Migranten und Konsum - Teil II

Handel

Verbraucherbildung, Bildung, Kosten

Viktor Hahn aus Kasachstan beschrieb die besondere Problematik der russischsprechenden Aussiedler und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die 250 Jahre lang in diesen Ländern als Deutsche galten und jetzt hier mit dem Bezeichnung Russe in einen Topf geworfen werden. Differenzierte Statistiken über diese Migrantengruppe gebe es kaum, weil sie hier gleich als Deutsche erfasst werden. Bei einer zielgruppengerechten Ansprache müssen diese Details aber beachtet werden, um Gehör zu finden.

„Experteninterviews und Medienanalyse geben ein umfassendes Bild darüber, wie die Kommunikationskanäle zu den Migranten aus der Türkei und der ehemaligen Sowjetunion strukturiert sind, und welche Kanäle wie und wofür einzusetzen sind. Wie diese Kanäle genutzt werden, wird von den Entscheidungen abhängen, welche Richtung in der Verbraucherpolitik gegenüber den Migranten eingeschlagen wird.“
Studie Lima Curvello

Die Kinder, die bis zu einem Alter von zehn Jahren nach Deutschland gekommen sind, können kein russisch mehr und sind von der Sprache und vom Verhalten her nicht mehr von deutschen zu unterscheiden. Die „konsumhungrige Gruppe“ der bis zu 27jährigen will „sofort und alles“, verfügen jedoch über keine finanziellen Mittel. Die Menschen im Alter bis 45 Jahre haben den Niedergang der Sowjetunion erlebt und haben mit der Übersiedlung ihren sozialen Status verloren. Sie bezeichnet Hahn als „Statussymbolkonsumenten“, die über Wohneigentum wieder das Gefühl erlangen, etwas erreicht zu haben. Das ist auch gleichzeitig die Generation, die sehr kleinlich und sparsam ist. Sie nutzen von mehreren Glühbirnen am Kronleuchter immer nur eine, bis diese kaputt geht. Reisen und Theaterbesuche stehen gar nicht auf dem Programm, aber sie sind handwerklich sehr geschickt und schlachten Tiere am liebsten selbst – auch weil es preiswerter als die Produkte aus dem Supermarkt ist. Auf diese Konsumenten haben sich Bauernhöfe bei Essen und in den Niederlanden eingestellt und bieten entsprechende Gelegenheiten.
Diese Migranten informieren sich mehrheitlich über Printmedien.

Erfahrungen aus der Vergangenheit
Bei Aussiedlern und Asylanten hatten die Verbraucherzentralen in den 1970 und 1980er Jahren Erfahrungen in der Verbraucherbildung gemacht. Gabriele Beckers, stellvertretende Geschäftsführerin der Verbraucherzentrale Hessen beschrieb wie die Berater in die Asylantenheime und Aussiedlersiedlungen gingen. Allerdings lief das Engagement in den 1990er Jahren aus.
In jüngster Zeit hat es erneute Versuche gegeben. Die Bremer Verbraucherzentrale hat einen türkischen Einkaufsführer für den Lebensmittelbereich herausgebracht, der Mindesthaltbarkeitsdatum erklärt, welche Informationen auf Etiketten verzeichnet sein müssen und speziell ein Verzeichnis angelegt, welche Lebensmittel ohne Schweinefleisch und Alkohol auskommen. In Hamburg gab es eine lange Nacht der Beratung – aber beide Projekte riefen keine große Resonanz hervor. Immerhin hat der Bremer Einkaufsführer die Verbraucherzentrale bekannter gemacht.
Für den Lebensmittelbereich ist die Spannbreite der Beratung sehr groß. Ob die Erklärung von Lebensmitteletiketten oder der Zusammenhang im Bereich BSE und Vogelgrippe leichter an den Verbraucher oder den Handel anzubringen sei, wollte Herd-und-Hof.de von ihr wissen. Das allerdings könne man zur Zeit noch gar nicht feststellen, antwortete Gabriele Beckers. Ernährungswissen ist generell sehr schwierig und man versuche eher über Schulprojekte Jugendliche zu erreichen. Es gehe schließlich auch mehr um die Alltagsrelevanz, die hinter dem Begriff der Verbraucherbildung stehe. Die Ansätze müssen kleiner gefasst werden, wenn Jugendliche nicht wissen, was die Buchstaben „H“ und „S“ auf dem Kontoauszug bedeuten und ihren Etat nicht budgetieren können. Nach Beckers müssen die Verbraucherzentralen hier in einen Bereich preschen, der von der Schule nicht ausgefüllt werde.

Problem der Immigranten?
Anfang des Monats hat die Universität Granada eine Studie veröffentlicht, bei der aus Lateinamerika, dem Baltikum oder aus China eingewanderte Jugendliche sich besser ernähren als die spanischen Vergleichsteenager und Studenten. Das Problem kann also nicht in der Einwanderung liegen, wie auch Bülent Arslan untermauerte: Die Einwanderer bringen die Werte aus ihrer Heimatregion mit. Verbraucherbildung mit den „Standards der Mehrheitsgesellschaft“, wie es die Studie formuliert, ist dann ein generelles Problem. Im Kern haben die Migranten die gleichen Fragen und den gleichen Beratungsbedarf. Alle auf der Tagung benannten Probleme werden auch von deutschen Verbrauchern nachgefragt.

„Kooperationen zwischen den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft und den Organisationen der Migrantencommunities führen zur Gestaltung von Integration, indem auf beiden Seiten Lernprozesse in Gang gesetzt werden. Um zu entscheiden, mit welchen Organisationen Kooperationen sinnvoll sind, muss bei den Verbraucherzentralen ein spezifisches Wissen aufgebaut werden. Für die Verbraucherzentralen in ihrer gegenwärtigen organisationalen Strukturiertheit wäre es eine Herausforderung, systematische Kooperationen mit Migrantenorganisationen aufzubauen.“
Studie Lima Curvello

Wohl aber haben Migranten hier in Deutschland das besondere Problem, wenn beispielsweise dreimal mehr Türken die Schule ohne Abschluss verlassen als deutschen Schüler. Innerhalb der jeweiligen Sprachengemeinschaft begegnen ihnen aber die gleichen Verkaufstricks wie auf dem deutschsprachigen Markt. Aber es gibt keine Verbraucherschutzorganisation, die auf die Seriosität der Angebote achtet und vor Fallen warnt. Dieser Markt ist sprachlich nicht zu durchdringen. Personell und strukturell nicht.

Keine Zusatzkosten
So meldete sich auch gleich das Bundeslandwirtschaftsministerium mit Dr. Rainer Metz, der nach den Kosten fragte. Eine Verdoppelung der Beratungsstruktur für Migranten sei nicht zu finanzieren. Preiswerte Alternativen sind gefragt, wie beispielsweise eine Verbraucherberatung in der Moschee.
Preisgünstig sei auch die Aufnahme der Verbraucherbildung in die Sprachkurse und Lehrwerke. Aber selbst wenn in diesen Tagen ein neues Curriculum herauskommt, so wird das Thema Verbraucherbildung kaum Erwähnung finden, fürchtet Michael Weiß von der Volkshochschule Berlin-Mitte.
Im Rahmen des ersten deutschen Verbrauchertages hatte Herd-und-Hof.de einen Blick auf die zurückgehende Finanzierung der Verbraucherberatung geworfen. Es gibt jedoch auch aus Reihen der CDU Signale, die Arbeit der Beratungen sicher finanzieren zu wollen. Die Vorsitzende der CDU-Arbeitsgruppe Verbraucher, Julia Klöckner, richtete ihre Forderung für die Finanzierung allerdings vordringlich an die Bundesländer. „Um die finanzielle Unabhängigkeit der Verbraucherzentralen dauerhaft zu sichern, prüfen wir das Modell einer Stiftungsfinanzierung“, sagte sie nach einer Sitzung am 19. September.

"Das tragische Dilemma"
Türken und russischsprechende Gemeinschaften hat Dr. René Leicht vom Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim auf Multiplikatoren untersucht. Gerade diese Gruppen machen sich eher selbstständig als Deutsche, verfügen jedoch über weniger Erfahrung in ihrem Bereich und sind schnell wieder vom Markt verschwunden. So haben Türken einen hohen Bedarf an wissensspezifischen Dienstleistungen, aber der Anteil an akademisch gebildeten Selbstständigen ist im Vergleich zu gering. Bei den Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion ist es genau umgekehrt.

Am 30.11. haben die Bündnisgrünen im Bundestag den Antrag für eine „Verbraucherfreundliche Lebensmittelkennzeichnung“ eingebracht, die „Transparenz schaffen und eine schnelle Orientierung über den Gesundheitswert des Lebensmittels bieten“ soll. Eine besondere Berücksichtigung der Erfordernisse für Migranten findet dabei keinen Eingang.
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Als beim letzten Gammelfleischskandal der Döner betroffen war, hatten die Verarbeiter in Mannheim begonnen auf ihren Internetseiten Herkunftszertifikate einzustellen. Die Imbissbuden hingegen hatten nach Analyse von Dr. Leicht die Chance verpasst, dieses Wissen und den Marktvorteil zu übernehmen. Allerdings hat es niemand vermisst, denn weder türkische noch deutschen Konsumenten hätten nach der Herkunft der Döner gefragt.
Ethnische Läden als Brückenköpfe der Verbraucherbildung sind auch deshalb nicht sonderlich geeignet, da nach Analysen des Mittelstandsforschers, die deutliche Mehrheit der Geschäfte auch nur bis maximal ein Viertel der Kundschaft aus der gleichen Ethnie bedient. Aber das erste deutsch-türkische Foodforum auf der Anuga hatte gezeigt, dass die Onkel Mehmet-Läden vor allem deshalb gerne aufgesucht werden, weil dort die gleiche Sprache gesprochen wird.

Lesestoff:
Die gesamte Studie von Tatiana Lima Curvello finden Sie auf der Internetseite des vzbv www.verbraucherbildung.de. Das Portal ist von dem deutschen Komitee der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ als „Offizielles Projekt der Weltdekade 2007/2008“ ausgezeichnet worden. Hier gibt es auch Materialien für den Sprachunterricht.
Die spanische Studie von Lorena Ramos Chamorro wurde von der Universität Granada, Departamento de Didactica de las Ciencias Experimentales, durchgeführt. Innerhalb der Untersuchung wurde ein multikulturelles Programm eingeführt, das auf Lebensmittel und Ernährung basiert. Unter dem Titel „Intercultural Alimentation, Eating better is possible“ stellen Immigranten und Spanier gegenseitig ihr Speisen vor. Das soll nicht nur das Essverhalten untereinander beeinflusst, sondern auch die multikulturellen Beziehungen verbessert haben: www.ugr.es
Den ersten Teil des Berichtes über die vzbv-Tagung finden Sie hier: https://herd-und-hof.de/handel-/migranten-und-konsum-teil-i.html

Roland Krieg

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