Vorschule und Kindergarten. Beigefügte Informationen sind mittlerweile so detailliert und spezifisch, „dass er Verbraucher (eher) das Gefühl hat, weniger denn je informiert zu sein.“

Zukunftsmärkte
Ist der Verbraucher aufgeklärt und kann sich ein eigenes Urteil über die Werbung bilden und vernünftig einkaufen und sich ernähren? Oder trifft das andere Leitbild zu, dass er den Überblick verloren hat und durch raffinierte Werbung so verführt wird, dass er sich nicht mehr eigenverantwortlich wehren kann?
Darüber diskutiert die Politik und Gesetze werden den Konsens nicht erzwingen. Zudem ist „der edukative Ansatz von peb, der auf Aufklärung, Training und die Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Gruppen setzt zwar nachhaltig – aber auch langwierig und personalintensiv“, resümiert die Lebensmittel Zeitung (LZ).
Es geht auch anders. Manche Lebensmittelprodukte scheinen eine Deponie für Überschusszucker aus der Landwirtschaft geworden zu sein. Die Industrie hat es in der Hand, die Rezepturen zu ändern. Um Transfettsäuren, die Gefäßschädigungen fördern können, aus einigen ihrer Kekse zu entfernen, brauchte die Firma Kraft nach eigenen Angaben 100.000 Arbeitsstunden.
Und es boomt nicht nur die Wellness-Branche. Der ehemalige olympische Gewichtheber Tim Barry verkauft nach Angaben der LZ in seinem Geschäft „Supersizeworld“ besonders stabile Toilettendeckel, Camping-Hocker, die mindestens 400 kg Gewicht aushalten, ausziehbare Greifwerkzeuge für die, die sich nicht mehr bücken können und Küchenwaagen für Portionen jenseits des Durchschnitts. Auch im deutschen Fernsehen gibt es bereits Moderatoren, die jenseits von Modell-Maßen spaßige Videoclips anbieten: dick wird nicht nur schick, sondern bringt auch dicke Knete.

BLL und peb
Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) ist der Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft und repräsentiert damit die Lebensmittelwirtschaft entlang er gesamten Produktionskette „vom Acker bis zum Teller“. Zu seinen Mitgliedern zählen rund 90 Fachverbände aus den Bereichen Landwirtschaft, Handwerk, Industrie und Handel sowie 300 Unternehmen vom Mittelstand bis zu internationalen Konzernen. www.bll.de
Die Plattform Ernährung und Bewegung wurde 2004 in Berlin aus der Taufe gehoben und wird weltweit interessiert verfolgt, denn in dieser Zusammensetzung gibt es kaum andere Informationsnetze. Mittlerweile hat auch die EU etwas vergleichbares gegründet. www.ernaehrung-und-bewegung.de. Die europäische Plattform finden sie unter http://ec.europa.eu/comm/health/ph_determinants/life_style/nutrition/platform/platform_en.htm


Roland Krieg

Zurück