Schafft der Supermarkt sein 100-jähriges?
Handel
Vom Einkaufswagen zur Drohnenlieferung
2049 wird der letzte Supermarkt mit bunten Luftballons
geschmückt und Blasmusik erinnert sentimental an die Eröffnung des ersten Selbst-Bedienungsladen
in Hamburg am 05. September 1949. Er hatte eine Drehtür, durch die sich die
Kunden zunächst einmal nicht hinein trauten. Eine Verkäuferin musste den Kunden
erklären, was es mit dem Einkaufswagen auf sich hatte. Erstmals kauften
Menschen abgepackte Milch. Die ersten Kunden hatten beim Griff in das Regal noch
das Gefühl, sie würden klauen. Lange Zeit noch dominierte Verkaufspersonal
hinter einem Tresen.
Bis heute (2014) hat sich viel geändert. Die Kunden ziehen mittlerweile die Ware über so genannte Self-Scanning-Kassen, sie bestellen online und holen die Ware nur noch aus dem Geschäft ab. Die Geschäfte sind auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten: Vom Hard-Discounter mit wenig Waren, mit Supermärkten und mehreren Tausend Waren bis hin zu neuen City-Konzepten, die mit wenigen hoch qualitativen Produkten die Nahversorgung im Quartier sicher stellen. Supermärkte finden den Weg von der grünen Wiese wieder zurück in die Stadt. Doch wie wird sich das Geschäft mit den Lebensmitteln in den nächsten 35 Jahren entwickeln, wenn der Supermarkt sein rundes Jubiläum feiert? Gibt es ihn dann noch? Darüber diskutierten Experten auf Einladung des Vereins „Die Lebensmittelwirtschaft“ am Donnerstag in Berlin.
Online: Mehr Hype als Geschäft?
„Wir machen den Supermarkt mit Sicherheit nicht
überflüssig!“. Das sagt Max Thinius. Er spricht für „Allyouneed.com“, dem
Online-Supermarkt der DHL. Gleich wie verschiedene Online-Buchgeschäfte,
experimentiert die alte Paketpost schon mit Oktocoptern, die Lasten bis zur Haustür
bringen. Diese „Drohnen“ können aber nur maximal fünf Kilogramm Gewicht
transportieren. Das ist für einen Lebensmittelbringdienst nicht gerade üppig.
Die DHL wird keine Drohnen einsetzen, die drei 30-Kilo-Pakete an die Haustür
bringen. Zudem dürfen in Deutschland Drohnen nur bis 25 Meter Höhe eingesetzt
werden, wenn der Betreiber sie im Sichtbereich fliegt. Würde jeder
Kleinbringdienst auf Drohnen umschwenken, wäre bei einer ganz automatischen
Steuerung der Luftraum zwischen Asphalt und viertem Stockwerk dicht. Einen Luft-Bringdienst
in entlegenen Gebieten für Medikamente kann sich Thinius hingegen vorstellen.
Aber auch sonst ist das Geschäft mit dem Online-Kaufhaus eher ein Hype. Viele Lebensmittelhändler starten immer wieder neue Pilotprojekte. Doch alle sind sie defizitär, erläuterte Prof. Dr. Joachim Zentes, Leiter des Instituts für Handel & Internationales Marketing (HIMa) an der Universität Saarland. Er sieht für den Online-Lebensmittelhandel bis 2022 ein Marktsegment in „homöopathischen Dosen“, das nicht größer als bei sechs Prozent liegt. Eine andere Studie prognostiziert 30 Prozent bis 2050. Doch es liegen nach den ersten Pionierjahren noch immer keine belastbaren Daten vor, ergänzte Thinius.
Zumal der Online-Handel der Realwelt erhebliche Probleme bereitet. Im Non-Food-Segment sind es derzeit 22 Prozent, die digital bestellt und ausgeliefert werden. 30 Prozent bis 2022 sind möglich. „Doch“, so der Marketing-Professor: „das sind dann auch 30 Prozent Flächenüberschuss in der realen Handelswelt.“ Wie sollen die Händler damit umgehen?
Es werden hohe Summen investiert, wie Delivery Hero erst in dieser Woche zeigte [1]. Die Pizza-Szene ist aber nach Aussage von Prof. Zentes anders und in sich geschlossen strukturiert. Sie kann nicht mit einem Handelsgeschäft mit Buchführung verglichen werden. Auch mit Allyouneed.com ist dieses Investment kaum vergleichbar, ergänzte Thinius. Das Online-Kaufhaus kann auf die Kommissionierung und Logistik der DHL zurückgreifen und erzielt damit einen großen Wettbewerbsvorteil.
Der emotionale Faktor
Die Bewältigung logistischer Faktoren sowie das
Verbraucherverhalten werden das Anteilsverhältnis zwischen stationärem und
virtuellem Handel bestimmen, erläutert Prof. Zentes. Gegenüber der rein
virtuellen Variante werden die Menschen immer ein emotionales Einkaufserlebnis finden
wollen und weiterhin in die Geschäfte gehen. Max Thinius kann das aus den
Erfahrungen mit dem DHL-Portal bestätigen. Tägliche Dinge wie Zahnpasta oder
Toilettenpapier werden online bestellt und vom Lieferdienst gebracht.
Delikatessen oder Wein laden vor Ort zum Probieren und Aussuchen ein. Dafür
können sich die Kunden mehr Zeit nehmen und stöbern in den Geschäften herum. Genuss-Einkaufen
ohne Last der Alltagsdinge. Noch etwas hat Thinius herausgefunden: Die Menschen
wollen die meisten Dinge nicht am gleichen Tag schon geliefert bekommen. Der
Wunschliefertermin liegt oft ein bis zwei Tage nach der Bestellung.
Der Lebensmittelhandel wird differenzierter
Nach Franz-Martin Rausch, Hautgeschäftsführer des Bundesverbandes des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH) zeichnet sich im Handel bereits heute eine noch nie dagewesene Differenzierung ab. 40 Prozent der Haushalte in Deutschland werden von nur noch einer Person bewohnt, was für den Handel und den Einkauf weitreichende Folgen hat. Die Menschen nehmen sich immer weniger Zeit und gehen weniger oft pro Woche in den Lebensmittelladen. Dem Trend der Convenience kommen City-Geschäfte und Nischen wie der Biomarkt oder ganz neue Ladenketten, die sich wie in Berlin ausschließlich der veganen Ernährungsweise widmen, entgegen. Regionalität und Genusswelten erweitern die verschiedenen Sortimente. Dazu gesellen sich Modernisierungsaspekte: Die Läden werden immer energiesparsamer [2] und setzen vermehrt auf LED-Beleuchtungstechnik. Auch die Kühlgeräte werden modernisiert [3].
Das wird für den Kunden sichtbar. Der Discount in Form einer Lagerhalle wird sich wohl auch bald überholen. Weltweit suchen die Händler neue Formen der Einkaufsgestaltung, sagt Prof. Zentes. In den Niederlanden gibt es den Supermarkt mit einer Wochenmarktatmosphäre. In Deutschland wurden die traditionellen Markthallen in den vergangenen Jahren abgerissen. Jetzt wollen die Kunden die Marktstände zurück. Italien baut weltweit „Eataly“-Shops auf, die über den italienischen Genuss im Ausland Punkte bei den Kunden sammeln. Das einfache Cafe im Geschäft ist „out“. Das Instore-Dining wird „in“. So steht die Sushi-Bar gleich neben der Fischtheke und bieten dem flanierenden Kunden einen Ruheplatz.
Und was macht der Preis?
Das ist für die Zukunft der heikelste Punkt und bleibt auch nach dem Expertengespräch umstritten. Die Preisattraktivität ist für Prof. Zentes „das germanische Gen“ und der Hygienefaktor der Strukturänderung. „Das wird auch so bleiben“, blickt er skeptisch in die Zukunft. Franz-Martin Rausch hingegen setzt auf den Umkehrtrend und favorisiert die neuen Nischen, die höherpreisige Waren anbieten werden. Nach jüngster Promotionsanalyse bleibt dem Handel auch kaum eine andere Wahl, denn trotz steigender Angebote sinkt der Abverkauf [4]. Eine „Preiseinstiegssparte“ werde immer bleiben, so Rausch. Danach aber bieten sich Chancen für Segmente mit höhere Entgelte und steigende Margen. Wie sich das auf den Online-Handel mit Lebensmittel auswirken wird, bleibt offen. Die Logistik und ihre Kosten sind für dessen Expansion die größte Herausforderung, resümiert Rausch. Und wenn nur die einfachen Standards geliefert werden, dann bietet sich nur wenig Spielraum nach oben.
Schöne neue Welt
Dabei bietet die Technik ungeahnte Möglichkeiten.
Mittlerweile signalisiert der Kühlschrank nicht mehr nur, welche Produkte
künftig ausgehen, sondern besitzt auch eine App, auf der gleich die neueste
Werbung angeboten wird. Die Zettelflut im Briefkasten hätte ein Ende. Die
Kunden können die Kaufempfehlungen auf ihrem Mobiltelefon mitnehmen und im Laden
mit neuen Einkaufswagen „operieren“. Gerrit Kahl ist Laborleiter des Forschungszentrums
für Künstliche Intelligenz (DFKI) in St. Wendel im Saarland. Kinder werden im
Einkaufswagen mit Lernspielen beschäftigt, Senioren können einen selbstfahrenden
Wagen nutzen, den sie nicht mehr schieben müssen. Beide sind mit einem
Navigationsgerät für den Supermarkt ausgestattet, so dass die Kunden
zielgerichtet die entsprechenden Abteilungen ansteuern können. Mit Hilfe eines
Lesegerätes scannen sie die Produkte und bekommen Empfehlungen angezeigt,
welche sie im Rahmen der individualisierten Medizin einkaufen dürfen und welche
besser im Regal bleiben.
Diese Form des Einkaufens ist gar nicht mehr weit
entfernt, weil es die Einzelkomponenten bereits gibt. Nur vernetzt werden
müssen sie noch. In einer Cloud. Und das ist
ein Problem, räumt Kahl gegenüber Herd-und-Hof.de ein. Solche Datenmenge
sind nicht unangreifbar, wie die Skandale der letzten Jahre aufzeigen. Daher
arbeiten die Saarländischen Zukunftsforscher auch an „Sicherheitspolicen“ für
die Daten, damit nur die weiterverarbeitet werden, die vom Kunden auch frei
gegeben werden. Die deutschen Konsumenten sind in diesem Bereich sehr sensibel.
Wie sich die Einkaufslandschaft in den nächsten 35 Jahren wirklich verändert bleibt offen. Der Online-Handel für Lebensmittel wird aber den Supermarkt nicht ersetzen. Er wird jedoch möglicherweise eine gute Ergänzung für den stationären Handel bilden.
Lesestoff:
www.lebensmittelwirtschaft.org
[1] 350 Mio. US-Dollar für die Pizza-Boten
[2] Rewe in Berlin spart 50 Prozent Energie
[4] Der FMCG-Markt muss umdenken
In den weiträumigen USA bieten sich mehr Chancen für den Online-Handel
Roland Krieg; Fotos: ZdK, IRL (2x), DHL und Rewe