„Pisa-Test für Lebensmittelkontrolleure“

Handel

BLL-Jahrestagung zwischen Rekordbetrug und Aufklärung

Ein niederländischer Fleischverarbeiter hat zwei Jahre lang insgesamt 50.000 Tonnen Pferdefleisch ins Rindfleisch gemischt und auch flächendeckend nach Deutschland verkauft. Jeden Tag 68 Tonnen. Während die Niederländer Restbestände sicher stellen, die Bundesländer Informationen sammeln und Geschäfte identifizierte Ware aus den Regalen räumen, startete der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) in Berlin seine Jahrestagung: Wahlprüfsteine und agrapolitisches Gespräch über die Beziehung zwischen Handel und Verbraucher. Der Hintergrund war gemalt und zog sich wie ein roter Faden durch aller Gespräche.

Eskalationsspirale

BLL-Präsident Dr. Werner Wolf bekannte, dass die letzten Wochen alles andere als leicht für die Ernährungsindustrie gewesen sind. Es blieb kaum Zeit zum Durchatmen, doch Pferdefleisch, falsche Bioeier und Aflatoxin ließen sich immer wieder auf das gleiche Muster der kriminellen Energie eines Einzelnen zurückführen. Kaum bekannt, setzt sich eine Eskalationsspirale in Gang, die Dr. Wolf wie folgt beschreibt: „Aus einer Regelverletzung wurde ein Skandal, aus einem Skandal eine Hysterie, aus der Hysterie politischer Aktionismus.“ Die Branche fühlt sich herausgefordert und will den Trend „einseitiger Darstellung“ brechen. Vorurteile gegen industriell hergestellte Lebensmittel werden von Nichtregierungsorganisationen und den Medien hysterisch vergrößert.

Vorbilder finden

Die Einleitung zu den Wahlprüfsteinen zeigte ein eigenartiges Bild: Der Verbraucher hat falsche Vorstellungen [1], die Politik verfalle in Aktionismus und die Medien sind hysterisch. Herd-und-Hof.de hat den stellvertretenden Hauptgeschäftsführer Dr. Marcus Girnau befragt, ob denn der BLL auch selbstkritisch sei. Durchaus, so Dr. Girnau, denn bei der Abgrenzung zu den schwarzen Schafen gebe es Optimierungsbedarf bei den Kontrollen auch innerhalb der Branche. Girnau weist darauf hin, dass die Firmen Telefonservice und Internetseiten für die Kunden eingerichtet haben, wo diese sich ausführlich über Produkte und Herstellungsverfahren erkundigen können und das auch nutzen. Im Gegensatz zur öffentlichen Skandalisierung werden dort Themen sachlich angesprochen und beantwortet.

Frosta hat in dieser Woche umgesetzt, alle Zutaten gemäß geäußerter Verbraucherwünsche und Politikeranforderungen, auch bei verarbeiteten Produkten, offen zu legen [2]. Frosta als Mitglied des BLL wählt eine andere Kommunikationsstrategie und geht offensiv auf die Wünsche der Verbraucher ein. Dr. Girnau unterstützt diesen Vorstoß, der durchaus Ansporn für andere Firmen sein kann, das gleiche zu tun. Er wehrt sich aber gegen eine verpflichtende Offenlegung, weil kleinere Firmen das nur schwer umsetzen können. Daher sei das auch keine Verbandsempfehlung.

Die falschen Bioeier aus Niedersachsen und Dioxin im Futtermais aus Schleswig-Holstein haben eines gemeinsam: Diese Fälle liegen bereits mehr als zwei Jahre zurück, doch die Staatsanwaltschaften ermitteln noch immer. Kein Urteil, kein Schadensersatz und das Thema erreicht immer wieder die Verbraucher. Daraus wollte Dr. Girnau aber keine Anforderung an die Justiz ableiten, schneller zu arbeiten. Umfangreiche Ermittlungen und die Unschuldsvermutung lassen keine Beschleunigung zu. Besser sei, so Dr. Girnau, die Prävention im Vorfeld zu verbessern. Der Verfolgungsdruck müsse so erhöht werden, dass niemand in einem Betrug eine lohnende Tätigkeit sehe.

Die Ernährungsindustrie wehrt sich vor allem gegen die Einteilung in „gute und schlechte“ Lebensmittel. Doch in dieser Woche haben nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ Lebensmittel kritisiert, sondern das Max Rubner-Institut. Es hat auf den hohen Salzkonsum der Deutschen hingewiesen [3]. Richtwert sind die Empfehlungen der Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Da möchte Dr. Girnau zwischen sachlichen Empfehlungen und erhobenen Zeigefinger von „selbsternannten Verbrauchererziehern“ unterscheiden. Wer eine gute und wer eine schlehcte Empfehlung ausspreche könne das an den abgeleiteten Maßnahmen ersehen. Am Ende mache der Ton die Musik, wer was wie anspricht. Dr. Girnau verweist auf die Industrie, wie das Bäckerhandwerk, die vor dem Hintergrund der Salzdiskussion salzarme Brotvarianten erarbeitet – ohne das Salz gleich auf der Negativliste erscheine.

Zwei Leitbilder stehen hinter den Vorstellungen des BLL: Zum einen das, des aufgeklärten und mündigen Verbrauchers, der selbst entscheiden kann und der freie Wettbewerb, in dem sich Unternehmen Marktanteile sichern können, wenn sie in besonderem Maße auf Verbraucherwünsche eingehen und so auch zum Vorreiter der ganzen Branche werden. Nach Präsident Dr. Wolf ist der Preiswettbewerb ein Teil des marktwirtschaftlichen Systems, aus dem sich ein Unternehmen auch zurückziehen könne.

Die Politik kippt

Die Verdichtung von Einzelfällen und politischen Aktionsplänen weicht das BLL-Idealbild des homo oeconomicus auf. Selbst der EU-Verbraucherschutz-Kommissar Tonio Borg erklärte die Vielzahl der EU-Verordnungen als Resultat langer Skandalreihen [4]. Konnte die Ernährungsindustrie in der Vergangenheit rückhaltlos auf die Regierungskoalition bauen, so kippt die Stimmung. Dr. Gerd Müller, Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium, sagte: „Wer verkauft trägt auch Verantwortung!“ „Innerhalb von Stunden“ müsse erkennbar sein, wer ein schwarzes Schaf ist und welche Liefer- und Bezugsketten involviert sind, damit nicht immer gleich das ganze System wegbreche.
Müller verwahrte sich gegen medial geäußerten Generalverdacht, kritisierte die Kontrollen, bei denen 15 Prozent der Kontrolleure noch ohne Laptop und nur mit Schreiber und Papier im Außendienst unterwegs sind, verlas aber einen ganzen Katalog, der auf die Ernährungsindustrie zukomme und auf die sie sich einstellen müsse: So wird, auch europäisch vorangetrieben, die Kennzeichnung bei verarbeiteten Produkten weiter entwickelt, die Veröffentlichungspflichten von Kontrollergebnissen werden kommen, ab Dezember müssen auch bei loser Ware Zutaten angegeben werden und die einheitliche Nährstoffkennzeichnung ist da. Dr. Müller erinnert, dass solche Maßnahmen zum vorbeugenden Verbraucherschutz gehören. Ziel ist, die Lebensmittel bei Qualität und Sicherheit weiter zu verbessern. Müller warnt aber vor einer Überregulierung.

Kommunikationsstrategie

Das Handel und Verbraucher auseinanderdriften hat BLL-Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff schon auf dem Frische Forum Fleisch der Internationalen Grünen Woche beschrieben: „Wie befinden uns in einem semantischen Krieg!“ [5]. Doch ob die Semantik nicht auch inhäusig zu überprüfen sei, hinterfragte Bärbel Höhn, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen. Wenn die Mitglieder des BLL ihre Produkte verkaufen möchten, dann sollten die Firmen darauf achten, wie „die Kunden drauf sind“, so Höhn. Bei Krisen gebe es nur wenig Öffentlichkeit [6] und der Verband übte sich in Medienschelte. Es sei kommunikativ der falsche Weg, allen anderen die Schuld zu geben und sich selbst die Opferrolle zuzuschreiben. Aus dem Verbraucherverständnis heraus werde das Opfer dann schnell zu jemandem, der das Problem nicht verstanden habe.
Das findet keinen Widerspruch bei Franz-Josef Holzenkamp, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bei der CDU/CSU. Die Branche habe einen Optimierungsbedarf für eine „schnelle und präzise Rückverfolgbarkeit“. Die einzelnen Verarbeitungsstufen kümmerten sich zu wenig darum und müssten sie stufenübergreifend organisieren. Holzenkamp kritisierte auch die Verbraucherinformationen der Industrie. Jedes Produkt trage ein Etikett und ein Bild. Doch die Bilder versprechen zu oft Romantik und Idylle. Holzenkamp wollte die Kritik aber positiv verstanden wissen, denn gerade die industrielle Verarbeitung habe Qualität und Sicherheit bei den Lebensmitteln hergestellt. Das dürfe auch so kommuniziert werden.
„Der Kunde ist König. Der Kunde wählt aus“, unterstrich Christel Happach-Kasan, agrarpolitische Sprecherin der FDP. „Aber auch Könige müssen Realitäten erkennen.“ So dürfen Verbraucher nicht erwarten, dass auf kleinen Schokoriegeln alle möglichen Informationen in Großschrift untergebracht werden können. Der Bringschuld der Industrie müssten die Konsumenten eine Holschuld entgegen bringen. Dann sind sie der Ernährungsindustrie nicht hilflos ausgeliefert, wie gerne kolportiert werde. Verbraucher müssten wieder lernen, zwischen Pferdefleisch und echten Gefährdungen wie EHEC und Noroviren zu unterscheiden.
Das sieht Karin Binder, verbraucherpolitische Sprecherin der Linksfraktion, anders. Zwischen Handel und Verbraucher ist ein Ungleichgewicht entstanden. Während auf der Seite der Industrie ganze Abteilungen sich um ein Produkt und dessen Herstellung kümmern können, stehe den Verbrauchern nur das Etikett als Fenster für alle Informationen zur Verfügung.

Vorsicht: Kontrolle

Binder gesteht Deutschland einen guten Qualitätsstandard zu. Doch die globalen Warenströme bringen Produkte ins Land, die weniger streng kontrolliert sind. Da liege die Verantwortung klar bei den Importeuren und Händlern. Die Kontrolleure seien mit diesen Aufgaben überfordert.
Das fordert auch Bärbel Höhn. Die Futterwirtschaft wusste von Aflatoxinbelastungen im serbischen Mais und hätte risikoorientiert mit strengeren Kontrollen arbeiten müssen. Eigenkontrollen und öffentliche Hand müssten besser abgestimmt werden. Auch Holzenkamp forderte anhand des gleichen Beispiels mehr Sensitivität.
Prof. Dr. Ulrich Nöhle von der TU Braunschweig, beschrieb die Schwierigkeiten im deutschen Kontrollwesen. Jede Firma arbeite mit Word- und Excel-Dateien, gebe sie jedoch in unterschiedlichen Systemen ein. Wenn dann Lieferlisten in den Landesämtern und Ministerien eintreffen, dauert es zu lange, die Informationen zu vereinheitlichen. Doppelnennungen verursachten anfangs die immer hohe Zahl an betroffenen Betrieben. Es vergehe einige Tage, bis die wieder heraus gerechnet sind. Wünschenswert wäre ein System, in dem weltweit alle Firmen ihre Daten eingeben könnten, die „per Knopfdruck“ schnell wieder ausgelesen werden könnten. Die Kontrolleure arbeiteten jedoch mit einem EDV-System auf „Neandertalniveau“ [7].
Karin Binder nahm noch einen weiteren Aspekt auf: Die Ernährungsindustrie wehre sich gegen die Veröffentlichungen bei Verfehlungen. Sie sollte doch eine Positivliste nutzen, um auf ihre Qualitäten hinzuweisen [8 + 9].
Verbesserungen im Kontrollsystem sieht auch Happach-Kasan. Sie könne nicht verstehen, dass Schulkinder bundesweit mit einem „Pisa-Test“ verglichen werden, aber niemand wisse, in welchem Bundesland aus welchem Grund die besten Lebensmittelkontrollen durchgeführt werden.

Lesestoff:

Die Wahlprüfsteine finden Sie unter www.bll.de

[1] Der BLL erklärte auf der Grünen Woche, wo beispielsweise die Sichtweisen auf Lebensmittel zwischen Handel und Verbraucher auseinander gehen

[2] Im Internet. 147 Zutaten aus 27 Länder

[3] Zu viel Salz auf dem Teller

[4] Tonio Borg im Europaparlament zum Pferdefleischskandal

[5] Wettstreit um die Opferrolle

[6] „Die Lebensmittelwirtschaft“ im Krisen-Interview

[7] Grenzen und Praxis der Öko-Kontrollen

[8] NRW stellt die Positivkennzeichnung des Gastro-Smileys ein, weil er zu wenig Resonanz fand

[9] Am Donnerstag hat der Europäische Gerichtshof die Namensnennung auch bei nicht gesundheitsgefährdenden Verfehlungen genehmigt

Für die Verbraucher der Hinweis: „Früher“ war nicht alles besser, was das Buch „Nahrung nach Norm“ aus historischer Sicht belegt

Roland Krieg

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