Vetorecht fürs Verbraucherschutzministerium
Handel
Warum es keinen mündigen Verbraucher gibt
Mehr als 400 Labels gibt es für deutsche
Konsumenten. Es gibt die Bio-Banane, die fair gehandelte Banane und die mit der
geringsten Kohlendioxidemission. Es gibt Produkte ohne Gentechnik und ohne
Label, es gibt Produkte mit dem Label „Ohne Gentechnik“1) bei denen
dennoch die Tiere mit gentechnisch verändertem Futter versorgt werden dürften.
Die sorgenvolle Frage angesichts von Verunreinigungen in Lebensmitteln „Was
kann man noch essen?“ ist längst der Frage gewichen „Welchem Label kann man
vertrauen?“
Verbraucherinformationen sollen der
Transparenz und dem Überblick dienen, doch verliert sich der Kunde bei der Qual
der Wahl im Siegel-Labyrinth. Außerdem versprechen nicht alle Siegel, was der
Kunde erhofft, sondern sind Gestalt gewordene Geheimhaltung und Verschleierung.
Darüber diskutierte der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) am
Dienstagabend in Berlin mit Wirtschaft und Politik.
Interessenslabel
Gleich ins Visier nahm Deutschlands oberster
Verbraucherschützer, vzbv-Vorstand Gerd Billen, das neue Umweltlabel für Autos.
Ursprünglich als CO2-Kennzeichnung gedacht, hat sich die deutsche
Autolobby das Label einverleibt und verrechnet es auf das Gewicht der Autos.
Mit diesem Trick bekommt eine CO2-Schleuder mit hohem Gewicht eine
bessere Kennzeichnung als ein leichteres Auto, das pro Kilometer weniger
Kohlendioxid ausstößt. Mit ähnlichen Verrechnungstricks und verschiedenen
Bezugsgrößen fiel Nutella erst kürzlich mit seinem Nährtwertlabel beim
Oberlandesgericht Frankfurt/M.2) durch.
Um die Verbraucher nicht auf vergleichbares
Glatteis zu führen, wünscht sich Gerd Billen ein Vetorecht beim Verbraucherschutzministerium,
das sich die verbrauchergerechte Information mit Wahrheit und Klarheit auf die
Fahnen geschrieben hat.
„Das Vetorecht nehmen wir gerne an“,
versprach Staatssekretär Dr. Gerd Müller aus dem Verbraucherministerium. Der
Infofluß reiße die Menschen mit und manipuliere, so Dr. Müller weiter. Er
verwies auf das neue Portal zur Lebensmittelklarheit3), dass
richtungsweisend einen Dialog mit den Verbrauchern führe. Das sei ein Vorbild
für die weitere Arbeit des Ministeriums.
Dr. Müller zählt aber auch die
Verbraucherbildung zu den künftigen Aufgaben. Rund zehn Prozent der Menschen
sind Analphabeten und den Informationen hilflos ausgeliefert. Außerdem bedeute
das Erkennen eines Labels nicht, dass der Verbraucher die Botschaft auch
versteht.4)
Sieben Kriterien
In einer neuen Broschüre hat der vzbv die sieben Kriterien für gute Informationen hinterlegt: Richtigkeit, Relevanz, Zugänglichkeit, Angemessenheit, Attraktivität, Transparenz und Nutzerorientierung.
Verbraucher und Industrie
Ob zu viele Siegel auf dem Markt sind,
diskutierten Monika Büning von vzbv und Kai Falk vom Handelsverband Deutschland
(HDE).
Nach Büning sind die Verbraucher mittlerweile
in der Vielfalt der Label verloren und kombinieren falsch. So heißt „bio“ nicht
gleich automatisch „gesund“. Die Bio-Tiefkühlpizza hat genauso viele Kalorien
wie die konventionelle Variante. Störend findet sie, wenn Lebensmittelketten
eigene Label für ihre Produkte erfinden, die anderen zum verwechseln ähnlich
sehen. Man müsse Grundkriterien hinterlegen und Label, die mit gesetzlichen
Selbstverständlichen werben, verbieten.
Kai Falk hingegen findet, dass sich der
Verbraucher durchaus zwischen den Label orientieren können und die Vielfalt
komme den verschiedenen Wünschen der Verbraucher5) entgegen. Der
eine interessiere sich für den Gehalt an allergenen Stoffen, der andere legt
den Fokus auf soziale und ethische Kriterien, ein Dritter schaue auf die
Umweltaspekte. Das sei ein dynamischer Markt und die Diskussionen im Nachhaltigkeitsrat6)
für ein Dachsiegel finden keinen Konsens, so Falk.
Fiktion „mündiger Verbraucher“
Eine Absage an den „homo oeconomicus“
verteilte Prof. Dr. Peter Kenning von der Zeppelin University Friedrichshafen.
Der Marketing-Experte widmet sich dem Feld der Neuroökonomie und teilt Produkte
in verschiedene Gruppen ein. So ist Zucker ein „neoklassisches Gut“, bei dem
Hersteller und Kunde auf gleichem Wissensniveau stehen. Und damit auf
Augenhöhe. „Erfahrungsgüter“ sind Produkte, über die Kunden meist im Nachhinein
mehr erfahren, dieses Wissen aber bei er nächste Kaufentscheidung einbeziehen.
Dazu gehört beispielsweise Thunfisch und die Art, wie er gefangen wurde. Zu
vollständigen Informationsasymmetrien aber kommt es bei Produkten wie
Finanzprodukten oder Dienstleistungen, bei denen der Kunde auch nachher nicht
schlauer ist, als vorher. Die bezeichnet Dr. Kenning als „Glaubensgüter“.
Informationsasymmetrien führen zu
Marktversagen, wie der amerikanische Ökonom Georg Akerlof in seiner Studie über
den Gebrauchtwagenmarkt 1970 beschrieben hat7). Prof. Kenning hat in
einer Umfrage gezielt nachgeforscht: Verbraucher glauben vielfach, dass der
Hersteller mehr über ein Produkt weiß als er sagt. Fehlen ausreichend Informationen,
dann haben mehr als die Hälfte der Befragten ein Produkt mal nicht gekauft. Marktversagen
wegen fehlender Information.
Parallel zur Vielfalt der Produkte hat sich
auch der Konsument weiter entwickelt. Heute informiert er sich über
Produkttests und achtet mehr auf die Gütesiegel. Aber nicht homogen. Prof.
Kenning unterscheidet zwischen verantwortungsvollen, vertrauenden und
verletzten Konsumenten. Nur die ersteren informieren sich vor dem Kauf
ausgiebig, um die richtige Entscheidung zu treffen. Die zweite Kundengruppe
glaubt einer Marke, einem Prominenten oder Freunden und kauft die Ware, ohne sich
zusätzlich zu informieren. Die Dritte Gruppe wird von denen gebildet, die sich
aus verschiedenen Gründen nicht informieren können und letztlich der
Manipulation der Werbeversprechen am meisten ausgesetzt sind.
Emotion schlägt Vernunft
Die Neuroökonomie widmet sich den
neurologischen Vorgängen bei der Wahrnehmung und Kaufentscheidung. Was passiert
beim Menschen, wenn er einen Werbespruch liest? Für einen längeren Werbespruch
braucht ein Mensch rund acht Sekunden, bis er ihn gelesen und verstanden hat.
Dann erst fällt er seine Kaufentscheidung. Denkt der Mensch.
Doch das Emotionszentrum im Gehirn hat die
Entscheidung bereits nach einer Sekunde gefällt und baut nach fünf Sekunden die
Reize bereits wieder ab. Drei Sekunden, bevor der Kunde weiß, ob er das Produkt
kauft oder liegen lässt.
Die Entscheidung fällt im mesialen
prefrontalen Kortex, einem Teil des Frontlappens der Großhirnrinde. Hier wird
eine Information im Gesamtkontext erfasst. Das Gehirn erfasst vor dem Lesen
bereits das Umfeld: Ist die Information in einen Sachtext oder mit bunten
Werbebannern eingebunden, in welcher Zeitung steht die Werbung oder wer ist auf
dem Foto abgebildet? Zusammen mit diesem Frame hat das Gehirn die Entscheidung
schon lange vor der Vernunft gefällt.
Nach Prof. Kenning tritt das Phänomen aber nicht
bei jedem Menschen auf. Einige sind für den Gesamtzusammenhang empfänglich,
andere nicht. Und die Wissenschaft rätselt derzeit, ob die Unterschiede
genetisch oder soziologisch entstehen.
Ein Dorado für Werbemacher, den mesialen
prefrontalen Kortex anzusprechen und eine Pflicht der Verbraucherschützer,
Manipulationen vorzubeugen.
Lesestoff:
Zum Thema Verbraucherinformationen hat der vzbv eine neue Broschüre herausgebracht: „Informationen gut, alles gut?“. Sie gibt einen Überblick wie Informationen aufbereitet werden sollten. www.vzbv.de
Neuroökonomie am Lehrstuhl für Marketing an der Zeppelin University Friedrichshafen www.zeppelin-university.de
1) Umstrittenes Kennzeichen „Ohne Gentechnik“
2) Entscheidung über Nutella-Kennzeichen
3) 100 Tage Lebensmittel-Klarheit
4) Neue EUFIC-Studie: Verbraucher erkennen die Botschaft,
setzen sie aber nicht um
5) Vielfalt der Siegel ein Ausdruck von Kundenwünschen. Herd-und-Hof.de
- Gespräch mit IMO-Geschäftsführer Peter Schaumberger
6) Brauchen wir ein Dachlabel zur Orientierung? Fachgespräch
Nachhaltigkeitssiegel
7) Akerlof: Entscheidung bei Unsicherheit
Roland Krieg